Verlorene Unschuld – Über Wut und Winnetou

von Johannes Franzen

In den letzten Jahren hat sich im deutschen Kulturbetrieb eine ermüdende Debattenfolklore etabliert, die wie am Fließband die immergleichen Diskussionsereignisse produziert. Dabei geht es meistens darum, dass etwas angeblich verboten werden soll. Ein Künstler wurde irgendwo ausgeladen, die Wahl eines Preisträgers wurde heftig kritisiert, ein Buch wurde aus dem Sortiment genommen, ein Lied soll in der Öffentlichkeit nicht mehr gespielt werden.

Die Anlässe dieser Debatten scheinen vollkommen arbiträr. Egal, ob es um Peter Handke oder Lisa Eckhart geht, ob das Objekt des Streites das Gedicht ciudad (avenidas) oder der Party-Song Layla ist – immer werden die gleichen Argumente mit der gleichen Intensität ausgetauscht, immer scheint die Kunstfreiheit und überhaupt die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft in größter Gefahr zu sein.

Der Schematismus, mit dem diese Debatten geführt werden, verbreitet inzwischen vor allem ein Gefühl von intellektueller Klaustrophobie, von lähmendem geistigen Überdruss. Deshalb erzeugt die Nachricht, dass es nun also auch Winnetou erwischt hat, unmittelbar vor allem eine gewisse Beklommenheit. Der Verlag Ravensburger nimmt nach heftiger Kritik zwei Kinderbücher aus dem Programm, die zum Start des Films Der junge Häuptling Winnetou erscheinen sollten. Den Publikationen war fehlende Sensibilität und kulturelle Aneignung vorgeworfen worden. In der etwas wirren Pressemitteilung des Verlags auf Instagram heißt es, man habe viele negative Rückmeldungen bekommen und deshalb beschlossen, die Auslieferung der Titel zu stoppen.

Wer in den letzten Jahren halbwegs aufmerksam Zeitung gelesen hat, der konnte voraussehen, was folgen würde, nämlich eine trostlose Debatte über die Kunstfreiheit und ihre angeblichen Feinde. Und es dauerte nicht lange, bis sich ein massenhafter digitaler Protest hörbar machte. Der Artikel zum Thema auf Zeit Online verzeichnete schnell um die tausend Kommentare und auf Twitter wurde unter #woke bitterlich darüber geklagt, dass die Identitätspolitik nicht einmal mehr vor Kinderbüchern halt machen würde.

Es wäre niemandem zu verdenken, wenn er genervt abwinken und einer durch und durch erwartbaren Diskussion aus dem Weg gehen würde. Allerdings verdeckt die langweilige Debatte über die angeblich bedrohte Kunstfreiheit oft auch faszinierende Rezeptionsphänomene und kulturelle Aushandlungsprozesse. In diesem Fall lässt sich im Aufschrei über ein angebliches Winnetou-Verbot eine tiefempfundene Verlustangst beobachten, die Erkenntnisse über das Verhältnis von Jugendliteratur, kultureller Sozialisation und einer Utopie politischer Unschuld bereithält.

Es steht zu vermuten, dass sich diese Angst nicht unbedingt darauf bezieht, dass man die Bücher heute nicht mehr lesen darf. Ein schneller Blick in einen beliebigen Roman von Karl May bestätigt den Verdacht, dass die Bücher heute kaum noch mit Genuss gelesen werden können. Die Sprache wirkt umständlich und altertümlich, stark den Konventionen des 19. Jahrhunderts verpflichtet und überschreitet ständig die Grenzen zum Kitsch. Die Dialoge sind unfreiwillig komisch und selbst dem abgebrühtesten Anhänger literarischer Autonomie muss der offensichtliche Rassismus sauer aufstoßen.

Vor diesem Hintergrund fragt man sich, woher der Zorn kommt, woher das Potential für die rasend schnelle Politisierung dieses Falles. Gibt es im Milieu der bürgerlichen Panik vor der angeblich grassierenden linken Cancel Culture gar kein Gespür mehr für kulturellen Fortschritt? Kein Verständnis dafür, dass auch der populäre Kanon ständigen Revisionen unterliegt? Wir leben zwar in einer Zeit der Retromanie, in der kulturelle Nostalgie als hochwertige Ressource gilt, aber heißt das wirklich, dass wahllos jedes ästhetische Artefakt, das einmal in irgendeiner Kindheit eine wichtige Rolle gespielt hat, neu aufgelegt werden muss?

Ein Teil der politischen Emotionen, die der Fall freigesetzt hat, erklären sich natürlich durch das aufgeheizte Klima der Debattenlandschaft. Jedes noch so nichtige Ereignis wird zum Baustein einer Fiktion der Verfolgung. Allerdings scheinen diese Emotionen im Fall Winnetou etwas komplexer: Die meisten Menschen kennen Karl May wahrscheinlich aus der autobiographischen Distanz der eigenen Kindheit, medial oft vermittelt über die erfolgreichen Filme aus den 1960er Jahren. Das Bedrohungsszenario, das durch den Protest gegen die Bücher von Ravensburger entworfen wurde, scheint in dieser Distanz seinen Ursprung zu finden. Unter den namhaften Politikern, die sich zu dieser Geschichte äußern zu müssen glaubten, findet sich unter anderem Sigmar Gabriel, der am 23. August auf Twitter schrieb:

„Als Kind habe ich Karl Mays Bücher geliebt, besonders #Winnetou. Als mein Held starb, flossen Tränen. Zum Rassisten hat mich das ebenso wenig gemacht wie Tom Sawyer & Huckelberry Finn. Und deshalb bleibt Winnetou im Bücherregal für meine Kinder. Und den Film schauen wir uns auch an.“

Es handelt sich um eine seltsame Wortmeldung, die viele Dinge vermischt, die scheinbar nicht zusammengehören. Das kann man darauf schieben, dass hier wahllos reaktionäre Ressentiments mitgenommen werden sollen, aber die Verwirrung ist auch repräsentativ für eine Disposition, die besonders ängstlich auf Revisionen des Kanons reagiert. Die Rede ist zunächst von der Liebe zu einem ästhetischen Artefakt. Es handelt sich um die besondere Zuneigung, die speziell Kinder zu Büchern, Filmen, Serien oder Spielen entwickeln können. Diese Liebe verbindet sich mit der Investition echter Emotionen. Der Tod Winnetous lässt Tränen fließen.

Was hier entworfen wird, ist ein autobiographischer Gründungsmythos, der die politische Unschuld der eigenen Kindheit verteidigen möchte. Die Vorstellung, die distanzlose kindliche Versenkung in eine geliebte fiktionale Welt könnte von Rassismus kontaminiert sein, erscheint aus dieser Perspektive unerträglich. Denn dann müsste man sich eingestehen, dass die Spannung, der Stolz, die Trauer oder der Hass, die man als Kind in fiktive Figuren investiert hat, eingefärbt war von ideologischen Ressentiments. So erklärt sich auch, dass Gabriel mit den beiden berühmtesten Romanen Mark Twains zwei Bücher in die Diskussion hineinzieht, die von Karl May denkbar weit entfernt sind. Gemeinsam haben sie eigentlich nur, dass es um Jugendliteratur geht, deren Rassismus diskutiert wurde, und Jugendliteratur soll hier als Ort politischer Unbeflecktheit verteidigt werden.

Gabriels Tweet schließt mit dem trotzigen Bekenntnis, dass die Bücher „deshalb“ im Regal bleiben und dass man sich auch den Film anschauen werde. Es ist kein Zufall, dass der Bezug dieses „deshalb“ unbestimmt bleibt. Es ist die verwirrte Mischung aus erinnerter Liebe und Unschuld, die nicht nur für kommende Generationen von Kindern gerettet werden soll, sondern vor allem auch für ihre Eltern. Das führt zum zeitgenössischen Phänomen der Trotzrezeption, die sich zuletzt im Fall Layla beobachten ließ, als zahlreiche Menschen mit grimmiger Geste demonstrativ den Schlager hörten. 

Auch im Fall der Winnetou-Bücher mangelt es nicht an peinlichen Gesten. In den Sozialen Medien kursierte ein Bild des FDP-Politikers Thomas Kemmerich, der 2020 traurige Berühmtheit erlangte, als er sich mit den Stimmen der AfD für wenige Tage zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen ließ. Auf dem Bild sitzt er auf einer Bank und liest mit verbissener Konzentration in den alten Romanen von Karl May. Versehen ist das Bild mit dem Schriftzug: “Ich lasse mir Winnetou nicht nehmen.” Die Rezeption wird zum Akt des Widerstandes gegen die Feinde der kulturellen Unschuld, die noch die letzten Bastionen des befreiten Genusses schleifen wollen. Ein ähnliches Bild wird auch in einem Tweet von Kemmerich geteilt, wo er beteuert, am Ende von Winnetou III “haben wir alle geweint … Winnetou ging in die ewigen Jagdgründe ein und dennoch ist er unsterblich. Winnetou lebt weiter in unseren Herzen.” 

Mit der Unschuld kindlicher Kulturrezeption verteidigen Erwachsene auch die eigene politische Unschuld. Anders lässt sich nicht erklären, dass auf eine dermaßen unreflektierte Art die Tatsache beiseitegeschoben wird, wie politisch Kinderliteratur tatsächlich ist. Die kindliche Lektüre selbst mag unschuldig sein, aber was schließlich zum Kanon gehört, war schon immer extrem umstritten. Man kann dieses Konfliktpotential auch als produktiv ansehen, als eine Herausforderung für die ständige Revision dessen, was uns an Fiktionen begeistert. Aber dafür müsste man aus einer erwachsenen Perspektive argumentieren und nicht aus der Perspektive der verletzten kindlichen Unschuld.

Johannes Franzen ist Redakteur bei 54books. Hier können Sie ihm schreiben: johannes.franzen1[at]gmail.com

Photo von Cayetano Gil auf Unsplash

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