Sentimentaler Müll: Gespräche über Chick Lit [Podcastkolumne]

von Svenja Reiner

 

Wenn ich an meine Jugend denke, dann vor allem an die Bücher, die ich damals gelesen habe. In unserem Wohnzimmer gab es ein großes Bücherregal, das die Konsalikbände meiner Mutter füllten und deren dramatische Schriftzüge mich ziemlich abschreckten. Ein weiteres Regal stand im Arbeitszimmer meines Vaters. An die rotschwarzen Buchrücken des Modernen Lexikons reihte sich eine Sammlung gebundener Asterixcomics. Weiter oben, kurz vor der Zimmerdecke, lagerten seine Karl May-Bücher, aber nachdem ich beim Abstauben die ersten Sätze gelesen hatte, war ich ziemlich abgetörnt. 

Meine Schwestern und ich besaßen eigene Bücher, aber die meisten lieh ich in der Stadtbibliothek aus, einem Gebäude dessen verklinkerten Gründerzeitgrundriss jemand mit einem cleanen Containeranbau erweitert hatte. Wie großartig die Sortierung dieser merkwürdig aussehenden Bibliothek war, ist mir erst aufgefallen als ich angefangen habe, Caroline O’Donoghues Podcast Sentimental Garbage zu hören. O’Donoghue ist eine irische Autorin, deren Debut Promising Young Women in Deutschland ein bisschen untergegangen ist. Trotz ihrer Nominierung als Newcomer of the Year des Irish Book Awards und den Kate O’Brien Award wurde O’Donoghue immer wieder gefragt, ob ihr Roman eigentlich Chick Lit sei – also ein bisschen anspruchslose Frauenliteratur. Unter diesem Label werden beispielsweise die Bücher von Marian Keyes, Amy Tan, Eva Rice, V. C. Andrews oder Francine Pascal gefasst: Allesamt sehr erfolgreich, aber selten bis gar nicht vom Feuilleton besprochen. 

O’Donoghue diskutiert als begeisterte Leserin mit anderen Autor*innen wöchentlich eines dieser Bücher, die von außen mehrheitlich aussehen wie Supermarkt Fiction:  Rosa oder rote Cover, große Fonts, verträumte Landschaften oder Fotografien. Doch gerade hinter diesen Umschlägen verbergen sich innovative Figurenkonstellationen, kluge psychologie Anlagen und komplexe Geschichten.

Da wäre beispielsweise die Gothic Novel Flowers In The Attic von V. C. Andrews, die O’Donoghue gemeinsam mit Julie Cohen diskutiert – ein Roman, der sich bereits auf Grund seines Settings (vier Kinder werden jahrelang auf einem Dachboden eingesperrt) als Corona-Lektüre eignet. In der überhöhten Sprache der 12jährigen Tochter Cathy folgt der Text Corinne Dollanganger und ihren vier Kindern in einen Strudel menschlicher Abgründe und lässt seine Leser*innen erschaudern, wenn ihnen klar wird, wozu diese Figuren fähig sind. Dass Flowers In The Attic kein klassischer Thriller ist, wird auch nicht-Leser*innen klar, wenn O’Donoghue und Cohen die komplizierte feministische Anlage des Buchs diskutieren: “The women are the ones who have all the agency in the book”, beobachtet Cohen. “They do all the good things – well, there aren’t so many good things – but they do all the bad things as well. The men are wishy-washy.” 

Die weiblichen Figuren streben nach Geld und Macht. Dafür sind sie bereit, vieles zu tun, und in den allermeisten Fällen werden sie bestraft. O’Donoghues These: “Men in this book get away with everything” wird nahtlos von Cohen aufgenommen, die vorschlägt, den Dachboden als psychologischen Raum zu lesen: Das Zimmer, in dem die Geschwister schlafen, ist klein und wird durch ihre gewalttätige Großmutter überwacht. Der Dachboden ist jedoch weitläufig und verstaubt, zugestellt mit allerlei Familienbesitz und deren Geheimnissen. Der Dachboden ist im Roman Freiraum und Tatort zugleich.

In einer andere  Folge besprechen O’Donoghue und die Autorin Ella Risbridger Amy Tans The Joy Luck Club. Von dem 1989 erschienenen Debut der chinesisch-amerikanischen Autorin hatte niemand viel erwartet, am wenigsten die Verfasserin selbst. In einem aktuellen Vorwort schildert sie die Vorhersage, die sie ihrem Ehemann machte: Das Buch würde maximal sechs Wochen in den Regalen der Buchhandlungen stehen und dann geschreddert werden. Vielleicht würde es auch nur halb so lange dauern – immerhin sei Tan eine unbekannte Debütantin und erzählte von vier Müttern und deren Migrationsgeschichte. Risbridger und O’Donoghue benennen selbstkritisch, dass sie auf Grund ihrer weißen Sozialisation vermutlich viele kulturelle Marker überlesen, viel Kontext nicht verstehen, und verfallen dann in ein ernsthaftes Schwärmen: “The very first sentence: ‘My father has asked me to be the fourth corner at the Joy Luck Club. I am to replace my mother, whose seat at the mah jong table has been empty since she died two months ago. My father thinks she was killed by her own thoughts.’” 

Bereits hier würde  die Verantwortung der Erzählerin gegenüber ihrem Vater und ihrer Tradition angedeutet, die Trauer über die verstorbene Mutter erwähnt. Das, multipliziert mit acht, denn so viele Erzähler*innen hat The Joy Luck Club, macht den Roman zu einem unglaublichen Buch, dem man maximal an seinem Mah-Jongg-haften Gerüst anmerkt, dass hier eine (verkopfte?) Debütantin geschrieben hat. O’Donoghue und Risbridger bekennen sich beide dem exzessiven Gerüstbau schuldig, das ihre Lektor*innen immer wieder in Frage gestellt und schließlich aufgelöst hätten.

Die Folge, die mich an meine Stadtbüchereierfahrung denken ließ, ist The Children’s Books Christmas Special Spectacular!eine Weihnachtsepisode. Nicht nur sprechen O’Donoghue und pandemiebedingter Widerholungsgast Risbridger über mehrere Bücher, die ich damals ausgeliehen, begeistert gelesen und dann vergessen habe. Sie tun es auf die Art, die Sentimental Garbage besonders macht und bei mir zu vielen nachträglichen Literaturkäufen führte: Begeistert, humorvoll, analytisch und klug. Immer bedacht auf sprachliche Details, inhaltliche Raffinessen, große Sätze und verbunden mit ihrer persönlichen Lese- und Lebenserfahrung. “I have nothing deep to say to that. But I love it.”

 

Photo by Michal Czyz on Unsplash

 

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