von Saskia Trebing
Das wohl vergiftetste Kompliment, das man ihm machen kann, greift Jonas Hassen Khemiri gleich selbst auf. Er sei so etwas wie ein schwedischer Bill Cosby, lässt er eine Theaterregisseurin in seinem neuesten Roman „Die Schwestern“ über seine Arbeit sagen. Er habe seine weißen Landsleuten dazu gebracht, Einwanderer zu mögen. An dieser Aussage ist natürlich einiges problematisch – sogar dann, wenn man außer Acht lässt, dass der Schwarze Comedian Cosby, der den US-Amerikanern einst als liebenswerter Familienvater aus dem Fernsehen ans Herz wuchs, inzwischen wegen sexueller Übergriffe verurteilt ist.
Und es wird ja noch komplizierter, wenn so etwas in einem Roman gesagt wird. Denn die Autorenfigur Jonas in „Die Schwestern“, auf die sich das Zitat bezieht, ist ja nun mal nicht mit dem realen Schriftsteller Khemiri zu verwechseln – auch wenn die Parallelen zu real existierenden Personen eklatant und ganz sicher nicht rein zufällig sind.
Es gibt also ziemlich viele Ebenen, zwischen denen man balancieren muss, wenn man über Jonas Hassen Khemiri und sein Werk schreiben will. Der 46-Jährige ist in Schweden ein Star (soweit das in der Literatur eben möglich ist), wohnt seit ein paar Jahren in New York und posierte kürzlich offensiv cosmopolit für ein großes Porträt in der „New York Times“ auf einem Zebrastreifen in Manhattan. Mitten im Menschengewusel geht sein Blick versunken in die Ferne.
„Lesen muss gefährlich sein“
Khemiri ist diese Art von Denker-Autor, die genauso gut sprechen wie schreiben können, die im melierten Sakko in Fernsehstudios und auf Theaterbühnen mit anderen Star-Schriftstellern wie Daniel Kehlmann parlieren und scheinbar mühelos charmanteste Anekdoten aus ihrem Alltag mit Weisheiten über das Leben und das Schreiben anreichern („Lesen muss gefährlich sein“ – „Ich hatte eine klare Vorstellung von meinen Hauptfiguren, aber sie haben sich liebevoll geweigert, dieser zu entsprechen“ – „Flüche sind eigentlich nichts weiter als die Geschichten, die wir uns selbst erzählen“). Es ist leicht, diese Inszenierung ein bisschen zu poliert zu finden, zu sendungsbewusst, zu konsumierbar. Zumal es in seinen Romanen immer wieder um das prekäre Aufwachsen und die street credibility seines Alter Ego Jonas geht.
Aber dann fährt man zum dritten Mal innerhalb einer Woche mit der U-Bahn an seiner Zielstation vorbei, weil man so tief in „Die Schwestern“ versunken war. Man liest auf der Rolltreppe weiter und wird schief angeschaut, weil im Gehen aufs Handy Starren und Leute Anrempeln völlig normal ist, aber Bücher im öffentlichen Raum kaum noch vorkommen. Es fühlt sich fast unmöglich an, diesen Ziegelstein von einem Hardcover, der einem die Arme einschlafen lässt, aus der Hand zu legen. Und dass man nach fast 750 Seiten das Gefühl hat, noch nicht genug Zeit mit den Romanfiguren verbracht zu haben, kommt auch nicht alle Tage vor.
Eine Zusammenfassung der Handlung ist gar nicht so einfach, weil man dabei schnell bei Worthülsen wie „Familienroman“ oder den offenbar obligatorischen Jonathan-Franzen-Vergleichen landet. Tatsächlich geht es um drei Schwestern, Ina, Evelyn und Anastasia Mikkola, denen Khemiri über einen Zeitraum von 35 Jahren durch Stockholm, Tunesien, Berlin und New York folgt. Doch dieser relativ klassische, handwerklich perfekt erzählte Handlungsstrang ist nur die Hälfte der Wahrheit. Denn die Lebensgeschichte der wortgewaltigen „Heldinnen“ (nicht immer wirkt diese Bezeichnung ganz passend) wird immer wieder von einer weiteren Stimme unterbrochen. Diese gibt sich als Jonas zu erkennen, ähnelt in wesentlichen Merkmalen dem realen Autor Khemiri und berichtet in Ich-Form von sich und seinem Aufwachsen mit den Mikkola-Schwestern, die mal direkt, mal geisterhaft abstrakt mit seiner Biografie zu tun haben.
Viele Aspekte ihrer Leben spiegeln sich ineinander. Jonas‘ Vater kommt aus Tunesien, bei den Schwestern ist die Mutter aus dem nordafrikanischen Land nach Skandinavien ausgewandert. In Schweden, dem Ort, an dem alle diese vier Kinder geboren sind, ist ihre Existenz niemals selbstverständlich, muss ständig erklärt und verteidigt werden. Jede dieser Figuren hat ihre eigene Strategie, mit dem Gefühl des Nicht-Dazugehörens klarzukommen. Ina hat ihr Leben bis ins kleinste Detail unter Kontrolle, bezahlt dafür aber mit dem Gefühl der Einsamkeit. Evelyn kultiviert ihre magnetische Wirkung auf andere Menschen, erlaubt sich aber keine eigenen Träume. Anastasia liebäugelt mit dem exzessiven Leben einer Künstlerin, fühlt aber keinen echten kreativen Drang. Und Jonas ist hin- und hergerissen zwischen der Ambition eines „erfolgreichen Lebens“, wie es sein Vater von ihm erwartet und dem Ideal einer vom Hip-Hop befeuerten Outsider-Existenz, in der sein Nicht-Ganz-Schwedischsein sein größter Trumpf ist.
Khemiri stellt seinen Leser:innen eine Falle, denn zuerst liegt es nahe, die Schwestern als klassisch erfundene Romanfiguren und den Ich-Erzähler als Autofiktion zu akzeptieren, also eine literarisierte Form des Autorenlebens. Jonas Hassen Khemiri spielt selbst mit dieser Deutung und behauptet mehrmals, sein Leben in Literatur zu verwandeln (im Schwedischen benutzt er dafür die einprägsame Wendung „från liv till skriv“). Doch wer seine Bücher kennt, weiß, dass auf diese Kategorien kein Verlass ist. Auch in „Montecore“ von 2006 und „Die Vaterklausel“ von 2018 hat bereits ein Protagonist namens Jonas seine Familiengeschichte erzählt. Der tunesische Vater, der ums Ankommen in Schweden kämpft, der seine Familie schließlich verlässt, verschwindet und wieder auftaucht; der wütende Sohn, der die Stimme dieses Vaters im Kopf umherträgt und nicht weiß, ob er sich assimilieren oder auf die Barrikaden gehen soll. Aber in jeder Version dieser Jonas-Geschichte verändert sie sich. War der Vater nicht Fotograf, trafen sich seine Eltern nicht an einem tunesischen Strand, waren seine Brüder nicht Zwillinge? Seit wann gibt es eine ältere Halbschwester? War der Teenage-Jonas nicht Graffiti-Sprayer statt Basketballer?
Wer braucht wann welche Geschichte?
In Khemiris literarischem Universum bleibt keine Erzählung unwidersprochen. Ereignisse werden immer wieder aus verschiedenen Perspektiven erzählt, die sich fundamental unterscheiden. Nie geht es darum, wer Recht hat – sondern vielmehr darum, wer wann welche Geschichte braucht, um sich selbst nahe zu kommen. Dann ist es vielleicht egal, ob der Ur-Großvater der Mikkola-Schwestern wirklich am Rockefeller Center mitgebaut hat und auf dem weltberühmten Foto auf dem schwebenden Stahlbalken saß. Oder ob ihnen ihre Mutter wirklich einen Familien-Fluch vererbt hat. Solange die Mädchen/jungen/mittelalten Frauen an diesen bösen Zauber glauben, ist er real und hat Konsequenzen für ihr Leben.
Khemiri wird gern dem Genre der Autofiktion zugerechnet, in dem skandinavische Männer (siehe Karl Ove Knausgård, Tomas Espedal oder Bjørn Rasmussen) besonderen Ehrgeiz zu entwickeln scheinen. Aber streng genommen sind seine Bücher eine klare Absage an jede Form von Bekenntnisliteratur, vielleicht sogar eine subtile Parodie darauf. Wer vom Pathos, der maskulinen Selbstgerechtigkeit und dem Kampf um Deutungshoheit genervt ist, den die Autofiktion oft mit sich bringt, sollte unbedingt Khemiri lesen. Denn wie eine Lebensgeschichte wann auf wen wirkt, ist immer Geschmacks- und Verhandlungssache. Das führt auch „Die Schwestern“ wieder virtuos vor. Wenn ein offenbar depressiver Jonas von der „Hyäne“ in seinem Kopf und die Dunkelheit um ihn herum schreibt, könnte das anrührende Prosa sein, die Stereotypen von Männlichkeit hinterfragt. Allerdings nicht, wenn dieser Text ungefragt bei einer überraschten Evelyn im E-Mail-Postfach landet, die sich nur dunkel an diesen Jonas aus ihrer Jugend erinnern kann, der sie da gerade eine Seelenverwandte nennt und den sie zunächst für einen creep hält.
Jede Helden- und Heldinnenerzählung wird in diesem Roman irgendwann wieder einkassiert, und gerade das macht ihn so unprätentiös und ziemlich lustig. In einer zentralen Szene begibt sich Anastasia in den Keller ihrer Mutter, um ihren tunesischen Pass für eine Reise „zu ihren Wurzeln“ zu suchen. Dort findet sich allerdings auch ein ganzer Karton mit Beschwerdebriefen. Die Schwestern waren immer davon überzeugt gewesen, dass ihre Mutter eine äußerst erfolgreiche Verkäuferin importierter, handgeknüpfter Teppiche war, doch nun stößt eine der Töchter auf die geballte Wut der Kunden, die vergeblich auf den Herkunftsnachweis ihrer erstandenen Schmuckstücke warten und undiplomatisch „China-Schund“ wittern. Diese Konstellation lässt sich auch als auf Khemiris Erzähltaktik übertragen. Die Ware, die er anbietet, ist begehrenswert und emotional aufgeladen, ein „Echtheitszertifikat“ darf man aber – zum Glück – niemals erwarten.
Und so ist vielleicht auch die Episode mit dem „schwedischen Bill Cosby“ als Köder zu verstehen, der implizit den Vorwurf enthält, Khemiri würde das Thema Rassismus leicht verdaulich und mit comic relief servieren; wie nebenbei den Typus des „liebenswürdigen Einwanderers“ kultivieren, der den Erwartungen der Belletristik genügt.
Legende von der mittelberühmten Brücke
Und tatsächlich verweigert sich „Die Schwestern“ einer Deutung als Gesellschaftsanalyse. Natürlich gibt es im Schweden der 1990er- und 2000er-Jahre auch offen marschierende Neonazis mit rasiertem Schädel, aber mit denen werden die Charaktere irgendwie fertig. Vielmehr geht es darum, wie Jonas, die Schwestern und ihre nichtschwedischen Elternteile sich selbst eine Erzählung schaffen, mit der sie überleben können; in einem Land, das sich selbst für weltoffen hält, das hinter der lächelnden Sozialstaatsfassade aber sehr viel Wert auf die feinen Unterschiede legt. So werden sie zu Figuren, die nicht durch ihre Herkunft erklärt werden können, und auch Khemiri entzieht sich den Erwartungen an einen postmigrantischen Autor, in dem er alle Milieus, die er beschreibt, mit dem gleichen sezierenden Blick durchstreift, der einfühlsam, aber immer auch leicht ironisch ist. In der Literatur ist in diesem Fall eine Bewegungsfreiheit und Vieldeutigkeit möglich, die vielen Menschen in der Realität verweigert wird.
In Berlin bei der Lesung mit Daniel Kehlmann erzählte Jonas Hassen Khemiri kürzlich, dass auch seine reale Familie diese Geschichten hat, die sie am Leben erhalten. So wie die, dass sein Großvater mütterlicherseits eine mittelberühmte Brücke in Stockholm gebaut hat. Inzwischen habe er ernsthafte Zweifel an dieser Legende, trotzdem habe er sie seinen Kindern weitergegeben. Und neulich, als er wieder mal ein Erlebnis hatte, dass ihn an seine Nicht-Zugehörigkeit in der schwedischen Hauptstadt erinnerte, habe er seine Hand auf diese Brücke gelegt, um sich zu vergewissern, dass auch ihm dieser Ort zusteht.
Das Publikum seufzte ergriffen, in diesem Moment, auf dieser Bühne wirkte die Anekdote ziemlich funktional, beinahe kitschverdächtig. Aber wer weiß, vielleicht klingt die Geschichte am nächsten Tag schon wieder ganz anders, vielleicht widersprechen sich die Versionen fundamental, vielleicht macht sich jemand lustig darüber. Wenn man eins von Ina, Evelyn und Anastasie in „Die Schwestern“ lernen kann, dann das: never trust a single story.
Beitragsbild von Arthur Hutterer
