von Markus Hennig
„Ich schreibe nicht, ich kämpfe mit dem Alltag und vor allem mit mir, und zwar um jedes weitere Wort, auch um dieses hier.“ Beim Lesen dieses Satzes von Barbara Peveling, habe ich das Gefühl, dass ich diese Situation kenne, ebenso bei den vorhergehenden und den folgenden Sätzen. Ich lese Mareice Kaiser, wie sie vom Zeitproblem der Mütter schreibt und nicke zustimmend, während ich ihren Artikel im Badezimmer lese. Ich lese diese Sätze von schreibenden Müttern und meine, dass ich die darin verhandelten Probleme teile. Ich versuche eine Promotion zu schreiben und gleichzeitig versuche ich ein gutes Elternteil zu sein. Bei beiden Versuchen kenne ich das Scheitern an meinen eigenen Erwartungen, sowie an denen anderer. Und ich kenne eine Spannung, die sich zwischen diesen beiden Versuchen anstauen kann.
Doch ist das dieselbe Spannung, wie sie schreibende Mütter zum Ausdruck bringen? Denn eines unterscheidet uns voneinander: ich bin ein Vater. Während Mütter gegen zahlreiche Barrieren anschrei(b)en, gab es für Väter nie das Problem schreiben zu können. Wie Nava Ebrahimi es ausdrückt, wollen schreibende Mütter „Kinder haben und Bücher schreiben. Also das, was für Männer von jeher selbstverständlich war.“ Doch auch, wenn dies selbstverständlich war, kenne ich wenige männliche Autoren, die ihr eigenes Vatersein thematisiert hätten. Wie könnte das aussehen? Ich wage einen Selbstversuch.
Die Vaterschaft von Walter Benjamin
Vielleicht steht am Anfang die Frage, wie andere Autoren ihre eigene Vaterschaft thematisiert haben. Walter Benjamin ist ein mögliches Beispiel. Er wurde im April 1918 Vater, als Dora Sophie Kellner den gemeinsamen Sohn Stefan zur Welt brachte. Kurz nach der Geburt berichtete Walter Benjamin seinem Freund Gershom Scholem in einem Brief von den ersten Tagen mit dem neugeborenen Kind: „Zu dem Wunderbarsten das man bemerken kann gehört was ich in diesen Tagen bemerkt habe: wie sogleich der Vater einen so kleinen Menschen als Person erkennt, so, daß demgegenüber seine eigene Überlegenheit allen Dingen des Daseins sehr nebensächlich erscheint.“ (Benjamin an Scholem, 17.4.1918)
Hier findet sich ein Impuls, der in Benjamins Werk einging und sich an verschiedenen Stellen seiner Schriften finden lässt: die Fähigkeit, die Perspektive des Kindes als gleichwertig anzuerkennen und mit dieser die Wahrnehmung der Erwachsenen herauszufordern und zu irritieren. Die Erfahrung des Kindes bezeichnet für ihn ein Verhältnis zur Welt, das die Heranwachsenden langsam verlieren, an das sie sich aber durch ein Kind vermittelt erinnern können.
Obwohl Benjamins Vaterschaft seine theoretische Arbeit zu beeinflussen schien, verhandelte er diese selbst nie explizit in seinen Schriften. Stattdessen existieren Notizen, die das Verhalten seines Kindes protokollieren. Diese erlauben zwar keine Rückschlüsse darauf, wie Benjamin seine eigene Rolle reflektierte, aber immerhin lässt sich erahnen, wie der Sohn den eigenen Vater wahrnahm. So findet sich die Notiz, dass eines der ersten gesprochenen Worte des Sohnes „Rue“ ist oder dass der Vater aus dem Kinderzimmer geschickt wurde, mit dem Hinweis, dass das Kind nun auch endlich mal arbeiten müsste (vgl. Weissweiler, Das Echo deiner Frage, 159ff). Walter Benjamin notierte diese Begebenheiten, aber sie boten ihm keinen Anlass zur schriftlichen Reflexion. Sie stehen unkommentiert in den Notizbüchern.
Anders als die Bedeutung, die Benjamin der kindlichen Perspektive für seine theoretische Arbeit beimaß, vermuten lässt, schien er sich selbst nicht von den Aussagen des eigenen Kindes in Frage gestellt zu sehen. Die ausgebliebenen Kommentare sind vor allem deshalb auffällig, weil Benjamin seine eigene Rolle als Autor explizit in verschiedenen Schriften verhandelte. Und gerade darin liegt ein Hinweis für die fehlende Thematisierung der eigenen Vaterschaft: die Rolle des Schriftstellers schloss die Rolle als sorgender Vater aus. Das Schreiben brauchte den Rückzug von den alltäglichen Problemen und so empfiehlt Benjamin in seinen Thesen zu den Techniken des Schriftstellers, „dem Mittelmaß des Alltags zu entgehen.“ (Einbahnstraße, 106)
Dieser empfohlene Rückzug aus dem Alltag ist jedoch für manche Elternteile leichter als für andere: für Dora Kellner bedeutete der Rückzug von Walter Benjamin nunmehr doppelte Sorgearbeit und zwischenzeitlich die Beschränkung der eigenen Arbeit als Übersetzerin und Schriftstellerin. Mit der späteren Scheidung im Jahr 1930 zog Benjamin sich dann gänzlich von der Verantwortung für das gemeinsame Kind zurück und überließ die Versorgung ganz der Mutter. Am Beispiel von Walter Benjamin lässt sich nachvollziehen, wozu der Wunsch nach Ruhe zum geistigen Arbeiten, bei schreibenden Vätern führen kann: nämlich zu einem Rückzug von der Sorgearbeit. Die Vaterschaft beeinflusste zwar zwischenzeitlich seine theoretische Perspektive, indem er die Perspektive des Kindes zur Infragestellung gängiger Verhaltensweisen nutzte; und sie beeinflusste seine Arbeitsbedingungen, wenn er sich die Räume mit Ruhe erkämpfen musste. Doch an keiner Stelle wird die Vaterschaft selbst zum Gegenstand seiner verschriftlichten Betrachtungen. Sie blieb diesen theoretischen Überlegungen äußerlich, weil sie nie integraler Bestandteil seines Selbstverständnisses wurde, so wie es die Arbeit als Schriftsteller war.
Walter Benjamin verarbeitete die Konfrontation mit seinem eigenen Kind, indem er die kindliche Perspektive als eigenständige Erkenntnis- und Erfahrungsweise ernst nahm. In diesem Sinne übersetzte er die Erlebnisse mit seinem Sohn Stefan in die universelle Sprache der Philosophie, um sie dort als allgemeines Problem der Erfahrungsweisen zu verhandeln. In der Nicht-Thematisierung der eigenen Elternschaft folgen schreibende Väter aber auch einem Muster, sich der Verantwortung für das Kind und der damit verbundenen Sorgearbeit zu entziehen. Bei Müttern ist dieses Verschweigen der eigenen Sorgearbeit oft ein Akt, „um als Schriftstellerin weiterhin ernst genommen zu werden.“ (Nava Ebrahimi) Wenn Autorinnen also nun beginnen, von ihrer Existenzen als Mütter zu schreiben, machen sie sich damit in einer patriarchalen Gesellschaft auch angreifbar und sie laufen Gefahr, zukünftig auf ihre Rolle als Mutter reduziert zu werden.
Wenn sie davon schreiben, wie die Fürsorge für ein Kind das Schreiben be- oder gar verhindert, dann verstehe ich das auch als ein Anschreiben dagegen, dass die Rolle der Mutter immer alles dominieren müsste; als Aushandlungsprozess dessen, wie viel Schreiben – und das heißt dann auch, in diesen Momenten nicht aktiv Mutter zu sein – eigentlich erlaubt ist. Einen solchen Konflikt müssen Väter nicht führen – ihr Schreiben könnte jedoch eine Annäherung an das eigene Vatersein sein. Doch wie kann man die Vaterschaft darstellen und ausdrücken? Eine Analyse, wie sie hier am Beispiel von Walter Benjamin skizziert wurde, zeigt die blinden Flecken anderer Väter auf, um selbst daraus zu lernen. In diesem Schreiben verschwindet allerdings die eigene Rolle als Vater erneut und schimmert nur noch im Hintergrund als anfängliche Motivation durch den Text hindurch.
Schreibend in die Vaterschaft finden
Schreibt sich diese Annäherung an die eigene Vaterschaft dann vielleicht ähnlich, wie schreibende Mütter teilweise ihre Mutterschaft darstellen, als eine Beschreibung der wiederkehrenden Konflikte und Kollisionen im Alltag? Es ist fraglich, ob diese grundlegenden Konflikte tatsächlich dieselben sind. Für mich fühlt es sich manchmal so an: Das Schreiben am Tag ist schon nahezu unvorstellbar und auf den Abend ausgelagert, sodass ich tagsüber vor allem versuche, ein Lesepensum zu erfüllen, das mich an aktuellen Debatten teilhaben lässt. Während andere bei Instagram und Twitter posten, welchen Stapel Bücher sie am Wochenende lesen werden, plane ich Ausflüge, vereinbare Spielplatz-Dates oder verhandle um die Abende, an denen eine:r ausgehen kann.
Ich bin froh, wenn ich dazu komme die Artikel zu lesen, die ich seit Wochen als offene Tabs in meinem Browser mit mir herumtrage – vielleicht schaffe ich es ja diesmal einen davon auf dem Spielplatz zu lesen? Die Hoffnung auf ein bisschen Lesezeit projiziert sich auf die Mittagsruhe, um dann doch enttäuscht zu werden, weil ich selbst noch vor dem Kind erschöpft einschlafe. Neben der Zeit, die fehlt, fehlt manchmal eben auch die Kraft, wenn die Zeit dann da ist. Und dann wache ich auf, sehe, dass das Kind auch eingeschlafen ist, obwohl es vorher noch meinte, dass es „die ganze Zeit, wach bleiben will“; ich wage es nicht mich zu bewegen, weil sein Kopf auf meinem Arm ruht; ich bleibe liegen, genieße die Ruhe, will kurz nichts tun, nichts denken – einfach liegen und kuscheln. Ich frage mich, ob ein Vater einfach so von diesen alltäglichen Hindernissen erzählen kann? Liegt im väterlichen Lamentieren über die Verhinderung, den eigenen Gedanken Ausdruck zu verleihen, nicht der Ansatz jener Fluchtbewegung, mit der sich Väter ständig aus der Verantwortung gezogen haben, um das, was gemeinhin als Hausarbeit, mittlerweile als Sorgearbeit bezeichnet wird, von sich zu weisen?
Das Ideal des großen Genies war stets jene männliche Figur, die allein dem Werk verpflichtet ist und dafür die belästigenden alltäglichen Sorgen hinter sich lässt. Männer können/sollen/dürfen schreiben. – Wenn Väter jetzt beginnen Eltern zu werden und entsprechende Aufgaben zu übernehmen, resultieren daraus Konflikte, die sich womöglich ähnlich anfühlen, wie jene von Müttern. Aber sie scheinen mir doch unter anderen Vorzeichen zu stehen. Während Mütter sich gewissermaßen aus dem Haushalt herausschreiben müssen, schreiben Väter, um nicht in diesen hineingezogen zu werden.
Wie aber kann ein Vater schreiben, um nicht nur im Haushalt anzukommen sondern auch weiter zu schreiben? Gehört dazu dieser unbeholfene Versuch, aus der eigenen kontemplativen Haltung auszusteigen? Dabei ist es diese kontemplative Haltung, die der Vater, Philosoph und Autor Björn Vedder in seinem Buch “Väter der Zukunft” eben jenen empfiehlt. Doch mir scheint diese kontemplative Haltung weiterhin auf den vermeintlich “rationalen Mann” als Ahnvater zu verweisen. Dieser nimmt an, dass er sich vor allem durch die Vernunft in Beziehung zu anderen Menschen setzt. Ihm fehlt das Gespür für die eigenen Gefühle. Und so versteht sich auch dieser Text bereits im Ausgang als vernünftige Reflexion – er verliert sich nicht in den alltäglichen Situationen der Vaterschaft, den widersprüchlichen Gefühlen und den Konflikten, den Auseinandersetzungen, den Unsicherheiten, sondern versucht weiterzugehen zu einer anderen Frage, so als müsste die eigene Vaterrolle nur richtig verstanden werden.
Doch um welche Frage handelt es sich eigentlich? Vielleicht jener danach, wie Väter über das eigene Vatersein schreiben können, ob sie es überhaupt sollten oder es lieber lassen. Hätte ich die Zeit für die Verschriftlichung dieser Gedanken lieber dafür aufwenden sollen, eine To-Do-Liste zu schreiben, mit Dingen, an die ich im Alltag öfter denken sollte? Aber mir scheint, als bräuchte es die Versuche, von der eigenen Rolle als (schreibender) Vater zu berichten. Vielleicht hilft es Vätern, von der eigenen Rolle als Vater zu berichten, um in dieser anzukommen.
Dieses Ankommen in der eigenen Vaterschaft ist vielleicht nie mehr als ein Umweg, immer wiederkehrende Schleifen und Wendungen, so wie Bov Bjerg es für die Anstrengungen beschreibt, dem Schatten des eigenen Vaters zu entkommen. So wie es Mütter braucht, die vom eigenen Muttersein schreiben, um sich von bestimmten Rollenerwartungen zu befreien, braucht es vielleicht Väter, die vom eigenen Vatersein schreiben, um in der Rolle des Elternteils anzukommen. Das wäre wohl frühestens dann der Fall, wenn die eigene Vaterschaft nichts mehr ist, dem der Mann sich am Schreibtisch einfach so entledigen kann.
Foo von Felipe Salgado