Wiederentdeckungen – Gabriele Tergits komplizierter Nachruhm

von Sandra Beck

Die kulturpolitische und literaturwissenschaftliche Daueraufgabe einer kritischen Auseinandersetzung mit dem literarischen Gedächtnis wird in den Feuilletons der Gegenwart vor allem im Begriff der ‚Wiederentdeckung‘ greifbar. Dies ist eine wohlfeile, auch auf marktökonomische Interessen abgestimmte Floskel, allerdings auch eine mächtige Handlungsvokabel. Denn einerseits trägt sie Publikum und Literaturwissenschaft ein Nachzuholendes auf und korrigiert ein kulturelles Gedächtnis, das zu lange und zu Unrecht vergessen hat. Andererseits schützt sie vor dem Vorwurf der Missachtung, der gänzlich fehlenden Rezeption, denn wiederentdecken lässt sich nur, was man einmal bereits kannte.

2009 feierte die New York Times Hans Falladas Roman Jeder stirbt für sich allein (1947) als das literarische Ereignis. Der Bachmann-Wettbewerb 2020 stand im Zeichen einer „Wiederentdeckung von Helga Schubert“ (taz). Gleichzeitig werden die Werke deutschsprachiger jüdischer Autorinnen aus den 1930er Jahren wieder aufgelegt: Maria Lazars Leben verboten! (1932), Lili Grüns Alles ist Jazz (1933) oder Adrienne Thomas’ Die Katrin wird Soldat (1930). Im Fall von Siegfried Lenz’ Roman Der Überläufer, dessen Publikation 1952 abgelehnt und der 2016 erstmals aus dem Nachlass publiziert und 2020 als TV-Mehrteiler verfilmt wurde, verschränken sich die Hochachtung vor einem im Nachlass entdeckten „meisterlichen Roman“ (FAZ) mit der Würdigung eines Filmes, der die „schönste Liebesszene des bisherigen Fernsehjahres“ (Spiegel) zu bieten habe.

Echte Fälle, kanonische Texte

Nicht zufällig beziehen sich die genannten Beispiele auf die historischen Felder ‚vor 1933‘ und ‚nach 1945‘, wobei in der öffentlichen Aufmerksamkeit gegenwärtig die Wiederkehr der 1920er Jahre dominiert. Dazu gehören Adaptionen kanonischer Texte wie Dominik Grafs Verfilmung von Kästners Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931) unter dem Titel Fabian oder Der Gang vor die Hunde (2021) oder Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) von Burhan Qurbani (2020) oder die Literarisierung berühmter Verbrecher – man denke etwa an Dirk Kurbjuweits Haarmann (2020). Zudem finden sich im Segment der Populärkultur eine schier unüberschaubare Vielzahl von Texten und Serien, die den längst etablierten Mythos der ‚Goldenen Zwanziger‘ entlang von sex, crime und fashion perpetuieren und kritisch reflektieren. Nach dem Erfolg von Volker Kutschers Kriminalromanreihe um Gereon Rath sowie der TV-Adaption der Texte unter dem bedeutungsschweren Titel Babylon Berlin (seit 2017), war es jüngst die lebenshungrige und traumatisierte Jugend im Hochpreissegment der Konsumgesellschaft, die in der Miniserie Eldorado KaDeWe (2021) durch die Zeit flimmerte.

Die akribische Aufmerksamkeit für die Vergangenheit der Weimarer Republik unter der Leitvokabel der ‘Weimarer Verhältnisse’, aber auch als Proberaum, in dem nach dem Ende des Kaiserreiches neue Werte und gesellschaftliche Strukturen konfliktreich ausgehandelt werden müssen, bringt es mit sich, dass nicht nur bekannte Topoi zitiert werden, sondern auch Schauplätze beständig wiederkehren, die eine lebendige Erfahrung des Dabei-Seins ausstellen. So kann man Susanne Gogas Es geschah in Schöneberg (2016) wie auch Veronika Ruschs Der Tod ist ein Tänzer (2021) entnehmen, dass der Gastraum des Romanischen Cafés in einen Schwimmer und Nichtschwimmerbereich aufgeteilt war, „[u]m die Etablierten von den Belästigungen derjenigen zu verschonen, die versuchten, deren Aufmerksamkeit zu erregen […]. Das Nichtschwimmerbassin […] war offen für alle, sogar für Touristen.“[1] Wer es in der Berliner Kulturwelt geschafft hatte, konnte schwimmen – auch im Häusermeer der urbanen Moderne. Den anderen blieb nur der Blick vom Beckenrand.

Legendäre Orte, in Wiederauflagen

Das Wissen um diesen Schauplatz von Avantgarde und Elite, den „Wartesaal der Talente“ (Erich Kästner) und die Attraktion für Schausüchtige ist nicht exklusiv den Zurückblickenden vorbehalten, sondern bereits den Fiktionen der Zeit eingeschrieben. Man kann also ebenso gut Gabriele Tergits Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1931) lesen:

“Das Romanische Café befindet sich gegenüber der Gedächtniskirche und besteht aus einer Schwimmer- und einer Nichtschwimmerabteilung. Die Schwimmer sitzen links der Drehtür. Die Nichtschwimmer rechts. Das Romanische Café ist sehr schmutzig. Erstens ist es trotz seiner großen Fensterscheiben so angeräuchert, wie es für eine Stätte des Geistes notwendig ist, zweitens ist es schmutzig durch die Manieren seiner Bewohner, die unausgesetzt Überreste ihrer Raucherei auf den Fußboden werfen. Drittens aber durch die ungeheure Frequenz. Denn dieses Café ist eine Heimat. […] Nach Berlin kommt man vom Osten, um eine Stellung zu finden, um Musik zu machen, um zu filmen und um zu malen, Theater zu spielen, zu schreiben, Regie zu führen […], um zu darben und zu studieren. Sie alle sitzen im Romanischen Café, erst im Nichtschwimmerbassin, später im Schwimmerbassin. Sie alle sprechen und schimpfen.”[2]

Tergits Debütroman – ein zeitgenössischer Bestseller – ist von der Literaturwissenschaft bereits als ‚vergessener Roman‘ im literarischen Gedächtnis gesichert. Ihre aktuelle Wiederentdeckung nahm mit dem 2016 neu aufgelegten Käsebier erobert den Kurfürstendamm ihren Anfang. Seitdem folgten im Schöffling-Verlag 2018 die Autobiographie Etwas Seltenes überhaupt (1983), 2019 die Publikation von Effingers (1951), 2020 eine Auswahl von Gerichtsreportagen unter dem Titel Vom Frühling und von der Einsamkeit und schließlich 2021 die Erstveröffentlichung von So war’s eben, ein Roman, für den Tergit Mitte der 1960er Jahre auch deshalb vergeblich nach einem Verlag suchte, weil Fritz J. Raddatz das Manuskript als unzeitgemäß kategorisch ablehnte: „Ich glaube tatsächlich nicht, […] daß man also in einer solchen Zeit einen Roman noch so konzipieren und schreiben kann, wie Sie das hier getan haben.“[3] Die Historizität dieser Rezeption legt Marie Schmidt in ihrer Rezension des Romans vom Lektürestandpunkt des Jahres 2022 bloß: „Heute, da man sich von väterlichen Überstimmen mehr und mehr verabschiedet, wirkt das enorm modern.“ (SZ)

Die Wirkungsgeschichte der Werke Gabriele Tergits zeigen, wie wichtig es ist, das Archiv der Literaturgeschichte immer wieder neu zu durchmustern. Die bereits seit Mitte der 1980er Jahre von Jens Brüning herausgegebenen Bände, die eine Auswahl von Tergits publizistischen und erzählenden Texten versammeln, sind das erste Ergebnis von Bemühungen um eine Wiederentdeckung der bekannten Journalistin, das im allgemeinen Kontext der Frauen- und Exilforschung zu sehen ist. Gegenwärtig ist es aber das enorme Lektüre-Interesse an der Zwischenkriegszeit, das sich auf das gesamte Werk einer Bestseller-Autorin der Weimarer Republik ausweitet. Editionsphilologisch sind so gute Voraussetzungen geschaffen für die Wiederentdeckung einer Wiederentdeckten. Das Publikum kann sich nun selbst ein Bild davon machen, wie und über was Tergit schreibt.

Korrespondenzen und eine Fehde

Wenn im Zeichen einer kritischen Musterung des Kanons die Archive geöffnet werden, droht immer auch Unangenehmes und Unappetitliches an die Sonne zu gelangen. Daher mag es kein Zufall sein, dass der Tergit gewidmete, von Juliane Sucker 2020 herausgegebene Text+Kritik Band keinen eigenständigen Forschungsbeitrag zu Effingers vorlegt, wohl aber den Artikel Als Feuilletonistin auf wackligem Parkett. Konsequenzen eines historischen Analyseversuchs: Gabriele Tergit und Kurt Hiller von Reinhold Lütgenmeier-Davin, der die Affäre Tergit vs. Kurt Hiller einmal mehr ausführlich rekonstruiert und sich dabei weitgehend auf Quellen aus dem Hiller-Nachlass stützt.

Nun hat der Name einer Autorin generell gute Chancen, literaturgeschichtliche Selektionsprozesse zu überstehen, wenn er sich mit Lebens- und Werkgeschichte eines bereits in die Götterhallen des literarischen Kanons eingelassenen Schriftstellers verbindet. Für den Preis, der dafür gerade im Blick auf die ästhetische Wertschätzung der eigenen Arbeiten zu entrichten ist, sei exemplarisch auf Marieluise Fleißer, Zelda Fitzgerald und Else Lasker-Schüler verwiesen. Kurt Hiller nun ist zwar in der Literaturgeschichte als prominente literarische und politische Figur der Weimarer Republik verankert – u.a. als Herausgeber des Kondor (1912), einer ersten, 1989 nachgedruckten Anthologie expressionistischer Lyrik, aber auch als politischer Kommentator Der Weltbühne. Die Kurt Hiller-Gesellschaft widmet sich der Pflege seines Nachlasses und der Beschäftigung mit seinen Texten, aber das öffentliche und das literaturwissenschaftliche Interesse an seinem Werk gerade nach 1933 ist gegenwärtig doch überschaubar. So betrachtet, greift also der bekannte Mechanismus für ein zeitgenössisches Publikum einmal unter umgekehrten geschlechtsspezifischen Vorzeichen: Weil man Tergit liest, erfährt man auch von Kurt Hiller.

Dabei ist der Eindruck, den man gewinnt, wenig schmeichelhaft, auch weil die literaturwissenschaftliche Rekonstruktion der Affäre vornehmlich im Rückgriff auf Hillers Korrespondenzen u.a. mit Alfred Kerr und Wilhelm Unger erfolgt. Konkreter Anlass für Hillers Fehde mit Tergit ist ihr Artikel Forerunners of Nazism, der 1941 im Manchester Guardian veröffentlicht wurde und den „Verdacht der NS-Nähe“,[5] mit dem Hiller im Exil begegnet wurde, weiter nährte. Tergit nimmt dabei nicht auf Hillers Artikel Mussolini und unsereins Bezug, in dem er 1926 in Der Weltbühne ausführte: „es fehlt dem Fascismus [sic] eines: die Heuchelei. Er ist so ehrlich wie brutal. Und hat Schwung, Eleganz, Vitalität“, sondern bezieht sich auf die von Hiller herausgegebenen Publikationen Das Ziel (1916) und Tätiger Geist (1918), die u.a. Beiträge von Hiller, Hans Blüher und Gustav Wyneken versammeln.

Ausgehend von dieser Zusammenarbeit stellt Tergit die drei Männer als Repräsentanten der Jugendbewegung vor, zitiert Passagen aus ihren Schriften und thematisiert u.a. Anti-Individualismus und Anti-Urbanität, männerbündische Organisationsformen und die Idee vom heroischen Leben, Ablehnung der (Massen-)Demokratie und Heilsversprechen von Führerfiguren. Dabei betont Tergit bereits einleitend die zeitliche Kluft zwischen dem Damals der 1910er Jahre und ihrem Heute: „[S]ome of them are now Liberals or Socialist refugees, some Communists, some Nazis“, bevor sie ihren zentralen Gedanken formuliert: „Their ideas, taken over by the Nazis, have proved to be an explosive that has wrecked the world.“ Unter der Zwischenüberschrift Gift of Bluntness wird dies im Schema von Ursache und Wirkung weiter ausgeführt wird:

“The way was paved for a further characteristic development at that early time, for the cultivation of vulgarity as an expression of strength, of abuse as a legitimate form of expression, the rejection of the European forms of courtesy. […] [I]n spite of their Socialism and pacifism, they prepared the way for the Nazi regime, and prepared it very thoroughly. Their tactics of cell-formation were taken over not by pacifist Socialists but by Nazis, assuming the form of an immense organization of denunciation by informers. […] They declared that the family was an obstacle to all that was truly great, and the outcome was the training of children to spy on their parents […]. They wrote that the highest achievement possible to man is an heroic life and the end has been death and destruction for millions of souls.”[6]

Versucht wird aus der Perspektive des Exils eine Vermessung historischer Kontinuitätslinien im Angesicht der Katastrophe des 20. Jahrhunderts. In den Blick gerückt werden einzelne Aspekte, wobei der Artikel unmissverständlich eine bittere Bilanz vorlegt: Vermessen wird, welche blutigen Realitäten aus den ursprünglichen pazifistischen Idealen einer jugend- und lebensbewegten Periode und ihren Proklamationen und Forderungen hervorgingen. Auch wenn diese Kausalitäten in dieser Zuspitzung nicht zu überzeugen vermögen, ist der Versuch der mentalitätsgeschichtlichen Tiefenbohrung und die ideengeschichtliche Fahndung nach den Keimzellen nationalsozialistischer Weltanschauung in den Debatten des Exils nichts dezidiert Neues; immerhin ist die Expressionismus-Debatte schon eine Weile her.

Für Hiller ist dieser Affront existentiell: „Soll ich den Nachweis führen, dass ich kein Vorläufer des Nazismus bin? Und an den Konzentrationslagern unschuldig, an denen ich litt?“[7] Als Jude, Homosexueller und Linksintellektueller einer dreifachen Verfolgung durch den Nationalsozialismus ausgesetzt, der im Berliner Columbia-Haus, im KZ Brandenburg und im KZ Oranienburg gequält wurde, sind Hillers Erschütterung und Empörung nachvollziehbar. In seiner Korrespondenz schreiben sich diese vor allem als Flut wüster Beschimpfungen Tergits ein. Reinhold Lütgenmeier-Davin reiht diese Invektiven ad personam genussvoll auf und adelt sie zu „bissigen Neologismen“:

“Er denunziert sie zum Beispiel als ‚das Tergit‘, ‚Dame Tergit‘, ‚Hexe‘, ‚Lieschen‘, ‚Lügenlieschen‘, ‚Verleumderin‘, ‚Person‘, ‚ehrlose Null‘, ‚völlig unbedeutendes Aas‘, ‚Minderwertlerin‘, ‚Vettel‘, ‚mittelverhutzelte Matrone‘, ‚Schmöckse Melanie Pups‘, ‚Mossemade‘, ‚Geschöpf mit Brokatpseudonym‘, ‚Zeitgenössin mit pompösem Pseudonym‘, ‚Stinkmorchel‘, ‚Pute‘, ‚alte Wanze‘, ‚Giftkuh‘, ‚Giftdrüsenschaft‘, ‚Giftbiestchen‘, ‚Cobrakuh‘, ‚eine tolle Kreuzung aus Kuh und Kobra‘.”[8]

Lütgenmeier-Davin rekapituliert im Anschluss, mit welcher Konsequenz Hiller im Rahmen seiner Möglichkeiten die weitere Teilnahme Tergits am Literaturbetrieb des Exils und der Nachkriegskultur zu verhindern suchte. Die Bandbreite der gegen sie unternommenen Vorstöße und Aktionen umfasste Aus­schlüs­se von Vortragsabenden, Einsprüche bei Kerr gegen Tergits Mitgliedschaft beim deutschen PEN, aber ebenso Interventionen bei Walther Karsch und Erich Kästner, um eine Mitarbeit Tergits am Berliner Tagesspiegel und Die Neue Zeitung nach 1945 zu verhindern. 

In Helmut Peitschs Monographie „No Politics“? Die Geschichte des deutschen PEN-Zentrums in London 1933–2002 ist nachzulesen, wie Hiller in „Verallgemeinerung des Falles Tergit [argumentierte], daß ‚mancher Jude, der von den Nazis verfolgt wird‘, ‚(wenn auch mit verwerflichen Methoden) rechtens verfolgt‘ werde“.[9] Die in den Briefen dokumentierten, Ver­folgung und Exil überdauernden und entsprechend von der Forschung verschiedentlich rekonstruierten Bemühungen, Gabriele Tergit „moralisch zu zertreten“,[10] laufen über eine Aktivierung der gesamten Hiller zur Verfügung stehenden Netzwerke des Literaturbetriebs. In seiner Autobiographie zählt er Tergit denn auch zu den „[a]llerhand ruhmumrauschte[n] Skribenten verwichener Zeiten“, zu „dem Fliegenschwarm, der mich belästigt hat“ und von dem „nicht das geringste bekannt sein wird“.[11] 

Diese Hoffnung auf eine Auslöschung auch ihres Namens bricht sich in der Passage in Gegen die Zeit, in der Hiller den Fall rekapituliert, nachdrücklich Bahn. Über das Namensregister ist diese Stelle nicht auffindbar, da Tergit nicht namentlich angesprochen, sondern mit vielfältigen Invektiven belegt und als „Schriftstellerin neunundzwanzigsten Ranges“ bezeichnet wird, die auch „gelegentlich“ im Berliner Tageblatt habe „laichen“ dürfen und Hiller bereits 1925/26 „von einigen Schmonzetten her“ bekannt gewesen sei. Weiterhin erinnert er einen Juniabend des Jahres 1939 in London, „als eine mittelverhutzelte Matrone verspätet durch die Tür schlüpfte“ und ihm „mit seinen offenen Armen entgegen[stürmte]“, schrie und kreischte. Liest man Hillers Erinnerungen an Tergit, wird zum einen offensichtlich, wie genau die Ausführungen Lütgenmeier-Davins Hillers Perspektive reproduzieren, denn beide erklären sich Tergits Artikel als „Racheakt“.[12] 

Was in der bloßen Aufzählung der vulgären Beschimpfungen auf der anderen Seite aber verborgen bleibt, ist die ins Werk gesetzte dreifache Entwertungsstrategie, die auf Leben, Werk und Rezeption zielt: Tergits Texte? Minderwertige Unterhaltungsware, nicht kreativ geschöpft aus der Tiefe des Geistes, sondern kitschige Auftragsware, abgelegt im dümmlich-empfindelnden Feuilleton. Die Frau? Eine monströse Figur, die brüllend in ihrer verfallenden, aus der Form geratenen Körperlichkeit zu nahe tritt. Diese krasse Ballung an bekannten misogynen Entwertungsstrategien steigert sich zur gezielten Verekelung von Leben und Werk und zielt unmissverständlich darauf ab, Tergits Namen auszulöschen.

Literarische Präzisierungen

Von der Reaktion Tergits hinter den Kulissen erfahren wir wenig. Notiert wird jedoch von Lütgemeier-Davin ihre “subtil bissige Revanche“, schließlich wird in Effingers in einer kurzen Passage der „Rat geistiger Arbeiter“ der Lächerlichkeit preisgegeben. Und wir werden erinnert: „Hiller war Initiator dieses kurzlebigen Rates in Berlin!“[13] Im Kern kontrastiert Effingers einen pathetischen Vortrag, der eine visionär-vertrackte Zukunftsvision von einer „Wirklichkeit eines Bundes der Geistigen“ entwickelt, mit dem gänzlich profanen plötzlichen Verlöschen des Saallichtes: „Denn die Arbeiter der Elektrizitätswerke streikten.“ Die Realität des Klassenkampfes beendet fast schon unhöflich die pathetische Beschwörung des Geistes; die Sitzung endet ergebnislos. Liest man diese anderthalbseitige Passage des monumentalen Romans als Revanche Tergits, so steht dafür nicht nur die erzählte Publikumsreaktion ein – das von einer Zuhörerin geäußerte Unverständnis wird aggressiv mit dem Vorwurf fehlender geistiger Reife quittiert –, sondern ebenso die Rede selbst:

„[S]ieht man diesen Bund als eine Armee Geistiggerichteter, geführt von einem Offizierkorps Geistiger, noch anders ausgedrückt: als eine Aristokratie von Geistigen, hinter der ein treuer Demos von Geistiggerichteten steht –, dann ergibt sich, daß jene ‚Ortsgruppen‘, welche die Basis der ungeheuren Zweckverbandspyramide unseres Bundes ausmachen […], daß diese Ortsgruppen grundsätzlich durchaus zusammenfallen können mit Gemeinschaften, die Stücke des Bundes der Geistigen sind oder für ihn leben…“[14]

Bemerkenswert ist dabei der Wechsel der Register. Entfaltete sich Hillers Obsession im vulgärsten Vokabular hinter den Kulissen, verzichtet Tergit im literarischen Text öffentlich dargebotene Entgegnung auf eine Zuspitzung ad hominem; der zitierte Redner bleibt namenlos. Stattdessen wiederholt der 1951 publizierte Roman im historischen Erzählen über die Novemberrevolution einen Teil der historischen Diagnose, die der Artikel von 1941 als faktuale Bestandsaufnahme verfocht: demagogisch verdrehte und aggressiv vor Publikum verteidigte Rede, die die projektierte Herrschaft einer Elite des Geistes mit dem politischen Instrument der Zellenbildung verbindet. 

Netzwerke, Felder und Pforten

Auch wenn dieser gesamte Fall mitsamt seinem aus mangelnder öffentlicher Resonanz unausgeschöpftem Skandalpotential unappetitlich ist und letztlich gerade in der Verquickung von Sexismus und Anti­semi­tismus nur Verlierer kennt, sind doch zwei Punkte bezeichnend. Zum einen ist bemerkenswert, dass sich in der Rekonstruktion der Affäre kaum jemand für Tergits Perspektive interessiert. Dem verbalen Exzess Hillers kontrastiert in der Fall-Erzählung eine bezeichnende Sprachlosigkeit Tergits. Zum anderen lässt sich an den von Hiller aktivierten Bekanntschaften ein Geflecht von Institutionen, Redaktionen und Verbänden erahnen, das Tergit offenbar nur als Zutritt Begehrende kennt und das den wüsten Beschimpfungen keinerlei Einhalt geboten hat – wenngleich freilich zu bedenken ist, dass zum einen Hiller im Exil als „Stänkerer“[15] aus einer randständigen Position operierte und kaum Gewicht zu entfalten vermochte, zum anderen unterschiedliche Versuche benannt werden, ihn zu beschwichtigen.

Der Fall Tergit vs. Hiller als unterbliebener Skandal ist ein Beleg dafür, wie zwei einst populäre und einflussreiche Stimmen der Weimarer Republik im Exil Publikum und Resonanzraum verloren. Dass der Konflikt nicht öffentlich wurde, hängt auch damit zusammen, dass die Herausgeber des Manchester Guardian den Leserbrief Eugen Brehms – den dieser auf Bitte Hillers eingesandt hatte – nicht druckten, wohl aber eine Wortmeldung, die Tergits Vorwürfe gegenüber „Wynecken, Hiller and others“ als „entirely correct“ bezeichnet, dann jedoch apodiktisch einfordert, vom „Wandervögelbund and the other sections of the youth momvent […] should not be spoken of in the same breath with Nazism.“[16] 

Für die weitere Beschäftigung mit Gabriele Tergit mag man die Kenntnis dieser Affäre positiv wenden, denn sie bewahrt vor einer hagiographischen Verehrung von Werk und Autorin. Zudem werden in ihrem Lichte Forschungsdesiderate kenntlich, die auch die Formierung des literarischen Feldes nach 1945 betreffen. Nur so lässt sich mehr als nur erahnen, welche langfristigen Folgen Hillers Aktivismus für Tergit als deutsch-jüdische Autorin in der Nachkriegskultur zeitigte. Bezeichnenderweise bedenkt Tergit in ihrer Autobiographie Etwas Seltenes überhaupt den Fall nicht weiter, wohl aber ihren Eintritt in das journalistische Feld und den Eintritt in das literarische Feld. Beide Ereignisse erinnert sie als Schwellenübertretung, wobei ihr in jeweils  Männer die sprichwörtliche Pforte öffneten, einmal niemand geringerer als Gerhart Hauptmann, der ihr „wie ein römischer Imperator in ein weißes Frottiertuch gewickelt, […] mit unvergleichlicher Gran­dezza eine Gartenpforte“ (17) auf Hiddensee öffnete, das andere Mal ein namenloser Gerichtsre­fe­ren­dar, der Tergit „durch die Gerichts­schranken gehen [ließ]“ (19). Der Fokus ihrer Autobiographie liegt auf der Rekonstruktion jener lebendigen Netzwerke, denen sie als bekannte Journalistin und Schriftstellerin in der Weimarer Republik angehörte. Außen vor bleibt jener Nicht-Skandal des Exils, in dem sowohl ihre als auch Hillers Stimme nahezu ungehört verhallte

Um­so bedauerlicher ist es, dass die jüngste vorgelegte Rekonstruktion die an sich bekannte Affäre nun unter die Auspizien einer peinlichen Konfrontation zwingt: Auf der einen Seite der „philosophisch, juristisch, historisch geschulte, sprachgewaltige jüdische Intellektuelle“, auf der anderen Seite die „lebenslustige deutsch-jüdische Journalistin und Romanautorin“, eine „Frau mit Berliner Schnauze“.[18] So wird nicht nur eine misogyne Vorurteilsstruktur in der ästhetischen Bewertung der Texte von Autorinnen reaktiviert, sondern in der spekulativen Unterstellung niederer Handlungsmotive – die Rede ist von „Renommiersucht, gekränkter Eitelkeit, […] Rivalität“ – das Bild einer Autorin belastet, die gerade wieder ihr Publikum zurückgewonnen hat. Und dies bezeichnenderweise bevor Tergits Korrespondenzen oder ihre Autobiographie näher betrachtet wurden. Der Fall und die zitierte Fall-Erzählung sei daher vor allem als Mahnung verstanden, bei aller Lektürefreude über die Wiederentdeckungen nicht die alten Fehler zu wiederholen und in verzückter Anbetung der Werke anerkannter Meister sogar wüste Beschimpfungen ob ihrer Kreativität zu würdigen und jedes – noch so sexistische – Wort zu verehren. Die Fehde Hiller vs. Tergit auf die Reproduktion misogyner Beschimpfungen zu reduzieren, heißt auch all jene Fragen zu strukturellen Diskriminierungen im Feld der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur und der Literaturgeschichtsschreibung zu unterbinden, die hier angedeutet wurden. Dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Wiederentdeckung der Wiederentdeckten in Dauerschleife geschaltet werden muss.


[1] Veronika Rusch: Der Tod ist ein Tänzer. Die Josephine-Baker-Verschwörung. München 2021, S. 45.

[2] Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm [1931]. Frankfurt/Main 2016, S. 74f. Man mag es als ein deutliches Zeichen der gegenwärtigen Wiederentdeckung einer Wiederentdeckten lesen, dass Gabriele Tergit in den historischen Kriminalromanen der Gegenwart nunmehr als Figur der erzählten Welt erscheint, in Fräulein Wolf und die Ehrenmänner bezeichnenderweise im Romanischen Café, in dem sie sich bald “nicht mehr blicken lassen” könne, da sie in ihrem Roman schreibt, dass es “sehr schmutzig ist, die Fensterscheiben angeräuchert und dass die Manieren der Besucher zu wünschen übrig lassen”. Gabriella Wollenhaupt, Friedemann Grenz: Fräulein Wolf und die Ehrenmänner. Dortmund 2021, S. 41.

[3] Zit. n. Nicole Henneberg: Die Vertriebenen [Nachwort]. In: Gabriele Tergit: So war’s eben. Frankfurt/Main 2021, S. 616.

[4] Marie Schmidt: Enorm modern. In: Süddeutsche Zeitung 07.01.2022, S. 12.

[5] Alexander Gallus: Heimat „Weltbühne“. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert. Göttingen 2012, S. 110.

[6] Gabriele Tergit: Forerunners of Nazism. In: Manchester Guardian, 20. Juni 1941, S. 4.

[7] Brief Kurt Hillers an Eugen Brehm vom 24.06.1941. Zit. n. Gallus: Heimat „Weltbühne“, S. 111 .

[8] Reinhold Lütgenmeier-Davin: Als Feuilletonistin auf wackligem Parkett. Konsequenzen eines historischen Analyseversuchs: Gabriele Tergit und Kurt Hiller. In: TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur: Gabriele Tergit, H. 228. Hrsg. von Juliane Sucker. München 2020. S. 82–91, hier S. 83.

[9] Helmut Peitsch: „No Politics“? Die Geschichte des deutschen PEN-Zentrums in London 1933–2002. Göttingen 2006, S. 113.

[10] Kurt Hiller an Alfred Kerr, 21.11.1942. Zit. n. Lütgenmeier-Davin: Als Feuilletonistin auf wackligem Parkett, S. 86.

[11] Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 410.

[12] Ebd., S. 347–349.

[13] Lütgemeier-Davin: Als Feuilletonistin auf wackligem Parkett, S. 87.

[14] Lütgemeier-Davin: Als Feuilletonistin auf wackligem Parkett, S. 87 und S. 88.

[15] Gabriele Tergit: Effingers [1951]. Frankfurt/Main 2020, S. 560.

[16] J.M. Ritchie: Kurt Hiller – A ‚Stänkerer‘ in Exile 1934–1955. In: German Life and Letters 51 (1998), H. 2, S. 266–286.

[17] H.R. Loewenberg: Letters to the Editor. In: Manchester Guardian, 3. Juli 1941, S. 4.

[18] Lütgenmeier-Davin: Als Feuilletonistin auf wackligem Parkett, S. 84.

Photo by Owen Michael Grech on Unsplash

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