von Barbara Peveling
In ihrem Buch „Schäfchen im Trockenen“ reflektiert Anke Stelling über den Zusammenhang von Gemeinschaft und einem Leben mit der Kunst. Ihre Protagonistin kann bei den Anforderung der Leistungsgesellschaft nicht mithalten und wird deswegen ausgegrenzt. In dem Roman erwähnt sie auch das Kinderbuch von Leo Lionni. In „Frederick“ erzählt dieser die Geschichte einer Maus, die nicht, wie die anderen Mäuse, Vorräte für den Winter sammelt und verteidigt so den Beruf des Künstlers als singuläre Figur in der Gesellschaft, die scheinbar nichts tut. Während alle arbeiten, sammelt Frederick statt Reserven, einen Vorrat an Geschichten für einen langen Winter. Das Kinderbuch ist eine gesellschaftliche Utopie, in der am Ende alle ihre Ressourcen miteinander teilen, ob Kunst oder Nahrung, alles hat denselben Stellenwert, und hilft dabei, Krisenzeiten zu überstehen. In der Realität stehen die meisten Künstler*innen aber am untersten Ende der kapitalistischen Nahrungskette und müssen sich ihren Lebensunterhalt oft mit sogenannten Brotjobs finanzieren.
Selbstausbeutung und Opferbereitschaft sind zwei Begriffe, die im Allgemeinen mit der Wahrnehmung von einem Leben als Künstler*in, als auch einem Leben im Kollektiv im gesellschaftlichen Narrativ zusammengedacht werden. Besonders prekär wird diese Situation, wenn zu der Arbeit für die Kunst und Sicherung des Einkommens auch noch Sorgearbeit hinzu kommt. Auf diese schwierigen Lebensumstände wird im deutschen Literaturbetrieb durch Initiativen wie Otherwriters, Care / Rage, heute vermehrt auch genderübergreifend aufmerksam gemacht. Wäre also ein Leben im Kollektiv nicht vielleicht eine Lösung? Eine Gemeinschaft, in der, wie in der Geschichte von Frederick, Arbeit so verteilt wird, dass auch die Kunst ihren Platz findet, ohne dass jemand in Existenznot gerät? Diese Frage wurde von Lena Müller und Katharina Bendixen in einem Briefwechsel online diskutiert.
Im Sommer habe ich ein Kollektiv, die gemeinnützige Gemeinschaft Mas de Granier der Bewegung Longo Maï, besucht. Hier lebt der Vater meines Kindes. Es war also, so könnte man sagen, ein Familienbesuch. Nur, dass wir keine Familie sind, und auch nie waren. Die Geburt machte uns zwar biologisch zu Vater und Mutter desselben Kindes, aber wir waren da schon kein Paar mehr, und also auch nie eine Kleinfamilie. Für Lévi-Strauss gehört Verwandtschaft zur elementaren Struktur der Gesellschaft. Dabei geht es dem Ethnologen nicht um die christlich definierte Form der Verwandtschaft einer heteronormativen Kleinfamilie, sondern um das die jeweilige Gesellschaft tragende Modell. Der Ethnologe Bronislaw Malinowski betonte beispielsweise, dass die biologische Abstammung nicht, wie bei uns in Europa, in allen Gesellschaften als automatischer Faktor der Bestimmung verwandtschaftlicher Beziehungen gesetzt wird. Auch bei uns wird das heteronome Abstammungsrecht heute vermehrt in Frage gestellt.
Unser Kind ist mittlerweile erwachsen und selbständig, doch als es klein war, haben wir uns als Eltern oft an den fehlenden Optionen eines gesellschaftlichen Konzepts der kollektiven Fürsorge jenseits der Kleinfamilie gerieben. Wir mussten uns durchgeschlagen mit Bestimmungen, haben rumgebastelt mit Sorgerecht und Unterhaltszahlungen, kurz Dingen, die für Menschen da sind, die nicht in die Schubladen der Mehrheitsgesellschaft passen. Die Gesellschaft bot uns keine Narrative für getrennt-gemeinschaftliche Elternschaft und so war jedes gemeinsame Engagement für das Wohl des Kindes gleichzeitig die Herausforderung, mit unserem individuellen Scheitern am dominanten Familienmodell konfrontiert zu werden.
In dieser Welt, die auf heteronomen Kleinfamilien geeicht ist, war unser individuelles Lebensmodell eine Leerstelle. Während ich als Mutter schnell auf die Sorgearbeit reduziert wurde, konnte der Vater sich als Künstler im öffentlichen Raum, leichter und ungehinderter verwirklichen. Sein Film über das Flüchtlingslager Aïda, in dem Menschen in Palästina ihre persönliche Grenzgeschichte erzählen, wurde zurecht mit vielen Preisen ausgezeichnet. Der Druck, sich der Sorgearbeit zu widmen, war auf mich als Mutter deutlich höher, als auf den Kindesvater. Ich erinnere mich noch an Freundinnen, die mir vorwarfen, wie ich das könnte, mein Kind mit nur neun Monate den ganzen Tag in eine Kita geben. Das Gefühl, von unten an der gläsernen Decke zu kratzen, ist mir bis heute geblieben.
Der Vater meines Kindes hat seine künstlerische Karriere vor einigen Jahren hinten angestellt, um sich dem Leben im Kollektiv zu widmen. Die Initiative Longo Maï, in der er heute lebt, wurde 1973 in der Provence von einer multinationalen Gemeinschaft aus der Schweiz, Österreich, Deutschland und Frankreich gegründet. Auch unser Kind hat hier, wie alle Kinder der Gemeinschaftsmitglieder, seinen Platz. Bei seinem Einzug stellte ihm sein Vater dort einen Wohnwagen auf das Gelände, damit es dort seinen eigenen Raum, ein Zimmer für sich hat. Das war gewöhnungsbedürftig für uns. Ich weiß noch, wie verunsichert das Kind darüber war und wie ich den Vater angerufen habe, um ihn zu bitten, es erst einmal nicht alleine dort schlafen zu lassen.
Bei meinem Besuch habe ich ihn gefragt, ob ihm die künstlerische Arbeit nicht fehlt, nach all den Jahren, in der er so viel Engagement und Arbeit in seine Kunst investiert hat. Die Felder können nicht warten, sie müssen bewässert, die Tiere versorgt werden und die Kunst kann also warten? Das Essen in Longo Maï wird immer gemeinsam eingenommen, es wird abwechselnd gekocht, die Aufgaben für die Landwirtschaft untereinander aufgeteilt und vor allem wird viel diskutiert in der Gemeinschaft, in der es keine Hierarchie, keinen Besitz und kein eigenes Einkommen gibt.
Einer der Ideengeber war der Schriftsteller Roland Perrot, der, ähnlich wie Anne Beaumanoir, die Heldin aus „Anette, ein Heldinnenepos“ von Anne Weber, auch in Algerien gegen die Kolonialmacht kämpfte. Ist das Leben im Kollektiv als Engagement für eine bessere Welt nicht vielleicht auch eine Form der Kunst in ihrer letzten Konsequenz im Sinne von Walter Benjamins Forderung nach Politisierung der Letzteren? Der Vater meines Kindes antwortete auf meine Frage nach der Kunst, indem er von Transmission sprach und von einer Kunststudentin erzählte, der er seine Erfahrungen weitergab. Ein Vorteil des Kollektivs ist, dass die Arbeit auch von anderen gemacht werden kann, ein paar Tage abwesend sein, das geht. Und auch das ist die Idee der Kunst, jenseits eines individuellen Geniekults, dass es sich um eine Form und Vermittlung des kulturellen Gedächtnisses handelt. Denn die Entfaltung kreativer Kräfte hängt auch von äußeren Bedingungen ab, und nicht nur vom großartigen Talent eines einzelnen Individuums. Kreativität ist eingebettet im kulturellen Gedächtnis des menschlichen Kollektivs. Das eigene künstlerische Potential an die nachfolgende Generation weiterzugeben, ist demnach auch eine Form von Care.
Zu der Gemeinschaft Longo Maï gehört auch ein Hof in der Ukraine. In den Karpaten engagiert sich das Kollektiv schon lange für die Erhaltung eines Naturreservates und damit gegen die Gründung eines riesigen Skiressorts. Heute ist Krieg in der Ukraine und die Zukunft des Landes ungewiss. Ob nun irgendwann die russischen Oligarchen dort Skifahren, oder doch die westlichen Kapitalisten, wir wissen es nicht. Aber was wir vielleicht wissen, oder besser, worüber wir nachdenken können, ist, dass Initiativen wie Longo Maï mit Sicherheit eine Option jenseits des herrschenden kapitalistischen Systems bieten. Obwohl die wirkliche Alternative zu diesem System, wie ein Mitglied der Gemeinschaft schon vor vielen Jahren in einem Interview gesagt hat, sicherlich eine gesellschaftliche Revolution wäre.
Wenn das Leben in der Gemeinschaft jenseits sozialer, nationaler, sowie ökonomischer Grenzen selbst zum Modell würde und nicht mehr nur eine Utopie in Kinderbüchern wäre, müssten Selbstausbeutung und Opferbereitschaft auch keine Narrative für ein Leben mit Kunst oder im Kollektiv mehr sein. Mehr Raum für Kollektive im künstlerischen Narrativ jenseits des individuellen Geniekults, würde in jedem Fall neue gesellschaftliche Perspektiven öffnen, sowie eine breitere Verteilung von Ressourcen bedeuten. Bei dem diesjährigen Branchentreff Literatur “Team Spirit” werden Netzwerke und Kollektive im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Und damit wird der Frage nachgegangen, ob die Kraft der Gemeinschaft im künstlerischen Schaffensbereich nicht auch ein Hoffnungsträger in unsicheren Zeiten sein kann.
Literatur:
Gisela Notz: Kritik des Familismus
https://www.prolongomai.ch/longo-ma%C3%AF/kooperativen/mas-de-granier-fr/
https://www.prolongomai.ch/publikationen/40-jahre-longo-ma%C3%AF-2013/
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