Vorsicht mit dem Porzellan – Über ostfriesische Teekultur

von Sontje Liebner

„Bloß nicht fallen lassen“, schießt es mir durch den Kopf. Behutsam räume ich die 12 Tassen, Teller, Kännchen & Co. aus dem Umzugskarton. Das weiße Porzellan ist hauchdünn, durchscheinend, es wirkt kostbar, wie aus der Zeit gefallen. Ganz anders als mein restliches Geschirr, das bunt ist, robust und vor allem: spülmaschinenfest. Ich schäle eine weitere Tasse aus vielen Schichten Küchenpapier, steige auf die Leiter und schiebe das fragile Familienstück ganz nach hinten in meinen Küchenschrank. Aus den Augen, doch nicht aus dem Sinn.

Der Weg von der Küche meiner Großeltern bis in meine war weit, von einer Kleinstadt im nördlichen Niedersachsen bis nach Berlin. Alles begann mit einem WhatsApp-Foto, gesendet von meiner Mutter: „Hast du Interesse an Giselas chinesischem Teeservice?“ Auf den Bildern zu sehen sind fein säuberlich gestapelte Tassen und Tellerchen in der Vitrine meiner Großeltern. Goldränder, üppige Vegetation und weite Landschaften. Bunte Figuren, Frauen mit schwarzen Haaren, festlichen Gewändern und gesenktem Blick. Stereotypische asiatische Darstellungen. Müsste ich die fantasievolle Bemalung in einem Wort zusammenfassen, wäre das wohl: exotisch. Alles in mir sträubt sich dagegen. Möchte ich etwas annehmen, das fernöstliche Klischees reproduziert? Nein, eigentlich nicht. Die Antwort an meine Mutter: „Ich nehme es sehr gerne.“ Mein Forscherinnengeist ist geweckt. Wieso steht bei meinen Großeltern ein vermeintlich chinesisches Teeservice? Woher mein innerer Widerstand – und kann ich diesen vielleicht sogar produktiv nutzen? Also, raus aus der Komfortzone, rein in die Recherche.

Wie zu Omas Zeiten

Ich telefoniere mit meiner Oma. Gisela ist im Umzugsstress. Das alte Haus mit großem Garten wird geräumt. Vieles muss weichen, wenn sich der Lebensraum verkleinert. Alte Schätze wie das Teeservice werden wiederentdeckt, anderes bleibt verschwunden. „Vielleicht taucht die Kanne noch auf“, überlegt Oma. Das Kernstück aus Porzellan ist unauffindbar. Das war mir bisher entgangen – doch natürlich gehört eine Kanne zum Kännchen.

Eigentlich hätte ich das wissen müssen. Mein Großvater ist Ostfriese und auch meine Großmutter ist im äußersten Nordwesten Niedersachsens aufgewachsen. In der Region Ostfriesland ist das Land flach, die Brise steif und die Sprache platt. Eine weitere Eigenheit ist die Liebe zum Tee. In Ostfriesland trinkt jede Person circa 300 Liter im Jahr. Die ostfriesische Teezeremonie gilt sogar als immaterielles UNESCO-Kulturerbe. Meine Oma dazu ganz pragmatisch: „Die Ostfriesen, die trinken immer Tee.“

Was ich bisher auch nicht wusste: Die ostfriesische Teezeremonie ist bis ins Detail durch orchestriert. Erst kommt ein Stück Kluntje in die Tasse – großer brauner oder weißer Kandis –, dann wird der Tee aufgegossen. „Der [Kluntje] muss fast aus dem Tee rausgucken“, merkt meine Oma an. Der bzw. die Gastgeber*in schenkt sich zuerst ein. Ist der Tee für die Gäste gut genug? Dann wird etwas Sahne mit einem kleinen Löffel, dem „Rohmlepel“, an den Tassenrand gestrichen. Hell trifft auf dunkel und hinterlässt eine „Wolke“, die „Wulkje“. Wichtig ist, dass die Sahne gegen den Uhrzeigersinn in die Tasse gegeben wird. Als Symbol dafür, dass die Zeit stehen bleibt. Denn Teezeit bedeutet Auszeit. Die Zuckerkristalle knistern, umgerührt wird nicht. Geschlürft wird Schicht für Schicht, so schmeckt der Tee erst mild, dann herb, dann süß – der ostfriesische Dreiklang. Für mich neu: „Dree is Oostfresenrecht“[1], drei Tassen sind Ostfriesenrecht. Die Tassen sind klein, nachgefüllt wird oft. Wer nicht mehr möchte, legt den Löffel in die Tasse. Dieser Brauch ist mir bekannt.

Blut ist dicker als Teewasser

Ich selbst trinke im Alltag selten Tee, Kaffee umso häufiger. Fairtrade aus der Bialetti mit Hafer-Soja-Barista. Lieber eine Tasse statt zwei, lieber vor statt nach 16 Uhr, lieber nicht auf leeren Magen, aber oft halt doch. Kaffee ist der Stoff, der mich durch den hektischen Alltag treibt. Damit bin ich nicht allein, Kaffee ist in Berlin der wohl kleinste gemeinsame Nenner. Der starke Stoff macht wach, ist wahlweise süß oder bitter und passt in das moderne Leben. In meinem Umfeld scheint schnöder Tee vom Aussterben bedroht, verdrängt von Cold Brew, Kombucha und Bubbletea. Ein Blick aus meiner Bubble in die weite Welt zeigt: Das ist Quatsch. Tee ist das am zweithäufigsten konsumierte Getränk überhaupt.[2]

Wenn ich meine Großeltern besuche, wird stets Ostfriesentee serviert. Das gehört einfach dazu, ein Ritual des familiären Beisammenseins. Auch bei meinen Eltern gibt es täglich schwarzen Tee. Vormittags, nach dem Aufstehen, den „Elführtje“. Und nachmittags, zur geselligen „Teetied“. Ich verbinde damit ein Gefühl von Heimat. Tee hat auf mich den gleichen Effekt wie Prousts Madeleines, nur gibt es in Ostfriesland Krollkuchen (Neujahrskuchen) statt französischen Feingebäcks.

Als ich vor acht Jahren aus dem Norden nach Berlin zog, geriet die geliebte Tradition in Vergessenheit. Aus Familienleben wurde Singlehaushalt, aus Teetasse wurde Kaffeepott. Das liegt auch am Geschmack, denn Schwarztee eignet sich nicht für kalkreiches Wasser. In Ostfriesland ist das Wasser weicher – und der Tee aromatischer. Echter Ostfriesentee besteht aus mehr als zehn verschiedenen Sorten mit kräftigem Assam. Er wird in Ostfriesland gemischt, in einem der drei großen Teehandelshäuser: Bünting, Thiele & Friese und Onno Behrends. In meiner Familie kommt nur Broken Silber von Thiele auf den Tisch und in die Tassen. Das Traditionsunternehmen mit Sitz in Emden wird als einziges im Familienbetrieb geführt.

Handel mit Tee im Wandel der Zeit

Emblematisch für die norddeutsche Teekultur ist die Ostfriesische Rose: Rosa Blüte auf grünen Blättern auf weißem Porzellan. Doch für meine Oma sollte es Anfang der 60er-Jahre unbedingt ein Service aus Japan sein. Japan, nicht China. Ein großer Unterschied, der uns auf den ersten Blick nicht aufgefallen war – weder mir noch meiner Familie. Gisela erzählt, dass das Motiv damals einfach Mode gewesen sei: „Ich habe mir das [Service] um ’63 gekauft – ich wollte unbedingt so ein japanisches haben.“

Dabei liegen zwischen der friesischen Gemeinde Zetel, in der meine Oma damals gelebt hat, und der japanischen Hauptstadt Tokio über 9.000 Kilometer Luftlinie. Achtung, Kitsch: Verbunden sind sie durch ihre Liebe zum Tee. Der Legende nach wurde grüner Tee vor etwa 4.500 Jahren in China kultiviert. Ab dem 15. Jahrhundert brachen mitteleuropäische Mächte zu Kolonialexpansionen auf. Sie erschlossen neue Regionen für den Handel, beherrschten und missionierten. Schiffe der Niederländischen Ostindien-Kompanie brachten Grüntee schließlich ab 1610 auch in die hiesigen Gefilde. Ab 1637 hatte jedes holländische Schiff einige Kisten chinesischen und japanischen Tee an Bord. Über Amsterdam eroberte das Wirtschaftsgut Ostfriesland. Das Rohprodukt wurde zur begehrten Kolonialware, ebenso wie Zucker, Gewürze – und Sklav*innen. Der Beginn eines Systems von Ausbeutung und Abhängigkeit, das bis heute nachwirkt.

Auch Deutschland wollte am Welthandel teilhaben. Darum gründete Friedrich II. 1750 die königlich-preußisch-asiatische Handlungs-Compagnie von Emden auf China. Schiffsladungen mit Tee, Seide und Porzellan gelangten in die ostfriesische Hafenstadt. Doch kurz darauf forderte der Siebenjährige Krieg viele Opfer – so auch die Auflösung der Ostindien-Kompanie. Daraufhin versuchte der preußische König den Ostfries*innen den teuren Teegenuss abzugewöhnen. Angeblich floss zu viel Geld ins Ausland. Keine Chance, das Volk wehrte sich mit Schmuggel, geheimem Teetrinken und zivilem Ungehorsam. In einem Brief der ostfriesischen Landstände von 1779 heißt es: „Der Gebrauch des Thee und Caffe ist hierzulande so allgemein und so tief eingewurtzelt, dass die Natur des Menschen schon durch eine schöpferische Kraft müßte umgekehrt werden, wenn sie diesen Getränken auf einmal gute Nacht sagen sollte.“[3]

Der japanische Tee-Weg

Nicht nur der Tee, auch die zugehörige Zeremonie kommt ursprünglich aus China. Zusammen mit der Zen-Philosophie wanderte das Ritual nach Japan. Dort wurde es zu einer eigenen Lebenskunst, einer Art Meditation, die schlichte Schönheit in den Alltag holt. Die japanische Zeremonie „Chanoyu“ („heißes Wasser für Tee“) ist geprägt von komplexen Regeln, die einst der Erleuchtung buddhistischer Mönche dienen sollten. Bei der formalen Teezeremonie wird nach einem festen Ablauf Grüntee serviert. Jeder Handgriff ist koordiniert, von der Vor- über die Zubereitung bis zur Reinigung. Von der Kleidung über die Sitzordnung bis zu den Gesprächen. Die Zeremonie beginnt, wenn die Gäste den Teegarten betreten, wird im Teehaus oder -raum fortgesetzt und dauert bis zu vier Stunden. Mit dem ostfriesischen Ritual hat das reichlich wenig zu tun. Die japanische und die deutsche Zeremonie haben sich unabhängig voneinander entwickelt. Trotzdem erkenne ich die gemeinsamen Wurzeln: in der Gastfreundschaft und im Beisammensein, losgelöst vom Alltag. Im japanischen Teeraum sind Uhren verboten, in Ostfriesland hält der Löffel symbolisch die Zeit an. Die Zeremonie ist zeitlos – in beiden Kulturen.

Um einen besseren Einblick in die heutige Bedeutung der Teetradition zu bekommen, spreche ich mit Jana Roloff, Teemeisterin und Autorin des Buches „Zen in einer Schale Tee. Einführung in die japanische Teezeremonie“. Gleich in ihrer ersten E-Mail merkt sie an: „PS: Ich hatte im Übrigen auch eine ostfriesische Großmutter.“ Roloff beschäftigt sich seit 25 Jahren mit dem Thema. Die Hannoveranerin hat statt Wohnzimmer ein Teezimmer, das komplett mit Reisstrohmatten ausgelegt und mit einem im Boden versenkten Kessel ausgestattet ist. Ich erkundige mich, welche Rolle Tee im heutigen Japan spielt, und lerne dabei, dass wohlhabende Japaner*innen mit traditionellen Häusern oft Teezimmer mit Teegarten haben. Die Ausbildung zur Teemeisterin bzw. zum Teemeister dauere jedoch mindestens 10 Jahre und sei ein ständiger Lernprozess. Eine zeitintensive Leidenschaft, das zeige sich auch darin, dass es immer schwieriger werde, junge Leute zu begeistern. Roloff erklärt, dass das Thema tief in der Alltagskultur verwurzelt sei. Es habe dort eine ganz andere Dimension als in Deutschland: „In Japan weiß jeder, was eine Teezeremonie ist. […] In Städten wie Hiroshima finden täglich mehrere Riesenveranstaltungen statt. Mit bis zu 500 Gästen.“ In Deutschland seien es hingegen maximal 30. Der Ablauf einer Teezeremonie werde oft über Generationen von Mutter zu Tochter weitergegeben. Doch die Teeschüler*innen der Cha-Do-Schule, der Roloff angehört, sind eine bunte Mischung aus Studierenden, Selbstständigen, Angestellten, Jung und Alt.

Sehnsuchtsbilder

Mit der ostfriesischen und der japanischen Teekultur bin ich nun vertraut. Auch die Handelsrouten habe ich bereist – zumindest im Kopf. Doch wie kam es zu den stereotypischen Darstellungen auf meinem Porzellan? Bis Anfang des 18. Jahrhunderts wurden die kostbaren Gefäße ausschließlich aus China importiert. Jedoch haben chinesische und japanische Teeservices optisch rein gar nichts mit meinem gemeinsam. In Japan bevorzugt man zum Beispiel Steingut statt Porzellan, der Tee wird aus einer kleinen henkellosen Schale, einem „Chawan“ getrunken.

Dass die hiesigen Gefäße anders aussehen, liegt daran, dass die Hersteller ihre Exportprodukte dem europäischen Markt angepasst haben. Teedosen, Gewürzsäckchen und Porzellan wurden mit fernöstlichen Motiven verziert. Paradiesische Bilder, hingebungsvolle Asiat*innen, idyllische Plantagen, malerische Landschaften. Asien als kulturelles Konstrukt. Der geheimnisvolle Orient entsprach dem westlichen Wunsch nach Ruhe und Spiritualität. So entstand die europäische Vorliebe für koloniale Motive. Adel und Bürgertum servierten kostbaren Tee in kleinen Tassen und trugen ihre Weltgewandtheit zur Schau. Die Realität sah anders aus: Teeanbau war und ist zum Teil noch heute harte Handarbeit. Plantagenarbeiter, Teepflückerinnen und Kinder arbeiteten für wenig Geld zu unmenschlichen Konditionen. Die miserablen Produktionsbedingungen verschwanden hinter der Sehnsucht nach dem Fremden, einem imaginären Ideal.

Träger von Traditionen und Konventionen

Über Japan wusste ich bisher wenig. Der Inselstaat wird in Deutschland noch heute oft als verzerrtes Fremdes wahrgenommen. Als Karikatur einer lebendigen Kultur – wie auf meinem feinen Porzellan. Das Teeservice reproduziert und festigt rassistische Stereotypen. Es wurde für das europäische Auge, den hiesigen Durst, gefertigt. Die vermeintlich exotischen Bilder sind problematisch. Sie prägen sich als kulturelle Zeichen ein. So halten sich koloniale Denkmuster: die Asiatin als fügsam, höflich, gesichtslos. Die fernen Länder als prachtvoller Garten Eden. Natur gegen Kultur – ein Gegenentwurf zur eigenen Wirklichkeit, von Verkürzungen geprägt. Mit der Realität der japanischen Bevölkerung hat das wenig zu tun. Mein scheinbar unscheinbares Porzellan transportiert all diese Ideen. Manchmal hilft ein Blick in die Vergangenheit, um die Gegenwart zu verstehen.

„Das darf nicht in die Spülmaschine“, betont meine Mutter mittlerweile zum dritten Mal. Auch meine Oma wiederholt dieses wichtige Anliegen. Klar, Kostbarkeiten werden mit Samthandschuhen angefasst, so geht nichts zu Bruch. Doch die Gefahr besteht hier nicht, das Teeservice ruht ganz hinten in meinem Schrank. Nur eine einzelne Tasse thront noch auf meinem Schreibtisch. Ein Mahnmal dafür, was Bilder bewirken und wie Traditionen über Kontinente wandern. Dafür, wie Alltagsgegenstände Bände sprechen und Seiten füllen können. Bei meiner Suche zwischen Familie und dem Fremden habe ich viel gelernt. Über Kitsch, Kommerz und Kultur. Darüber, dass die Grenzen oft verschwimmen – und ich Ambivalenz aushalten muss.

Morgens trinke ich noch immer Kaffee. Nachmittags jetzt immer öfter Tee. Schwarzen Ostfriesentee, drei Minuten gezogen, mit zwei Kluntjes und einem Wölkchen Hafermilch.


[1] Stepaniszczewa, Dinara (2018): Konzeptuelle Metaphern in den Bezeichnungen der Teekompositionen, Germanica Wratislaviensia 143, S. 383.

[2] Vgl. Rösemann, Ulrich (2016): Tee – das zweithäufigste Getränk des Menschen, Biologie in unserer Zeit 46, 6, S. 390ff.

[3] Johann Haddinga (1977): Das Buch vom ostfriesischen Tee, Leer: Schuster, S. 39.

Foto: Dietmar Rabich / Wikimedia Commons / “Kandiszucker — 2018 — 3590” / CC BY-SA 4.0

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