Wenn das Lachen vergeht – Abbas Khider schreibt den modernen Irak

von Maryam Aras

 

In der britischen TV-Serie Baghdad Central kämpft der ehemalige Polizei-Kommissar Muhsin al Khafaji (gespielt von Waleed Zuaiter) sich mit seinen Töchtern durch die Hölle der von US-Amerikanern und Briten besetzten irakischen Metropole. Weil er unter Saddam Hussein gedient hatte, ist er im post-baathistischen Irak in Ungnade gefallen. Nun wirbt ihn ein britischer Regierungsbeamter an, der – aus politisch aufrichtigen Motiven scheint es – eine irakisch geführte Polizei wiederaufbauen will. Doch Khafaji verfolgt seine eigene Agenda: Seine ältere Tochter Sausan (Leem Lubany) ist verschwunden und die jüngere Mrouj (July Namir) ist schwer krank und kommt ohne Hilfe von außen nicht an die lebensnotwendige Dialyse-Behandlung. Kommissar Khafaji macht sich jeden Tag aus seinem halbzerstörten Viertel, in dem mittlerweile die Jungen der Nachbarschaft bewaffnet mit ein paar Maschinengewehren und islamistischen Sprüchen das Sagen haben, auf in die „Green Zone“, in das Hochsicherheitsgebiet der Besatzer. Doch auch die scheinen verstrickt in Sausans Verschwinden. Sobald beide Töchter zurück und gesund sind, will Khafaji nur eins – raus aus Irak.

Die bisher sechsteilige Serie, produziert für Channel Four, ist sehr gut gemachte Krimi-Noir Unterhaltung, die sich nicht scheut, das neokoloniale Gebaren der westlichen Alliierten vom einfachen Soldaten bis zum Entscheidungsträger in Anzug und Krawatte darzustellen. Das „dual-language Drama“ wird dabei von einem überzeugenden trans-arabischen Cast getragen, dessen Darsteller*innen sicher dankbar waren, in einer englischsprachigen Produktion einmal nicht eine*n Terrorist*in, dessen Schwester oder Geliebte*n spielen zu müssen. Ein arabischsprachiges Publikum wird während der untertitelten Dialoge die unterschiedlichen Akzente der amerikanisch-kuwaitischen, britisch-ägyptischen, -irakischen oder palästinensisch-israelischen Schauspieler*innen erkennen.

Neben viel Lob für die Repräsentation arabischer Darsteller*innen on-screen gab es aber auch kritische Stimmen, die bemängelten, die Gelegenheit, irakische Stimmen ihre eigenen Geschichten erzählen zu lassen, sei vertan worden. Unbegründet sind diese Vorwürfe nicht. Als Script-Vorlage diente dem englischen Drehbuchautor Stephen Butchard der gleichnamige Roman des amerikanischen Arabisten und Literaturwissenschaftlers Elliott Colla. Auch hinter der Kamera war kein*e Iraker*in Teil des engeren Produktionsteams (lediglich eine der Associate Producerinnen, Arij al-Soltan, ist Britin irakischer Herkunft). Diese Diskussionen zu führen ist wichtig, gerade weil diese Produktion trotz der abermals weißen Agency des Autor*innenteams (wer darf erzählen?) allem, was das deutsche Fernsehen je an Vergleichbarem hervorgebracht hat (eine Handvoll Filme um den deutschen Bundeswehreinsatz in Afghanistan herumerzählt: Auslandseinsatz (2012), Willkommen im Krieg (2012) und Zwischen Welten (2013)) um viele Längen voraus ist.

Auch in der deutschen Gegenwartsliteratur fällt eine Bestandsaufnahme irakischer Stimmen zahlenmäßig bescheiden aus – Karosh Taha erzählt vielbeachtet aus post-kurdischer Perspektive. Der in Köln lebende Bakhtyar Ali schreibt auf Sorani und lebte lange eine literarisches Nischenexistenz – das Schicksal der meisten übersetzten Autor*innen bei deutschsprachigen Verlagen. Seit seinem Roman von 2017, Der letzte Granatapfel, gilt er auch hier als die wichtigste Stimme der zeitgenössischen irakisch-kurdischen Literatur. Sherko Fatah, der ebenfalls aus post-irakisch-kurdischer Sicht schreibt, seine Romane jedoch auch in Kurdistan spielen lässt, erfuhr mit seinem letzten Roman leider keinen großen öffentlichen Widerhall. Und dann ist da noch Abbas Khider. Mit ihm hat die deutschsprachige Literaturszene einen Autor, der Geschichten über seinen Irak erzählt, und damit auf dem deutschen Buchmarkt erfolgreich ist (seine Romane Ohrfeige, 2016, und Der falsche Inder, 2008, müssen in diesem Text außen vor bleiben).

In vielen seiner Interviews wiederholt Khider die Rolle, die die deutsche Sprache für ihn als irakischer Exilautor spielt: Sie verschaffe ihm die nötige Distanz, um über den erlebten Schrecken unter Saddam Husseins Regime schreiben zu können. Dabei hilft ihm oft sein Humor. Den Verbrechern ihre Lächerlichkeit zu schenken, mache vieles erträglicher, sagt er.

Mesopotamische Geschichten

Khiders Humor ist so einer seiner markantesten Erzählelemente in den Romanen Orangen für den Präsidenten (2011) und Brief aus der Auberginenrepublik (2013). Diesen beiden Werken lassen sich als „mesopotamische Geschichten“ zusammenfassen, wie es am Ende von Brief aus der Auberginenrepublik auf dem letzten Schnipsel des namensgebenden Briefes kurz vor dessen Verbrennen heißt: „Die Glaubwürdigkeit unserer Geschichte besteht vermutlich darin, dass sie weder glaubwürdig noch unglaubwürdig ist. Sie ist eben nur eine mesopotamische Geschichte…“

In Orangen für den Präsidenten erzählt Khider die Geschichte des jungen Taubenzüchters Mahdi, der, 1989 am Tag seiner Abiturprüfungen ins Gefängnis geworfen, abwechselnd von seinem Leben in Babylon und Nasiriya, und seinem späteren Alltag im Gefängnis berichtet. Auf drei Seiten, die der Haupterzählung vorangestellt sind, erzählt das lyrische Ich von seinem „Trauerlachen“ – einer scheinbar ungesteuerten jedoch sehr effektiven Abwehrstrategie gegen die ihn folternden Gefängniswärter. Der prologartige Abschnitt beschließt die erzählerische Schleife des Romans, den Khider in einem Flüchtlingslager in Kuwait enden lässt. Neben dem Lachen als eigenem Motiv kreiert Khider immer wieder abgründig-witzige Situationen – wie die der titelgebenden Episode, in der die Gefängnisinsassen an Saddam Husseins Geburtstag auf eine Amnestie hoffen und sich das sehnsüchtig erwartete „Geschenk“ als eine Kiste voller Orangen entpuppt.

Khiders Sprache ist in beiden Romanen geprägt von humoristischen, manchmal flapsigen Elementen. Diese durchbrechen einen sonst eher romantisch-narrativen Stil, der sich in seiner Misch-Art zwar angenehm liest, aber nicht unbedingt bleibenden Eindruck hinterlässt. Interessanterweise deutet sich Abbas Khiders stilistische Entwicklung bereits in dem eindrücklichsten Kapitel des darauffolgenden Brief in die Auberginenrepublik an. Der geschickt konzipierte Episodenroman wird durch die Irrfahrt eines Briefes, den der politische Flüchtling Salim aus Bengasi in Libyen an seine Geliebte Samia in Bagdad schreibt, zusammengehalten. Im vierten Kapitel erzählt der Lastwagenfahrer Latif Mohamed, der den Brief ein Stück des Weges transportieren wird, wie er zu seinem Rufnamen Abu Samira kam. Die etwas ungewöhnliche Konstruktion „Vater von Samira“ bürgerte sich ein nachdem der geliebte Sohn Nori halbtot und verbrannt aus dem Iran-Irak-Krieg zurückkehrte und er die Ansprache als Abu Nori nach dessen Tod nicht mehr ertrug. Es veränderte sich auch die Art, wie das Ehepaar mit einander redet

Nach Noris Tod lief ich als traurige Gestalt durch die Gegend. Oftmals, wenn ich wie gewohnt meine Frau Om Nori rufen wollte, stolperte meine Zunge über den Namen meines Kindes. Noris Namen konnte ich nicht mehr aussprechen. Es schnitt scharf in mein Inneres, und das schmerzte mich. Seitdem rief ich meine Frau bei ihrem Vornamen Halima und sie mich Latif. Das ergab sich unvermeidlich, ohne Absprache verwendeten wir unsere Vornamen und wurden auf einmal wieder fremde Menschen, die sich erst langsam kennenlernen mussten. 

Letztlich ist der polyphone Roman selbst ein Brief an die alte Heimat das Autors, den er mit seinen deutschsprachigen Leser*innen teilt. In seiner Widmung schreibt er: „Fast ein Jahrzehnt, von den letzten Jahren des 20. bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts, hast Du kaum Briefe von mir erhalten, und ich ebenso wenige von Dir. Für Dich und für die anderen wartende, traurigen und dennoch hoffnungsvollen Seelen ist dieses Buch.“

Leben unter Sanktionen

Die Auberginenrepublik, das ist der Irak in der Phase des totalen Wirtschaftsembargos 1991-2003, als die normale Bevölkerung Iraks kaum mehr etwas zu essen hatte, außer eben den Auberginen, aus denen die Mütter in Abbas Khiders mesopotamischen Geschichten immer neue Gerichte kreieren. So auch in seinem neusten Roman Palast der Miserablen. Fast ließen sich die hier besprochenen Erzählungen als „Mesopotamische Trilogie“ zusammenfassen. Dem steht nur die stilistische Andersartigkeit des im Frühjahr erschienen Neulings entgegen. Das Lachen ist Khider vergangen, so scheint es. Das mag düster klingen, es muss für seine Leser*innen nicht schlecht sein. In seinem bisher umfangreichsten Roman erzählt er aus der Perspektive des Jungen Shams Hussein, wie es war, in einem Armenviertel zur Zeit der Sanktionen heranzuwachsen. Eingeleitet und immer wieder unterbrochen wird die chronologische Narration Shams‘ Jugend durch kurze Zustandsbeschreibungen aus dem Gefängnis.

Die chronologische Erzählung beginnt noch in der südirakischen Heimat der Familie Hussein, in dem Dorf Ahlan Dschahannam, „Herzliche Hölle“. Dieser Name, der aus den zwei Namen besteht, die jeweils die osmanischen und englischen Herrscher dem Ort gaben, entwickelt Khider als einen grotesken Running Gag, der die historischen Spuren der Kolonialherren versinnbildlicht. Shams‘ trotz bescheidener Lebensumstände und geographisch nahem Iran-Irak-Krieg harmonische Kindheit endet jäh, als die Repression des Baath-Regimes den schiitischen Aufstand nach dem zweiten Golfkrieg 1991 brutal niederschlägt. Mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester Qamer, die die heimliche zweite Hauptfigur des Romans ist, zieht er nach Bagdad, oder besser gesagt – in einen von Bagdads Vorstadt-Slums.

Und jenes „Blechviertel“ beschreibt Khider bildstark und vielschichtig. Es ist Moloch und Armut, Zuhause und Lebensgrundlage zugleich. Es ringt seinen Bewohner*innen unendlich viel ab, aber es gibt auch zurück. Das Geschwisterpaar Shams und Qamer (die Namen bedeuten Sonne und Mond) finden sich zurecht und müssen neben der Schule zum Unterhalt der Familie beitragen. Der starken Qamer fällt dies leichter als dem passiven und zurückhaltenden Erzähler. Auch in der Beziehung der Eltern verschiebt Khider die Geschlechterrollen: die zunächst irrational scheinende Frömmigkeit der Mutter wird, nachdem der Vater nicht mehr körperlich arbeiten kann, zur Haupteinnahmequelle der Familie. Die Mutter (die der Vater bei ihrem Vornamen Zahra, und nicht Om Shams nennt) wird zu einer religiösen Mittlerin, die es sie in der schiitischen Volksreligiosität häufig gibt. Sie organisiert Reisen zu Schreinen und gibt Ratschläge in Liebesdingen.

Die Erzählung des Blechviertels hält vor allem die unmenschliche Armut der Embargo-Jahre auf beeindruckende Weise fest. Abbas Khiders dritte mesopotamische Geschichte beschreibt weit mehr als „nur“ eine Dekade unter Saddam Hussein’s Regime. Er beschreibt die konkreten Auswirkungen eines Machtgefälles zwischen dem Westen und Westasien, das sich bis heute fortsetzt. Er beschreibt die Lebensumstände der Leidtragenden von neokolonialen Macht- und Wirtschaftsinteressen, die bis heute die Außenpolitik der Vereinigten Staaten und Europas bestimmen. Vielleicht wird in einigen Jahren eine deutsch-iranische Autor*in eine Erzählung vorlegen, die die konkreten Auswirkungen der auch von Deutschland und Europa eingehaltenen US-Sanktionen auf die iranische Bevölkerung schildern wird. Vielleicht bleiben wir auch mit Abbas Khiders mesopotamischer Erzählung zurück und somit gut in der Lage, unsere Fantasie im sogenannten Globalen Süden schweifen zu lassen. Denn auch wenn Khider natürlich für ein deutschsprachiges Publikum schreibt – er tut es ohne einen „das Andere“ erklärenden Blick von außen. Khiders mesopotamische Realitäten sind so selbstverständlich und authentisch unauthentisch, wie Literatur es eben sein kann.

Eine starke Figur und eine Metapher für diese Realitäten hat Khider in Qamer geschaffen. Die kluge und schöne große Schwester arbeitet sich hoch und kommt durch eine günstige Eheschließung aus dem Blechviertel heraus. Sie wird zur Haupternährerin der Familie. Wie so oft in dem Roman scheint es aufwärts zu gehen für die Husseins. Doch ebenso oft lässt der Fall nicht lange auf sich warten. Qamer verkörpert auch die irakische Elite, die aus Eigennutz die Augen vor dem Offensichtlichen verschließt. Ihr Absturz ist unvermeidlich.

Realität der Miserablen

Eine Insel in seinem Alltag ist für Shams ein geheimer Literaturzirkel, in den er von einem Verwandten eingeführt wird. Die Wohnung des Gastgebers ist der „Palast der Miserablen“, in dem sich eine Runde aus älteren Intellektuellen und einem Schwesterpaar aus gutem Haus trifft. Shams ist das einzige Mitglied aus dem Blechviertel. Und obwohl er die literarischen und politischen Diskussionen sehr genießt, und lernt seinen intellektuellen Horizont weit über den des Blechviertels auszudehnen, wird er doch nie als gleichwertiges Mitglied des Zirkels wahrgenommen. In ihrer Kritik für Kulturzeit sieht Insa Wilke hier einen möglichen metaphorischen Fingerzeig Khiders auf den deutschen Literaturbetrieb, der ihn als Schriftsteller aus dem Irak zwar wie ein Maskottchen empfängt, ihm (bis her) aber die Anerkennung als gleichberechtigter Autor, den Zugang zu den großen Literaturpreisen nämlich, verwehrt.

Eine direktere Ansprache an sein deutsches Publikum verpackt der Autor in eine Diskussion im Palast der Miserablen, in der ein erstes Mitglied verkündet, dass er ins Exil gehen werde. Ein anderer bittet ihn, die Zustände im Irak aufzuschreiben, damit die Welt erfahre, was wirklich in ihrem Land vor sich ginge. Darauf antwortet der künftige Exilant: „Glaubst du ernsthaft, dass sich irgendwer da draußen für unsere Probleme interessiert? Wir sind doch nur eine schnelle Zeitungsschlagzeile oder eine Kurzmeldung in den Nachrichten wert. […] Wieso sollte unsere Geschichte irgendwen jucken, der gerade gemütlich im warmen Kaffeehaus in Wien oder Zürich sitzt und seine fette Torte mit einem Kaffee runterspült? Der schlägt die Zeitung zu und hat uns vergessen.“ 

Khiders Roman ist ein Plädoyer dafür, den Irak und seine Geschichten nicht zu vergessen. Auch das Ende seiner Gefängniserzählung, dessen Texte im Verlauf des Buches mit dem sich verschlimmerten Gesundheitszustand von Shams immer kürzer werden, verdeutlicht die politischen Verstrickungen, dessen Opfer normale Menschen wie Shams sind. Er ist den Herrschenden beider Seiten ausgeliefert. Sprachlich ist „Palast der Miserablen“ Khiders ausgereiftester Roman, seine stilistische Melange ist einer – überwiegenden – Ernsthaftigkeit gewichen. Seine Sprache hat an Gewicht gewonnen.

Abbas Khiders mesopotamische Geschichten sind ein Glücksfall für die deutsche Gegenwartsliteratur. In Palast der Miserablen erzählt er eindringlicher als je zuvor, was Armut und Diktatur für normale Menschen bedeutet. Er erzählt sowohl von der Wirkmacht der Literatur, als auch deren Grenzen. Es wäre zu wünschen, dass auch Filmschaffende sich seines Werks annehmen. Seine Romane halten genug spannenden Stoff für Adaptionen bereit. Irakische Realitäten.

Bleibt anzumerken, dass die beispielhafte Laufbahn von Abbas Khider kein Einzelfall in der deutschsprachigen Literaturszene bleiben darf. Auch einschließlich postmigrantischer Perspektiven, wie der von Olivia Wenzel, Ronya Othmann, Deniz Utlu oder Nava Ebrahimi, gibt es keine gleichberechtigte Präsenz, keinen fairen Zugang für Autor*innen aus Asien, Afrika, Lateinamerika und deren Diaspora auf dem deutschen Buchmarkt. Auf diese Weise wird eine künstliche Schieflage stabilisiert, die die einigen wenigen Schwarzen und Autor*innen of Color dazu verpflichtet, zu Sprecher*innen ihrer Herkunftskulturen zu werden. Wir Leser*innen mögen es uns nicht wünschen, aber wer weiß, vielleicht möchte Abbas Khider eines Tages etwas ganz anderes schreiben.

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