Zwischen Schöpfung und Erschöpfung – Über Geburt in Film und Literatur

von Susanne Hösel

 

Irgendwann werden wir geboren, fangen wir an. Ohne die Geburt geht es nicht, und wir selbst vergessen alles davon. Die Menschen, die uns auf die Welt gebracht haben, behalten dieses Erlebnis jedoch sehr viel deutlicher in Erinnerung. Gehen diese Stunden und Tage erst immer wieder durch, dann irgendwann seltener. Betasten ihre Erinnerungen wie Glieder einer Kette. Diese Erinnerungen greifen sich mit der Zeit ein wenig ab, verlieren einige ihrer Kanten. Kehren dann wieder mit voller Wucht und eigener Beweglichkeit an den Jahrestagen zurück. Eltern stehen an den Abenden vor Geburtstagen über eine Kuchenglasur gebeugt, mit Geschenkpapier oder mit leeren Händen da. Halb formen sie das, was das Gesicht des nächsten Tages sein wird, halb sind sie ganz woanders. Es bleibt ein Rest Rätsel, wie das alles sein kann: Ein neuer Mensch. Es ist kaum zu  glauben.

In diesem Text soll ein streiflichtartiger Blick auf ein Thema geworfen werden, bei dem die kulturelle Repräsentation in ihren ersten Senkwehen stehengeblieben ist: die Darstellung von Geburten in Film und Literatur.  Die wenigsten dieser Darstellungen rücken das Erleben der gebärenden Person in den Fokus. Meist dominiert der Blick von außen auf das Geschehen. Geburt wird mal als Klamauk verarbeitet[1] oder als Akt der Herrschaft im Kostümfilm[2] präsentiert. Geburten illustrieren das medizinische Können des talentierten Arztes oder der engagierten Landhebamme.[3] Es gibt die Kindersicht auf den Vorgang aus der Perspektive der älteren Geschwister[4] und die dystopische Geburtserzählung.[5] Zentral für die westliche Welt ist die Wundererzählung von der Geburt Jesu, in der Marias Körper als Gefäß dient. Alles, was vor dem ersten Wickeln des Kindes in frische, weiße Tücher passiert, wird diskret ausgeblendet.

Das Gegenstück zum Wunder, der Horror, weiß nicht viel mehr und sieht die Körper der Hexen als Gefäße des Teufels, den sie mit ihrer Milch oder ihrem Blut  ernähren, wovon sie Hexenmale behalten. Im Horror der Postmoderne ist die ekelhafte, widernatürliche Geburt ein zentraler Topos[6]. Auch Bertolt Brecht, selbst Vater, vor allem des  epischen Theaters, wählt für seine moraldidaktischen Zwecke im politischen Kontext das Schreckbild der Horrorgeburt, mit den tausendfach zitierten Worten: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“. Von der gebärenden Person zeigt Brecht an dieser Textstelle nur noch die widerwärtige, potente Vulva[7].

Eine harmlosere und  differenzierende Persiflage auf den Schrecken der Geburt liefert die Weihnachtsfolge von Mord mit Aussicht. Hier stößt die aus Überzeugung kinderlose Kommissarin Sophie Haas den langen, entsetzten Wehenschrei aus, obwohl sie nur Beobachterin einer Niederkunft ist. Ihre Kollegin Bärbel Schmied entbindet währenddessen im Off und ist sehr glücklich mit dem Baby[8]. Auf diese Weise gelingt es der Krimiserie, zwei Frauen mit ihren unterschiedlichen Einstellungen zum Kinderkriegen respektvoll in einer Handlung zu verbinden.

All diesen verschiedenen Darstellungsformen von Geburten ist gemeinsam, dass sie das Geschehen in eine Dramaturgie fassen, um überhaupt ein konsumierbares Kunstprodukt daraus zu machen. Die Geburt wird meistens mit der vorletzten und letzten Presswehe identifiziert, das Kind sofort abgenabelt, damit ist der Vorgang abgehakt. Über den Leib der gebärenden Person wird ein Schleier der Diskretion gelegt, gerne in Form eines weißen Kleides oder eines minzgrünen Abdecktuches aus Krankenhausbestand. Der Stoff  fungiert als ein Art Theatervorhang, hinter dem das Baby als zerknautschter Gamechanger aus dem Off hervor gezaubert wird. Das Off, das ist der nun leere Leib.

Dabei zeichnet Geburten wesentlich aus, dass die Dramaturgie nicht von Anfang an klar ist. Ihr Verlauf  und Ausgang sind bis zur letzten Nachwehe ungewiss, sie werden von Hoffnungen und  Ängsten in existenziellem Ausmaß begleitet. Hinzu kommt, dass Geburten über längere Zeitabschnitte radikal langweilig sein können. Damit sind sie, wenn sie in ihrem sachlichen Gehalt erfasst werden und Lebensrealität abbilden sollen, zu sperrig für eine filmische Darstellung und wenig pointentauglich – und das, obwohl der Großteil aller realen Geburten beispielhaft im Rahmen der aristotelischen Einheiten verläuft. Entbindungen finden meistens an einem Ort innerhalb von 24 Stunden statt, und in diesem Zeitraum findet kaum etwas anderes Beachtung. Das qualifiziert sie aber gerade nicht für eine Literarisierung.

Eine Ausnahme von der Beobachtung, dass die niederkommende Person kaum je im Fokus von Geburtsdarstellungen steht, findet sich in Valerie Fritschs Roman Winters Garten:

Die Wehen zogen sich über viele Stunden, währenddessen die kleine Gruppe  zusammengewürfelter Menschen am Körper von Marta wartete wie an einem  Monument. Sie warteten auf den Augenblick, in dem dieser Körper nachgeben würde,  das Klick, auf die Musik des Zerbrechens, die alle Entbindungen begleitete. Es dauerte lange. Stück für Stück ging ihr Unterleib auf und wurde ein Portal. Wie ihre Vagina weit aufriss. Wie sich der Nabel ausstülpte. Wie die Schamlippen blau anliefen. Wie neben dem Mutterkuchen auch Exkremente auf das Bett liefen. Wie man das Kind endlich von der Nabelschnur losschnitt. Wie ihr der Schlauch aus Haut noch lange aus dem Geschlecht hing.

Als Marta den Säugling schließlich in den Armen hielt, wurde der Bauch ein Haus, das, nutzlos geworden, in sich zusammenfiel, nachdem sein Bewohner es verlassen hatte.[9]

Aber auch in dieser Schilderung, die deutlich mehr erzählt als üblich, wird die Frau vor allem mit ihrem Körper identifiziert. Wie sie den Vorgang wahrnimmt, bleibt unbekannt. Dabei hören Denken und Fühlen unter den Wehen nicht auf. Neben all den oben erwähnten Darstellungsformen von Geburten möchte ich deswegen besonders  auf eine wenig beachtete Textgattung hinweisen, die grundsätzlich und ausschließlich das  Erleben der gebärenden Person in den Fokus rückt: der private Geburtsbericht. Bis zur Jahrtausendwende vorwiegend in Tagebüchern und Briefen aufgezeichnet, erreicht diese Textgattung seit der Existenz des Internets in Foren und Blogs, später zusätzlich auf  Instagram und Youtube eine größere Reichweite. Die Rezeption erfolgt zum größten Teil in nicht-redaktionellen privaten und halbprivaten Räumen.[10] Der Geburtsbericht wird im  Gegensatz zu Briefen und Tagebüchern nicht als gesellschaftlich relevantes Artefakt aufgefasst und genießt alle Frei- und Torheiten, die mit diesem Status unter dem Radar einhergehen.

Die Textform dient dem Zweck, das Erlebte in zeitlicher Nähe zum Geschehen festzuhalten – primär für die Schreibenden selbst, das Kind, Familie und  Freund*innen, aber auch für die interessierte Öffentlichkeit, soweit gewünscht und erreichbar. Der private Geburtsbericht notiert, hält Flüchtiges und Widersprüchliches für  ein imaginiertes Später fest, sortiert Abläufe und Umstände. Indem die entbundene  Person schreibt, distanziert sie sich vom allzu körpernahen, vielleicht auch passiv erlebten Geschehen und eignet sich die Geburt auf eigene Weise an. Der Text spricht die Geburt nach. Es ist ein sich selbst vergewisserndes Vor-sich-hinsprechen, im besten Sinne: als eine Form der Selbstfürsorge und Selbstermächtigung in einer Situation, die sehr verletzlich macht. Der entbindende Mensch muss das Geschehene nicht mehr unausgesprochen mit sich herumtragen, sondern bringt es nochmal in Worten hervor. So  lassen sich eventuell erlebter Kontrollverlust, Gewalterfahrungen und die existenzielle Wunderlichkeit dieses Vorgangs einholen. Es liegt auch eine gewisse Bescheidenheit darin, denn es geht weniger um die Form, als um die Sache, den Weg des Babys ans Licht der Welt. Diese Bescheidenheit ist brüchig. Sie nennt sich allzuoft selbst („Hauptsache, dem  Baby geht es gut“) und natürlich spricht nicht das Kind, sondern die gebärende Person als  Mittelpunkt des Erzählten.

Der Geburtsbericht ist aus emotionalen und psychologischen Motiven am Aufschreiben der Wirklichkeit interessiert, die literarische Qualität ist nicht das erste Kriterium. Erinnerte Wirklichkeit und schriftliche Form fallen bei dieser Textsorte mit jedem einzelnen Wort auseinander. Die schreibende Person strebt erzählerische Potenz und gleichzeitig ungefähre Kongruenz mit dem kreißenden Ich an, beide liegen als Doppelbild schemenhaft übereinander und ergeben aus der Lesedistanz eine feststellbare, wenn auch manchmal lockere Kontur.

Mit dieser Form der Autor*innenschaft ist es überlegenswert, den Geburtsbericht im  weiteren Sinn als autofiktionalen Text zu verstehen. Vor dem Hintergrund vieler im deutschen Sprachraum publizierter autofiktionaler Texte der letzten Jahre, ihres Inhalts, des Marktwerts und der Reichweite, wird jedoch deutlich, dass der männlich geprägte Literaturbetrieb mit der sachlichen Realität von Geburten noch wenig anfangen kann. Mit dem Blick auf den leisen Rand des Erzählens lässt sich klar erkennen, welche Inhalte in welcher Qualität und unter welchen Bedingungen der Textproduktion entstehen. Inhalte und Erzählformen, die dann als gesellschaftlich relevant gelten – oder eben nicht. Im Patriarchat bleibt die individuelle Geschichte der Geburt, von Schöpfung und Erschöpfung, vorerst flüchtig, unbetreut und unbezahlt.

 

[1] Worf, der in „Star Trek: The Next Generation“ („Disaster“, 5/05) Keiko entbindet; Lily, die in  „HIMYM“ („The Magician’s Code“, 7/23) Marvin bekommt; Danielle in Desperate Housewives (4/06, „Now I Know, Don’t Be Scared“).

[2] Maria Theresia, die in der gleichnamigen Serie (2017 – 2019) souverän und pflichtbewusst eine  Geburt nach der anderen durchexerziert; Anne Boleyn in „The Tudors“ (2007 – 2010), die mit  jeder Geburt verbissen um Macht und Legitimität als Gattin von Heinrich VIII. ringt.

[3] Die Filme über Ignaz Semmelweis, „Der Bergdoktor“ (u.a. 5/09), „Das Geheimnis der  Hebamme“ (2016), Hebammenberichte wie von Rosalie Linner (1993) und Marianne Grabrucker  (1989).

[4] Marcel Pagnol, „La gloire de mon père“ (1957) und die gleichnamige Verfilmung (1990).

[5] Margaret Atwood, „The Handmaids Tale“ (1985 und in den Verfilmungen 1990 und 2017) und,  in bizarrer Form, Gerd Brantenberg, „Die Töchter Egalias“ (1980).

[6] Um nur zwei Titel in einer schier endlosen Auswahl zu nennen: „Alien“ (1979), „Riget“ (1994- 1997).

[7] Bertolt Brecht, „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“, 1941/1957.

[8] „Mord mit Aussicht“ (3/13, 2014).

[9] Valerie Fritsch, „Winters Garten“, Berlin 2016, mit herzlichem Dank an Cornelia Grobner für den  Hinweis.

[10] Es gibt vereinzelt Publikationen von und Untersuchungen über Geburtsberichte, sh. Cecilia Colloseus: „Gebären – Erzählen. Die Geburt als leibkörperliche Grenzerfahrung“, Frankfurt/M. 2018 und Jana Friedrich/Josephine Neubert,  „Jede Geburt ist einzigartig“, München 2019.

 

Photo by Joe Gardner

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