von Mia Raben
Ich bin ein von innen verschmutztes, kluges, auffällig musikalisches, ordentlich frisiertes Mädchen mit Kragen. Ich bin irgendwie anders, aber sympathisch, denn ich bin anpassungsfähig. Ich lese den Erwachsenen ihre Wünsche aus den Gedanken ab, bevor sie sie selbst formulieren können. Zum Beispiel: Zeige dich lässig und unbeeindruckt vom Reichtum deiner Freundinnen und Freunde. Tu so, als sei es ganz normal, vier Mercedesse vor dem Haus stehen zu haben, alle mit fast gleichem Kennzeichen, immer Hamburg und die Initialen meiner Freundin. HH-DH. Tu so, als gehörtest du dazu. Als hättet ihr in der Familie dieselben Rituale, wie alle anderen auch. Lindenstraße gucken. Das Auto waschen. Sonntagsfrühstück. Mahlzeiten immer zur selben Zeit. „Wir essen immer um 18.30 Uhr”, höre ich mich sagen. Das ist nicht wahr. Wir essen, wann es uns in den Kram passt. Manchmal erst um neun. Damit das nicht rauskommt, und auch andere Dinge nicht, die bei uns „komisch“ oder anders sind, übernachte ich lieber bei meiner Freundin, anstatt sie bei mir. Dagegen hat niemand etwas einzuwenden. Erst zwei Jahrzehnte später werde ich erleichtert feststellen, dass meine Kinder gern andere Kinder zu uns zum Übernachten einladen.
Schamhafte Wahrheiten. Wie sich ihnen nähern?
Witold Gombrowicz, als Sohn eines polnischen Landadligen im Jahr 1904 geboren, homosexuell, Jahrzehnte im argentinischen Exil lebend, besaß ein scharfes Bewusstsein für den Deformierungsakt, den Menschen miteinander anstellen. Sein Werk ist durchzogen von der Satire auf das Herrentum. Auf die Überlegenheit. Die – nur gespielte – Reife. Seine Haltung ist ein nützliches Werkzeug für das Nachdenken über eine deutsch-polnische Herkunft. Mich interessiert dieser Deformierungsakt, weil ich ihn von zwei Seiten in mir trage. Die Deutschen, die die Polen deformieren und die Polen, die die Deutschen deformieren.
Es ist wie eine innere Asymmetrie, die mich immer wieder aus dem Gleichgewicht bringt. Dann kippe ich nach rechts von der Oder oder nach links von der Oder, je nach dem, wer wen wann wie deformiert, und mit wem ich mich jetzt solidarisieren will. Mit jenen, die vom Feld kommen, den Polacy, von pola, das Feld. Oder mit jenen, die nicht sprechen, den Niemcy, nie mowiący?
Ich möchte ein paar Deformierungen aufzählen. In einem Versuch, ein „tätiges Wesen“ im Sinne des Psychologen und Philosophen Erich Fromm zu werden, ein Wesen, „dessen innere Eigenschaften heftig reagieren, wenn sie durch ungünstige gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen unter Druck gesetzt werden.“[1]
Also, Deformierungen, wo seid Ihr? Ich werde eine Liste anlegen, damit der Text nicht uferlos wird, uferlos wie der Oderfluss, der die Lande und Länder überschwemmt, manchmal, wenn einfach zu viel Wasser kommt, zu viel Wasser für das Bett, in dem der Fluss normalerweise liegt, sich schmiegt. Übrigens ist es ihr, der geduldig strömenden, liegenden, sich schmiegenden Oder ganz egal, wen sie überschwemmt, ob die vom Feld kommen, oder die Nichtsprechenden. Flüsse machen keinen Unterschied zwischen Deutschen und Polen.
Nicht vollständige Liste der Deformierungen:
- Mein deutscher Großvater, der im Herbst 1939 mit der Wehrmacht Polen überfallen hatte, legte meiner Mutter auf der Terrasse seiner Villa sanft die Hand auf den Unterarm und sagte: „Danuta, du bist ein gutes Tier.”
- Ich war elf Jahre alt, als die Mutter meiner Freundin verkündete: „Mia, ich glaube, wir müssen dir mal den Hals schrubben.“ Sie nahm eine Schüssel mit warmem Wasser, ein Stück Seife und einen Waschlappen und schrubbte mir den Hals. Als ich das zuhause meiner Mutter erzählte, wurde sie sehr wütend. Ich erschrak. War mir denn Unrecht widerfahren?
- Sprüche in der Jugend: „Du bist echt ’ne heiße Polin!” / „Na, Polacken-Mia?” / Polenwitze: Heute gestohlen, morgen in Polen / Was ist der polnische Triathlon? Zu Fuß zum Schwimmbad und mit dem Fahrrad zurück etc.
- Polen, die Witze über Deutsche erzählen. Wie lächerlich die Deutschen, die die Polen vernichten wollen, in ihren SS-Uniformen herumwüten. „Ausweis! Ausweis!” Brüllendes Gelächter. / Mein Onkel Konrad aus Warschau, dessen Lieblingswitz über einen deutschen Opa, der seinen zwei Enkelsöhnen von Polen vorschwärmt. „Der Wodka! Die Frauen! Alles umsonst! Und jederzeit!” Die Jungs fahren hin und kommen enttäuscht zurück. „Opa, gar nichts war umsonst, Frauen und Wodka waren teuer und der Puff hat um Eins dicht gemacht.” Da fragt Opa, mit welchem Reiseunternehmen sie denn gefahren seien. „Na, mit Neckermann”, sagen sie. „Ach, ruft Opa, das ist das falsche. Meins hieß Wehrmacht!”
- Auf beiden Seiten frauenfeindliche, sexistische Ressentiments: Polnische Frauen sind hübsch, weiblich, weich, fürsorglich, heiß und erotisch. Deutsche Frauen sind hässlich, männlich, hart, streng, egoistisch und kalt. Die polnischen Männer, die deswegen herablassend ihr „Mitleid“ gegenüber den deutschen Männern zum Ausdruck bringen.
- Sich Lustigmachen über die steifen, verklemmten Deutschen, in denen für immer „ein kleiner Hitler“ stecken wird. Das sich Suhlen der Polen im moralischen Sieg.
- Meine als Mädchen und Jugendliche subjektiv empfundene körperliche Deformierung, leichte Form der Dysmorphophobie (über pubertäre Phase weit hinaus) in Bezug auf bestimmte „slawische Merkmale“, wie Nase, Gesichtszüge, Umrisse des Körpers, die „anders“ sind, als bei „deutschen Körpern“, also irgendwie deformiert, entstellt, falsch.
- Deformierung des Deutschen als Mensch. Die Unfähigkeit meiner polnischen Familie, Freund*innen, Bekannten, den Zweiten Weltkrieg zu „begreifen“, etwa wenn es um die Brutalität der Nazis gegen Kinder ging. Jak można? Wie kann man nur? Diese Frage wurde (mir) immer wieder gestellt. Ale jak można? Aber wie kann man nur? Die Stille danach. Und der Blick. Ein Blick ins Nichts. Die Fassungslosigkeit. All das ließ mich daran zweifeln, dass Deutsche (also ich) genauso Menschen sind, wie Polen (auch ich). Etwas musste anders an ihnen, den Deutschen, sein, wenn sie DAZU fähig waren, oder nicht? Und ich trug dieses ETWAS in mir. Wurde es „ausgeglichen“ durch mein Polnischsein? So als wären die Polen „die Guten“ und die Deutschen „die Bösen“?
- Ich selbst, auf der Suche nach „dem kleinen Hitler“ in mir, bis heute. Bei kleinstem Verdacht auf „inneren Hitler“, sofort Scham, Rückzug. Wut auf mein Deutschsein. Warum konnte ich nicht einfach Polin sein? Meine nostalgischen Träumereien von pseudoadliger Vergangenheit auf Gutshöfen, Überhöhung der Stärke durch Intelligenz und Witz, durch antideutschen, frankophilen Kosmopolitismus, alles immer in Auflehnung gegen den „kleinen Hitler“ in mir. Polen, das Freiheitsvolk. Ich, die Freiheitsliebende, die immer ihren eigenen Weg geht. Mein Unwille anzuerkennen, dass viele Polen Antisemiten waren / sind, und Nationalisten.
All dieser Deformierungen möchte ich Herrin werden. In Form von Literatur.
Gombrowicz rät: „Je künstlicher man ist, desto mehr kann man aufrichtig sein, die Künstlichkeit gestattet dem Künstler, sich den schamhaften Wahrheiten zu nähern.”
Aber wer bin ich, wenn ich nicht künstlich bin? Das muss vor dem Künstlichwerden stehen. Das Nichtkünstliche. Das Natürliche. Aber was ist natürlich an einer deutsch-polnischen Identität? Ich, Künstlerin, Schriftstellerin, unreife Herrin meiner Nichtkünstlichkeit. Wer bin ich, erlernt hilfloses Wesen, das sofort verstummt und erstarrt, sobald einer dieser deutschen Verfassungspatrioten, einer dieser Dipl-Ing-Profs, mir gelehrig etwas von Polens Homophobie, seiner undemokratischen dilettantischen, postkommunistischen, autoritären, politischen Kultur vorrechnet…
Nein, die Deformierung soll mich nicht überkommen!
Sie soll nichts mit mir oder in mir anstellen. Stattdessen will ich etwas mit ihr anstellen. Mit meinem Handwerk. Vielleicht sogar mit meiner Kunst. Kann ich die Deformierung mit Hilfe der Sprache überwinden? Kann ich sie vielleicht zu etwas hinauftreiben, etwas, das den Schrecken in eine erhabene Form verwandelt? Um künstlich werden zu können, fordere ich meine Natürlichkeit zurück. Kann es eine Versöhnung mit der Geschichte, mit meiner Geschichte geben, wenn ich das schaffe? Vielleicht.
Am 7. Dezember 1970 fiel der damalige Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau vor dem Denkmal der Helden des Ghettos auf die Knie. Auf den Tag genau sieben Jahre nach diesem historischen „Kniefall“, der eine Entspannung in der westdeutschen Ostpolitik einleitete, kam ich auf die Welt. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, als ich eine Verbindung zwischen Brandts Kniefall und meinem Geburtstag zog, aber die Verbindung, so zufällig sie auch sein mochte, erschien mir wie eine Nettigkeit für meine kleine, persönliche Lebensgeschichte, denn Brandt war ja im Geiste der Versöhnung nach Warschau gereist, und Versöhnung erschien mir der einzige Ausweg aus dem Grusel-Labyrinth, das jede deutsch-polnische Herkunft – neben all den wunderbaren Aspekten, die sie haben mag – immer auch bedeutet.
Der junge Arzt, der einmal mein Vater werden sollte, sah den Kniefall im Fernsehen und beschloss, für ein paar Monate in einem polnischen Krankenhaus zu arbeiten. Mitte Zwanzig war er, als er nach Łódź ging und dort auf einer Studentenparty die polnische, der deutschen Sprache schon mächtige Musikerin kennenlernte, die einmal meine Mutter werden sollte. Sie verliebten sich, trafen sich einige Male in Ostberlin, wo eine Bekannte meiner Mutter ihnen für 23 Stunden ihre Wohnung überließ, während mein Vater sich am Checkpoint Charlie ein Besuchervisum ausstellen ließ. Irgendwann wurde das zu umständlich, und sie heirateten.
Mein Vater weinte, als sie sich trennten. Ich denke, meine Mutter hat sich bei ihm, der als junger Mann ein von der 68er Bewegung geprägter Suchender war, nicht sicher, nicht gut aufgehoben gefühlt. Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk schreibt in seinem Buch Dojczland: „Ich versuche, mir einen weinenden Deutschen vorzustellen und da kann ich nur kichern. Nicht einmal eine weinende Deutsche kann ich mir vorstellen. Höchstens eine Immigrantin mit deutschem Paß. Ja, die Welt sähe ein bißchen besser aus, wenn man sich einen weinenden Deutschen vorstellen könnte.”
Galgenhumor lindert den Schmerz. In einer Geschichte aus dem Leben von Toni Morrison[2] fand ich diese Haltung wieder. Das Böse, das in der Welt ist, zum Eigenen machen, sich darüber stellen, um ihm den Schmerz zu nehmen. Diesen Schmerz, den das Böse dir hätte zufügen können. Den Schmerz verwandeln, durch Humor. Als Zweijährige lebte Toni Morrsion mit ihren Eltern und Geschwistern in einem Haus in Lorain, Ohio. Sie waren die Miete schuldig. Während sie schliefen, zündete der Vermieter ihr Haus an. Um der Brutalität und der Grausamkeit dieser Tat zu entkommen, lachte die Familie den Vermieter aus.[3]
Sich erheben. Sich über etwas stellen. Das ist ein Weg, dem Grusel-Labyrinth zu entkommen.
Für mich als Hamburger Deern aus gutbürgerlichem Hause war das Polnische immer das Fremde in mir, das „Bewusstsein meiner Differenz“, wie Julia Kristeva[4] es ausdrückt. Als ich mit dem Schreiben begann, zuerst als Journalistin, und irgendwann auch literarisch, begann das Fremde in mir, immer mehr Aufmerksamkeit einzufordern, wie ein hungriges Kind, das etwas essen will, und zwar jetzt.
Es wollte, dass ich nicht vergesse, wie meine Mutter vor meiner Schule stand und auf mich wartete, die Füße eng aneinander gepresst, wie ein Baumstamm. Sie hatte rabenschwarzes Haar. Sie sah tadellos aus. Elegant. Sophisticated. Aber warum war sie nicht blond, warum war sie nicht so locker wie die anderen Mütter, die da miteinander quasselten und schnatterten, sich Verabredungen zuriefen, während sie die Tennisschläger zu ihren Cabrios trugen: „Bis nachher im Club an der Alster!“
Meine Mutter quasselte nicht. Sie schnatterte auch nicht. Gequassel und Geschnatter waren ihr schon immer zuwider. Nichts kann sie weniger gut aushalten als Menschen, die reden um des Redens willen. Anstatt zu quasseln, sprach sie wenig in der deutschsprachigen Öffentlichkeit, und manchmal war ich darüber auch ganz froh, denn wenn sie etwas gesagt hätte, hätte man Es gehört. Das Fremde. Das Schmutzige. Ihren polnischen Akzent. ES sollte seinen Weg nicht nach draußen finden. Nicht an die Öffentlichkeit, wo ich meine Existenz rein zu halten versuchte. Als ich meiner Mutter diesen Text zu lesen gab, war sie irritiert. „So, wie du mich da beschreibst, so habe ich mich nie gefühlt”, sagte sie. „Ich war nie ein Opfer! Ich wollte mit diesen blöden anderen Müttern nie etwas zu tun haben. Mia, ich hatte immer meine eigenen Freunde. Auch deutsche Freunde. Ich musste mich da nicht anbiedern.” Ich sagte ihr, dass ich es schön gefunden hätte, wenn sie sich in die Schulgemeinschaft eingebracht hätte, und wenn es nur ein kurzer Plausch mit einer anderen Mutter vor der Schule gewesen wäre. Sie antwortete: „Aber was denn für eine Gemeinschaft! Mit Gemeinschaft wollte ich wirklich nichts mehr am Hut haben, als ich endlich aus Polen raus war.” So erfuhr ich, dass allein schon der Begriff „Gemeinschaft“ durch den aufgezwungenen Kommunismus der Volksrepublik für sie schon abstoßend klang.
Und da erinnerte ich mich, wie sehr ich es als Kind geliebt hatte, wenn meine Mutter ihre alten Freund*innen empfing, an dem großen Tisch in der Wohnung meines Großvaters in Łódź. Während sie sich über die Apparatschiks lustig machten, stundenlang, zwischen Rauchschwaden, Keksen und Tee mit Zitrone, abends dann mit Sekt und Wein, den wir im Kofferraum aus Deutschland mitgebracht hatten, feierten die Pol*innen ihren Individualismus. Der polnische Individualismus ist seit Jahrhunderten die vielleicht wichtigste Strategie, um sich gegen irgendeine aufgezwungene Form von Gemeinschaft aufzulehnen.
Wie soll man DAS als Kind verstehen?
In der Hoffnung etwas verstanden zu haben sagte ich einmal zu meiner Mutter: „Russisch und Polnisch sind ja verwandte slawische Sprachen und die Kulturen sind sich ja auch irgendwie ähnlich.“ Das machte sie wütend. Und wieder hatte ich nichts begriffen. Sie hatte mir diese Dinge nie erklärt, weil es für sie war wie atmen, das weiß doch jeder, diese Dinge saugt man mit der Muttermilch auf, solche Dinge hat man zu wissen. So, wie man weiß, dass die Erde rund ist. Also blieb das Polnische in mir mysteriös, unnatürlich, fremd.
Dieses Fremde sollte nicht geboren werden, es sollte verborgen bleiben, in der „geheimen Gruft“ (Kristeva), in der das, was meine Muttersprache hätte sein können, zuhause ist. Später musste ich meine nie gelernte Muttersprache mit aller Kraft wiederbeleben oder überhaupt erst beleben, zur Welt bringen, zu meiner Welt. Denn als wir klein waren, dachte meine Mutter, es sei besser, Deutsch mit uns sprechen. So wurde mein Polnischsein unhörbar, unsichtbar. Es ist tausenden Pol*innen in Deutschland so gegangen.
Peter Loew, Leiter des Deutschen Polen Instituts in Darmstadt schreibt in seinem Buch „Wir Unsichtbaren“:
„Polen und Polinnen in Deutschland sind die «Unsichtbaren». Fast jeder kennt welche, in vielen Stammbäumen tauchen sie auf, aber kaum jemand weiß etwas über sie. Sie sind einfach da, sorgen manchmal für Aufsehen, oft aber nur für zufriedene Senioren, Wohnungsbesitzer und Arbeitgeber: Als Pflegekräfte, Allround-Handwerker und Spargelstecher, als Bergleute und Putzfrauen tun sie Dinge, ohne die vieles in Deutschland nicht funktionieren würde. Auch in deutschen Symphonieorchestern und an deutschen Hochschulen leisten sie zuverlässig wertvolle Dienste: die deutsche Kulturlandschaft wäre ohne sie ärmer,” schreibt Loew .
Diese Unsichtbarkeit führte zu einer absurden Wendung, als ich nach dem Abitur zum Studieren nach Amsterdam zog. Hier war ich nun „die Deutsche“- und wurde wieder gehänselt. Diesmal hieß es: „Hej, gib mir mein Rad wieder!“ oder einfach nur mit strenger Stimme und gerunzelter Stirn: „Ja! Ja!“ Alles Referenzen an die Nazi Okkupation der Niederlande. Und an den „kleinene Hitler“ in mir. Ich sehnte mich jetzt nach dem polnischen Teil meiner Identität. Niederländer*innen, denen ich erzählte, dass meine Mutter Polin sei, sagten: „Oh! Wat spannend!“ Ich war nicht mehr bemitleidenswert, sondern „spannend“. Polen war jetzt im Begriff, ein richtiges EU-Land zu werden. Mit der Osterweiterung wurde Warschau eine „hippe Metropole“. Aber gab es diese „halbe Polin“ denn überhaupt wirklich? Ich sprach ja nicht mal richtig Polnisch! Ich musste einen Weg finden, diese „polnische Hälfte“ wiederzubeleben.
Die Reanimation begann, nachdem ich die Berliner Journalistenschule beendet hatte. Ich ging allein nach Warschau, wohnte mit einem lüsternen Vollidioten zusammen, was ich zu ignorieren versuchte, ackerte Polnisch, las mit Wörterbuch Zeitungen und berichtete für deutschsprachige Medien über alles, was mir vor die Füße fiel. Post-sozialistische Milchbars, avangardistische Klubs in Hinterhöfen, Warschauer Startups, ostpreußische und schlesische Adelshöfe, 60 Jahre Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, Schwulenparade, den ersten Wahlsieg der nationalkonservativen PiS-Partei, den Tod des polnischen Papstes Johannes Paul des Zweiten, Jan Paweł Drugi… Ich wollte mir selbst und den Deutschen erzählen, was dieses Land ausmacht, wer diese Menschen sind, warum sie sind, wie sie sind, warum ich bin, wie ich bin.
Ja, warum?
„Ich mache Generaloberst Keitel darauf aufmerksam, daß ich davon Kenntnis habe, daß umfangreiche Füsilierungen (Anm: Hinrichtungen, Erschießungen) in Polen geplant seien und daß insbesondere Adel und Geistlichkeit ausgerottet werden sollten.”[5]
Adel und Geistlichkeit. Ausgerottet.
„Die primitiven Polen sind als Wanderarbeiter in den Arbeitsprozess einzugliedern und werden aus den deutschen Gauen allmählich in den fremdsprachigen Gau angesiedelt.”[6]
Primitive Polen. Ausgebeutet.
Ein paar Jahrzehnte hat man gedacht, dass die Zeit der Ausrottung in Europa beendet ist. Gerade wurde die Menschheit eines Besseren belehrt: Die Stadt Mariupol ist von russischen Soldat*innen in Schutt und Asche gelegt worden. Flüchtende Zivilisten werden gezielt beschossen. Und die Ausbeutung von Arbeitskräften? Die war nie verschwunden. Sie dauert an. Seitdem es Menschen gibt. Viele der rund 300 000 Polinnen, die heute in Deutschland in privaten Haushalten alte Deutsche pflegen, werden ausgebeutet. Auch andere osteuropäische Pflegekräfte, Handwerker, Arbeiter in der Fleischindustrie. Mit den Pflegekräften haben ich mich unterhalten. Es scheint, als könnten sie häufig einfach nicht Nein sagen, wenn sie gebeten werden, auch noch den Rasen zu mähen, die Fenster zu putzen und dem Teppich eine Dauerwelle zu verpassen. Als hätten sie nicht gelernt. Sie befinden sich irgendwann in einem geschlossenen System epistemischer Gewalt[7]. Viele von ihnen wissen einfach nicht, wie man in einem solchen System Nein sagt. Tja, wie sagt man Nein zu einer/m Deutschen?
Sagt man, nein, wir machen unsere eigene Justiz?
Sagt man, nein, bei uns gelten andere Regeln als in Berlin, Paris oder Brüssel? Sagt man, nein, wir wollen hier keine Homosexuellen haben?
Die Deutschen, die polnische und andere osteuropäische Arbeitskräfte ausbeuten, behandeln freie Menschen wie Sklaven. Und die Polen, die sich nicht an die europäischen Regeln halten wollen, verhöhnen den Westen, führen ihn vor. So kommt es, dass die einen die anderen und die anderen die einen entstellen. Gombrowicz nennt dieses gegenseitige Entstellen dem anderen „eine Fresse machen“ oder „jemandem einen Popo fabrizieren“[8]. Er schreibt: „wenn ich zum Beispiel einen nicht dummen Menschen wie einen Dummkopf behandle und einem guten verbrecherische Absichten unterschiebe, dann mache ich ihm eine Fresse.“
Was hat der Porno-konsumierende cis-mann am Ende des 20. Jahrhunderts mit der Sprache der „heißen Polin“ gemacht? Er hat den polnischen Akzent der Frau sexualisiert und vulgarisiert. Dass der polnische Akzent heute für mich eine geliebte Variation der deutschen Sprache darstellt, mit all den kleinen und großen phonetischen Verschiebungen, mit seinen semantischen und grammatikalischen Eigenheiten, ist meine persönliche Popofresse, die ich dem imaginierten Publikum machen will.
Iesch chabe viele Schtunde probiert, mit ihre Mann in Dusche zu gähän, aber er niescht wollte. Keine Schanns. Er chat mier niescht erlaubt, dass iesch dusche ihm ab. Aba, keine Probläm. Wir probieren cheute Abend wieda. Vielleischt dann gejt bessa. Vielleischt wenn wir zusammen ihn ausziehen und mit sieße Sprache sprächän, dann er läss siesch bäwägän. Aber vorhär iesch wollte fragen ob iesch leihen kann Ihre Auto um zu fahren nach Frisör. Weil, Frau Professor, iesch chabe letzte Mal Firaschajn geschafft in Pollen.
u.s.w.
Angelernte Dinge können vererbt werden. Das habe ich kürzlich wieder gelesen.[9] Fatal, wenn man gelernt hat, zu gehorchen. Wenn man gelernt hat, einer anderen Volksgruppe strukturell unterlegen zu sein, wenn man sich an eine bestimmte asymmetrische Machtstruktur gewöhnt hat, wenn man den ewigen Opferstatus so sehr verinnerlicht hat, dass die Entsubjektivierung dazu führt, dass man als Objekt handelt, als der oder die, als der oder die man BEHANDELT wird. Dann wird es tragisch. Das ganze Ausbeuten. In der Pflege. Auf dem Bau. Der viele Alkohol. Und erst die wachsende Gruppe osteuropäischer Obdachloser auf deutschen Straßen. In dem Roman, an dem ich arbeite, versuche ich, diese Tragik irgendwie sichtbar zu machen. Es gibt so viele Klischees in der deutsch-polnischen Welt. Sie sind wichtig und nützlich, aber es ist wichtig, sie nicht einfach zu reproduzieren, sondern sie in einen Kontext zu stellen, der sie in einem neuen Licht zeigt, und dieses Licht soll ein Licht am Ende des Tunnels sein. DAHIN können sie sich entwickeln diese ewigen Zuschreibungen und Erwartungen, aber sie müssen sich bewegen, irgendwie…
Willy Brandt war damals nach Warschau gefahren, um den „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen“ zu unterschreiben. Normalisierung? Auch mehr als fünfzig Jahre später kann davon aus meiner Sicht kaum die Rede sein. Wobei… Es kommt natürlich darauf an, was „man“ unter „normal“ versteht.
Als meine Kinder noch klein waren, fragte mich mein fünfjähriger Sohn einmal: „Mama, warum sprechen die Obdachlosen Polnisch?“ Ist diese unschuldige Frage eines Kindes das, was „man“ unter „normal“ verstehen soll? Wir suchten nach polnischsprachigen Kinderbüchern in der Bücherhalle. Es gab kein einziges. Und das obwohl die polnischstämmigen Deutschen nach den türkischstämmigen die zweitgrößte Migrantengruppe des Landes bilden. Es gab türkische, englische, italienische, schwedische, sogar persische, aber kein einziges in polnischer Sprache.
Die Autorin Emilia Smechowski, als Kind mit ihren Eltern aus Polen nach Deutschland gezogen, schreibt: „Wir sind unsichtbar. Wir sind quasi gar nicht mehr da, so gut gliedern wir uns ein. Wie Chamäleons haben wir gelernt, uns in der deutschen Gesellschaft zu verstecken.”[10]
Ich möchte mich nicht verstecken. Viel lieber feiere ich den Geburtstag meiner wiederbelebten Muttersprache mit einem polnischen Lied, das jede/r Deutsche, die/der mit Pol*innen zu tun hat, sehr schnell lernen wird: Sto lat, sto lat, niech żyje żyje nam. Sto lat, sto lat, niech żyje żyje nam, jeszcze raz, jeszcze raz, niech żyje żyje nam, niech żyje nam!
[1] Erich Fromm Den Menschen verstehen – Psychoanalyse und Ethik, dtv, 7. Aufl. 2005
[2] Toni Morrison, Menschenkind, Rowohlt Verlag, Erweiterte Neuausgabe, 2007
[3] Es geht mir in diesem Vergleich nicht darum, zwischen dem Antislawismus der Deutschen und dem Rassismus in den USA eine Parallele zu ziehen. Es geht mir nur um die Rettung, die der Humor vor jeder Art von Viktimisierung bieten kann, und diese Rettung ist universell.
[4] Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, edition suhrkamp, 11. Aufl. 2013
[5] Admiral Canaris, Chef der militärischen Abwehr, nach einer Unterredung mit Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, am 12. September 1939, „Aktenvermerk über die Besprechung im Führerzug“, Nürnberg Dokument PS-3047, Serie II, zitiert in: Martin Broszat „Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945” (1961)
[6] SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich, Protokoll vom 27.9.1939, enthalten in Eichmann-Prozess, Beweis-Dokumente, Nr. 983, zitiert in: Martin Broszat „Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945” (1961)
[7] Gayatri Shakravorty Spivak, Can the Subaltern speak? in: „Colonial Discourse and Post-Colonial Theory – a Reader“, Williams & Chrisman, Columbia University Press, New York, 1994
[8] Witold Gombrowicz Polnische Erinnerungen, Fischer Verlag, 1997
[9] Siri Hustvedt, Wenn Gefühle auf Worte treffen, Kampa Verlag, 2019
[10] Emilia Smechowski, Wir Strebermigranten, Carl Hanser Verlag, 2017
Beitragsbild von Janusz Maniak