von Marcel Inhoff
Die Tage der deutschsprachigen Literatur, in deren Rahmen der Ingeborg-Bachmann-Preis vergeben wird, haben immer eine Aura des großen literarischen Ganzen. Literaturkritiker*innen, Journalist*innen und das Publikum vor Ort und vor dem Fernseher versuchen aus den Einladungen, den Texten, und nicht zuletzt aus der Stoßrichtung der Kritik auf breitere Themen zum Zustand der Literatur und der Literaturkritik zu schließen.
Dass die Kritik der Jury dabei meist weniger auf die Literatur selbst verweist, sondern eher auf die Eitelkeiten der Jury, die in ihrer üblichen Zusammensetzung Berufe repräsentiert, denen eher nicht die Zukunft gehört, von habilitierten Literaturwissenschaftler*innen bis zu festangestellten Journalist*innen im Printfeuilleton, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung oft eine kleinere Rolle. Tatsächlich war es in den vergangenen Jahren selten so, dass sich aus den kritischen Worten und Urteilen der Jury eine zukünftige Richtung der Kritik ablesen ließe – im Gegenteil: was aus der Kritik der Jury meist sprach, war die Vergangenheit, und die Angst vor einer Zukunft, die anders aussehen könnte als die Welt, die von den Juror*innen repräsentiert wird.
Im Verhältnis Jury/Autor*innen gilt es, sich dem Habitus entsprechend zu verhalten – das kulturelle und symbolische Kapital der Juror*innen zu beachten. Sogar Eklats, wie Rainald Goetz‘ berüchtigte aufgeschnittene Stirn beim Preis 1983 sind kein eigentlicher Bruch mit der Situation, da ihre habituelle Extravaganz das symbolische Kapital des Wettbewerbs eher noch erhöht. Eklats, die darauf abzielen, die Jury zu beeindrucken, verändern das Verhältnis zwischen Autor*innen und Kritiker*innen nicht.
In den letzten Jahren hatte sich aber gerade dieses Verhältnis entscheidend verändert. Besonders deutlich wurde das im Umgang mit Sharon Dodua Otoo, die 2016 den Bachmann-Preis gewann, nicht ohne danach deutlich zu machen, dass sie nicht willens war, sich so zum Wettbewerb und der Jury, die über ihm schwebt, zu verhalten, wie das von ihr erwartet wurde.
Stattdessen erklärte sie, ihr sei der Wettbewerb nicht so bekannt gewesen, sie sei stattdessen von seiner Wirkung und Relevanz überrascht. Für die Jury – und das im Hintergrund ablaufende Ringen um Privilegien – war das ein suboptimales Resultat der Preisvergabe.
Dennoch hielt Otoo im vergangenen Jahr die vielbeachtete Rede zur Literatur, die den Wettbewerb traditionell einleitet und meist besonders programmatischen Charakter hat. Die Rede zur Literatur in diesem Jahr wurde vom ehemaligen Juror Hubert Winkels gehalten – und fasst überraschend deutlich viele Ressentiments zusammen. In opaker Sprache verlangt er einen eigenständigen Raum für die Kunst – und ihre Kritik. Im Habitus eines Menschen, der tief verletzt von der Existenz von Menschen ist, die zum Beispiel das Klassikradio für ein breiteres Publikum öffnen möchten, und dabei speziell von Menschen, die für ihren Zugang zu Hochkultur scheinbar anspruchslose Künstler*innen wählen, fordert er das Aufschütten eines kunstautonomen Damms. Wer auf dem Damm steht, um den Pöbel vom Aufstieg abzuhalten, sagt er nicht explizit, es ist, wie auch der restliche Inhalt seines Textes, verborgen in Formeln und Begriffen, die in Jahrzehnten Literaturkritik zu einem unleserlichen Brei fermentiert sind.
Implizit steht es aber auf der letzten Seite seines Textes, wo er von den Ansprüchen der vorgeblich besonders Gebildeten als von „Ansprüche(n) eines verstimmten Liebhabers“ spricht. Das hier gewählte Geschlecht ist nicht zufällig. Obwohl die Jury längst nicht mehr von Männern dominiert wird, ist es doch der Umgang mit weiblichen Jurymitgliedern und Autorinnen, der auch noch in den letzten Jahren besonders auffällig war, und nicht von ungefähr Ähnlichkeiten mit dem Umgang mit Autorinnen z.B. in der Gruppe 47 aufweist, die Toni Richter in ihren kurzen Einleitungen zu ihrer Materialsammlung Die Gruppe 47 in Bildern und Texten gut beschrieben hat.
Im Zusammenhang mit der Lesung 1959 im Schloss Elmau schreibt Reich-Ranicki in seinen Erinnerungen Mein Leben, Ingeborg Bachmann sei ihm vorgekommen wie, wenn nicht wie eine „Komödiantin,“ dann doch wie jemand, der sich schüchtern stelle, um des Effekts willen. Diese Tendenzen haben sich nicht nur in der Literaturgeschichte fortgesetzt, sondern sind bis heute im Umgang mit Autorinnen und ihren Texten allzu deutlich, wie Nicole Seifert bereits darstellte.
Die Tage der deutschsprachigen Literatur bilden da keine Ausnahme. Noch 2019 war es die herablassende, sich kaum mit dem Text beschäftigende Kritik an der Erzählung von Ines Birkhan, deren Werk eine eigenständige, ungewöhnliche Poetik verfolgt, die besonders herausstach, und auch in diesem Jahr wiederholte sich dieses Diskussionsmuster mehrfach. Mehrere Erzählungen von Autorinnen, oft mit eigenständiger oder ungewöhnlicher Poetik, wurden von der Jury nur en passant behandelt. Darunter auch die Erzählung von Katharina Ferner vom ersten Tag, deren formal spannendes Konstruktionsprinzip – eine Erzählung in kleinen Prosafragmenten – so nachdrücklich ignoriert wurde, dass Klaus Kastberger sich schließlich genötigt sah, einen kleinen Exkurs in die Literaturgeschichte der hier verwendeten Form zu geben.
Ähnlich formal spannend waren die Beiträge von Verena Gotthardt und Heike Geißler. Gotthardts Text war atmosphärisch dicht, und gewinnt durch ruhiges Nach-lesen, es ist ein Text zum Selber- nicht zum Vorlesen. Ein ungewöhnlicher Versuch, der fraglos in das von Winkels vorgegebene Schema passt, ein Wagnis, ein auch, wie Insa Wilke feststellte, schwieriger Text. Man fragt sich, ob ein Autor eher für die Form gelobt worden wäre, anstatt, wie Gotthardt, das Etikett eines (zu) „lockeren Textes“ und das vergiftete Kompliment einer „schönen Pointe“ zu erhalten.
Ähnlich verlief die Diskussion zu Heike Geißler. Geißler, deren Romane stilistisch diszipliniert, aber formal manchmal unauffällig sind, las einen komplexen Text, der zwischen Dialog, Erzählung und Anruf changiert, und zu den stilistisch besten Erzählungen des diesjährigen Wettbewerbs zählte. Die Diskussion indes ignorierte diese Aspekte des Textes und rieb sich stattdessen an den politischen Implikationen der in vielerlei Hinsicht tagesaktuellen Erzählung. Auch Klaus Kastbergers Exkurs zum „orthodoxen Kerkersystem“, dessen Diskussion er im Text von Dana Vowinckel vermisste, in dem es gar nicht ums orthodoxe Judentum ging, ist ein Beispiel für politische Textdiskussionen, die nichts bis wenig mit dem eigentlichen Text zu tun haben.
Die Weigerung, sich gründlich mit einem Text auseinanderzusetzen, ist nicht neu, auch die Erzählung von Ronya Othmann im Jahr 2019 schien die Jury zu überfordern. Es ist insgesamt auffällig, wie oft Diskussionen von Autorinnen auf eine Ebene überführt werden, auf der die politische und persönliche Ausrichtung des Textes diskutiert wird, ohne den Text an sich als literarisches Kunstwerk überhaupt zu betrachten, während man bei Autoren in dieser Hinsicht viel mehr Sorgfalt walten lässt.
So hätte eine Jury, die sich gerne bei politischen Belangen von Texten aufhält, wenn diese von Frauen verfasst werden, vielleicht feststellen können, wie viele schwierige Frauenfiguren in den Texten der eingeladenen Männer auftauchen. Von der „schwarze[n], sehr viel jüngere[n] und sehr schöne[n] Frau“ im Text von Timon Karl Kaleyta, zu den „verlebte[n]“ und „frustrierte[n]“ Frauen in der ansonsten hervorragenden Erzählung von Necati Öziri, den eifersüchtigen Frauen bei Leander Steinkopf, die finden, dass „sie dem Bräutigam viel bessere Frauen wären,“ dem „staunenden Schönaugengesicht” und der „schöne[n] Dichterin“ bei Fritz Krenn, bis hin zu dem unerklärlichen Versuch von Lukas Maisel, einen Beitrag in einem Forum für frustrierte, übersexualisierte Männer als Erzählung bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur auszugeben.
Besonders Maisels Text ist hier interessant. Die Haltung des Protagonisten, gut beschrieben in seinem resignierten Seufzer, „[e]s war so einfach, einen Besseren zu finden,“ folgt, wie auch andere Details der Geschichte, der Geisteshaltung der sogenannten Incels. In ihrer Studie Politische Männlichkeit hat Susanne Kaiser sehr deutlich dargestellt, dass diese Meinungen nicht unschuldig sind, sondern Teil einer gefährlichen politischen Bewegung.
Außer Maisels Text schlägt sich keiner der eingeladenen Autoren in der von Kaiser beschriebenen Weise auf die Seite der vermeintlich angegriffenen Männlichkeit. Dennoch ist festzuhalten, dass das Thema in allen anderen Geschichten der Autoren – außer Öziris – gekränkte Männlichkeit ist. Bei Krenn wird der Protagonist von einem Hund bedroht, Leander Steinkopf erzählt von einem frustrierten Mann, der die Hochzeit seiner Exfreundin besucht, und Kaleyta beschreibt einen armseligen Hanswurst, der unmotiviert in der Mitte der formlosen Erzählung seine Liebe für Autoritäten und Mord entdeckt. Nur Öziris Thema ist die politisch und emotional aufgeladene Beziehung zwischen Vater und Sohn, die er sorgfältig erzählt, die Kommentare über Frauen fallen quasi nebenher ab.
Niemand in der Jury, der vorher sehr gerne kritisch über die Orthodoxie von Dana Vowinckel oder die linke Politik von Heike Geißler („Anke Stelling auf Speed“) diskutieren wollte, fand sich, um die gemeinsamen Themen der eingeladenen Männer zueinander in Beziehung zu setzen. Stattdessen wurden die Probleme entweder ignoriert (Maisel, Krenn), oder im Gegenteil zu komplexen ironischen Meisterwerken hochdiskutiert, wie das bei den Texten von Steinkopf und Kaleyta der Fall war. Die Strategie, etwas Dubioses durch scheinbare literarische Übertreibung zu einer Kritik am Beschriebenen zu wenden, ist nicht neu. Ironischer Sexismus ist schon länger als Problem erkannt und ausdiskutiert.
Hier ist nichts neues zu holen. Gerade die Tatsache, dass Stil und Konstruktion sich weder bei Steinkopf noch bei Kaleyta wesentlich von ihren bereits publizierten Werken unterscheiden, hätte der Jury zu denken geben können. So findet sich in Kaleytas Erzählung eine Gegenfigur zum Protagonisten seines gerade erschienenen Romans Die Geschichte eines einfachen Mannes, in dem der Bildungs- bzw. Schelmenroman eines Manns aus reichem Haus und mit unendlich viel Selbstbewusstsein erzählt wird, aus Sicht eines Begleiters, nur mit genau umgekehrten Vorzeichen als in der Bachmann-Geschichte, bekräftigend nämlich.
Der Tonfall und Stil ist oft ähnlich und hier wie da bemüht sich Kaleyta um eine Ironisierung, schafft es aber nur zweimal, eine Ode an die Privilegien zu verfassen, einmal im Licht und einmal, in seiner Bachmann-Erzählung, im Gegenlicht. Auf dem Spiel steht für die Männer bei Krenn, Maisel, Steinkopf und Kaleyta nichts, und das mindert auch den Wert der von der Jury in Detailarbeit entdeckten Sozialkritik bei den Autoren. Es ist ein literarisches Spiel im Zentrum der sozialen und kulturellen Macht, mit den Mitteln dieser Macht – und ohne Einsatz.
In den Texten der Autorinnen, die weniger formal gewagt waren, darunter Julia Weber, Magda Woitzuck, Anna Prizkau und Dana Vowinckel, ging es indes um Themen wie körperlichen Zerfall, Solidarität, Tod, um kulturelles und körperliches Gedächtnis, um die Wege, wie man mit der Zerbrechlichkeit des Lebens weiterleben kann. Eine Angst davor, zu verschwinden und ein Bestehen darauf, zu diskutieren, was von uns fortbesteht, war in alle diese Texte eingeschrieben. Bei Nava Ebrahimi, die bereits heute mit ihren Romanen zu den wichtigeren Autorinnen der deutschsprachigen Literatur zählt, fand sich beides: formale Wagnisse und gewichtige Themen.
Literarisch gesehen waren gerade die Texte von Weber und Woitzuck stilistisch schwach, aber fraglos hätten es alle Texte verdient, mit derselben Sorgfalt und Empathie behandelt zu werden, die zum Beispiel Timon Karl Kaleytas Erzählung entgegengebracht wurde. Es ist absolut unstrittig, dass die literarische Oberfläche in Kaleytas Erzählung banal ist – der Tonfall ist der einer Kindersendung, das fiel auch Kastberger auf, der den Ton mit der Sendung mit der Maus verglich. Es ist aber eine Entscheidung der Jury, wieviel Empathie einem solchen Text entgegengebracht wird, auf welchem Niveau Inhalt und Form diskutiert wird.
Es war teilweise erstaunlich, wieviel mehr Geduld und Empathie die Jury für die eingeladenen Autoren hatte, bei deren Texten Schwächen oft umgedeutet wurden zu Stärken (so auch bei Kaleytas Stil), Fehler zu literarischen Kniffen, und Sexismus zu cleverer Kritik an Sexismus (was besonders nachdrücklich in der Diskussion um Steinkopfs Text geschah). Im Vergleich dazu war die Diskussion der sexuellen Szenen in Julia Webers Geschichte bemerkenswert. Zwischen Woitzuck und Weber einerseits, und Gotthardt und Ferner andererseits, war relativ schnell deutlich, dass Autorinnen sich in einer ähnlichen Zwickmühle befinden wie Goldlöckchen im Märchen – mit den drei Bären brummend in ihren Sesseln.
In den Preisträger*innen spiegelt sich dieses Spannungsfeld gut wider. Weder Katharina Ferner noch Verena Gotthardt oder Heike Geißler schafften es auf die Shortlist, dafür sowohl Leander Steinkopf als auch Timon Karl Kaleyta. Der Bachmannpreis ging an Nava Ebrahimi und der Deutschlandfunk-Preis an Dana Vowinckel – zwei gute Erzählungen über Familie und Identität. Auch der dritte Preis, der Kelag-Preis, ging an eine Erzählung, in der es um dasselbe Thema ging, den Text von Necati Öziri, der auch den Publikumspreis gewann. Alle drei Texte sind gute, nachdenkliche Geschichten, in der die Rolle von Sprache und Macht kritisch reflektiert wird. Der vierte Preis, der 3sat-Preis, ging an Timon Kaleyta.
Die Rolle von Misogynie in der Aufrechterhaltung von Habitus wurde oft beschrieben – ebenso wie die Grenzen, die Frauen sozial auferlegt sind, was selbstbestimmtes Behaupten betrifft. So wurde von manchen auf Twitter der diesjährigen Juryvorsitzenden Insa Wilke ihr Verhalten negativ ausgelegt, während Philipp Tingler, der seit letztem Jahr die Rolle eines trotzigen Kleinkinds in der Jury spielt, für sein Verhalten in der ZEIT nachdrücklich gelobt wird. Man kann in diesem Jahr besonders dankbar sein, dass Insa Wilke Juryvorsitzende ist.
Bereits in ihrer einleitenden Rede wurde deutlich, dass Wilke die Probleme des Wettbewerbs bewusst sind. So zitierte sie Audre Lorde, um das zweischneidige Schwert der Sichtbarmachung zu diskutieren. Sichtbarkeit einerseits – Verletzlichkeit andererseits. Die Frage, die sich am Ende der drei Lesetage stellt, ist nicht, ob Wilke recht hat – das hat sie offensichtlich. Die Frage ist, wie lange Autorinnen sich den Angriffen und der Herablassung noch stellen müssen, die im Patriarchat oft eine Folge der Sichtbarmachung ist. Es ist dies kein neues Phänomen, und die Texte und Diskussionen bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in diesem Jahr offenbaren, dass sich nicht viel geändert hat, dass sich die Systeme nicht geöffnet haben in einer Weise, die es Autorinnen erlaubt, öffentlich zu schreiben, ohne besonderen Feindseligkeiten ausgeliefert zu sein.
In der parallel zu den Tagen der deutschen Literatur stattfindenden Konferenz „Writing With Care/Rage“ wurde in einer Diskussion am letzten Tag die Notwendigkeit von solidarischen Räumen, von Kollegialität und Zusammenhalt unter Autorinnen erklärt – und nach drei Tagen Bachmannpreis ist es schwer, diese Meinung anzuzweifeln. Wie in den vergangenen Jahren ist die Haltung der Jury kein Blick in die Zukunft der Literatur und Kritik, sondern eher ein Blick in die Vergangenheit und auf die, die nicht loslassen möchten. Wer sich für die Zukunft der Literatur interessiert, sollte einen Blick auf Videos und Materialsammlung des Care/Rage Kollektivs werfen.
Beitragsbild von Quino Al