Geführt von Sibylle Luithlen
Mithu M.Sanyal ist bisher als Autorin von Sachbüchern* und als öffentliche Stimme im Diskus um race und Feminismus in Erscheinung getreten. Nun hat sie ihren ersten Roman veröffentlicht. Mithu und ich kennen uns schon länger. Einige Jahre lang haben wir zusammen im Kölner Literaturatelier Texte besprochen. Anlässlich ihres Romans „Identitti“ habe ich mit Mithu ein Gespräch über race und sex, Schreiben, soziale Netzwerke und den Raum von Frauen innerhalb und außerhalb von Romanen geführt, pandemiebedingt per Zoom. „Identitti“ erscheint am 15.2.21 bei Hanser.
S.L.: Liebe Mithu, du hast bisher zwei Sachbücher geschrieben. Wieso jetzt ein Roman?
MMS: Ehrlicherweise: Weil ich immer schon Romane schreiben wollte. Ich hatte nur das Gefühl, dass meine Art von Literatur und der Deutsche Buchmarkt nicht zusammen gehen würden. Aber auch tatsächlich, weil ich über all die Themen, die ich in dem Buch verhandele nicht „die Wahrheit“ schreiben wollte, ich wollte die Diversität von Wahrheiten sichtbar machen. Identität(en) sind Geschichten und deshalb wollte ich sie auch so erzählen. Ich hätte es anmaßend gefunden, darüber ein Sachbuch zu schreiben nach dem Motto: Ich sag jetzt mal, wie’s ist.
SL: Im Zentrum von „Identitti“ stehen mit der größten Selbstverständlichkeit und ohne demonstrative Geste vor allem vier Frauen.
MMS: Ja, der hat auf jeden Fall den Bechdel-Test bestanden!
SL: Welchen Test? Sorry für meine Unbildung.
MMS: Alison Bechdel ist eine Comic-Zeichnerin, die einen Test für Filme entworfen hat, in dem sie drei Fragen stellt: Gibt es in dem Film mindestens eine Frauenfigur? Haben sie einen Namen? Reden sie miteinander über etwas, was nicht ein Mann ist? Und da fallen erschreckend viele Filme raus.
SL: War das eine bewusste Entscheidung oder einfach dein Bedürfnis, genau diese Figuren zu schaffen und es waren eben Frauen?
MMS: Ich weiß noch, dass das als ich angefangen habe zu Schreiben vor 30 Jahren ganz wichtige Themen und Entscheidungen für mich waren. Über das Thema Frauenfreundschaften habe ich immer schon viel geschrieben. Und das Thema weibliche Vorbilder, weibliche Rollenmodelle hat mich immer sehr beschäftigt. Beim Korrekturlesen ist mir dann aufgefallen: es gibt ja echt ganz wenige Männer in dem Buch, zentral sind die Beziehungen zwischen den Frauen. Aber das Erstaunliche ist ja eigentlich, dass man es nicht liest und dann direkt denkt, oh, ein Frauenroman.
SL: Überhaupt nicht. Mir ist es auch erst beim Darübernachdenken aufgefallen. Man liest einfach einen Roman über eine Welt, in der anderes wichtig ist. Es kommen schon Männer vor, aber eher am Rande.
MMS: Das hängt damit zusammen, dass sich die Welt ganz viel bewegt hat. Das kann ich mir nicht auf die Fahnen schreiben, in dieser Hinsicht ist einfach unglaublich viel passiert.
SL: Nivedita, eine deiner Hauptfiguren und diejenige, der wir als Leserin am dichtesten folgen, ist eine Studentin von postcolonial studies. Sie hat zwei Identitäten, einerseits die Bloggerin Identitti, andererseits eine junge Frau auf Selbstsuche. Wie sehr unterscheiden sich die beiden?
M.M.S: Ich habe wirklich lang daran gearbeitet, dass sich die Blogs nicht anhören wie derselbe Text nur in der ersten Person, also dass sie sich auch sprachlich unterscheiden. Die Erzählerstimme in dem Roman ist ja keine Ich-Erzählerin, sondern es wird Nivedita ein bisschen über die Schulter geguckt. Wir sind ganz nah an ihrer Perspektive, aber mit ein bisschen mehr Wissen. In den Blog-Texten hören wir sie direkt.
S.L: Schon dadurch, dass sie Ich sagt, wirkt die Bloggerin viel selbstbewusster als Nivedita im realen Leben. Was hat Identitti, was Nivedita nicht hat?
MMS: Identitti ist diese Persona, die zu einer Community spricht und in gewisser Weise auch eine Mission hat. Sie tritt als diese mixed race super woman auf, das ist ja auch nicht ganz zufällig gewählt. Ich selber bin ganz schlecht darin, diese sozialen Netzwerke zu bespielen, Nivedita kann das viel besser! Sie hat auch dieses Bewusstsein, ich habe eine Verantwortung für meine Community, ich schulde denen das. Ich bin da eher so die Oma, ich kann ja auch Insta nicht, denn das muss man am Handy machen und dafür bin ich zu langsam. Manchmal werde ich als Bloggerin beschrieben, was ich gar nicht bin, ich verlinke nur Artikel, die ich geschrieben habe.
SL: Nach der Lektüre des Romans hat man doch den Eindruck, du bist ganz heimisch in sozialen Netzwerken und beherrschst all diese Twitter- Ausdrücke.
MMS: Überhaupt nicht, gerade was diese Twitter-Sprache angeht, habe ich versucht, ganz viel zu lernen. Es steckt überhaupt eine Menge Recherche in dem Buch. Zum Beispiel spricht Nivedita eine jüngere Sprache als ich, auch wenn es keine Jugendsprache ist. Aber es werden immer wieder diese Wörter reingesprenktelt: Alles ist woke oder nicht woke, wer ist drin, wen darf man nicht mehr gut finden und wen schon noch. All das spielt eine ganz große Rolle. Was ich aber aus eigener Erfahrung kenne, sind die Mechanismen der Empörung, die im Internet funktionieren, einfach aus meinen eigenen Erfahrungen mit Shitstorms.
SL: Bei der Veröffentlichung des Buchs über Vergewaltigung („Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“, 2016) hast du das am eigenen Leib erfahren.
MMS: Genau. Damals hatte ich in einem Artikel gefordert, dass es mehr Selbstbezeichnungen für Betroffene von sexualisierter Gewalt geben sollte als nur das Wort Opfer. Das ist eine alte feministische Debatte und ich hatte niemals gefordert, dass „Opfer“ abgeschafft würde, schließlich hängen da juristische Rechte dran, doch so wurde das kolportiert. Und dann sind sofort die Rechten darauf gesprungen und haben behauptet, ich würde Deutschen Frauen raten, dass Vergewaltigungen durch Migranten ein tolles Erlebnis seien. Das war sehr erschreckend und sehr absurd, aber das Wissen darüber hat mir geholfen beim Schreiben, auch das Wissen darum, dass es dein ganzes Leben einnimmt und dann nach drei Wochen weg ist. Nach zwei Wochen hat es sich wieder relativ beruhigt und nach drei ist es fast schon abgeklungen, fast egal, wie groß der Shitstorm ist. Es gibt wirklich zeitliche Regelmäßigkeiten für so etwas.
SL: Saraswati, Niveditas angebetete indische Professorin, erlebt einen Shitstorm, als auffliegt, dass sie in Wirklichkeit weiß ist. Hast du dich da auf deine Erfahrung bezogen?
MMS: Ja, auf jeden Fall. Aber auch Nivedita wird ja Zielscheibe eines Shitstorm, und dafür ist meine eigene Geschichte ebenfalls wichtig gewesen. Denn der, den sie abbekommt, kommt nicht von Rechten, sondern von ihrer eigenen Community. Das habe ich auch erlebt und das war für mich viel Erschreckender. Obwohl ich im Nachhinein sagen muss, es war de facto nicht meine eigene Community.
SL: Aber er kam von feministischer Seite.
MMS: Genau, und das war das, was mich persönlich am meisten getroffen hat. Mir zu sagen, das sind doch die Leute, für die ich das mache und die ich nicht verletzen will. Ich dachte: ihr müsstet mich verstehen, wir sprechen auf einer Ebene miteinander. Und auch die Angst ist später viel größer, in den eigenen Kreisen was Falsches zu sagen und nicht mehr mitzuspielen. Also nicht so, wie Cancel-Culture von den Rechten verstanden wird, dass wir Polizei füreinander sind, so nicht, aber schon diese Sorge, wie viel Differenz noch tragbar ist. Das ist ja auch ein großes Leitmotiv, das Nivedita antreibt.
SL: Schon in der Anfangssequenz werden die großen Themen des Romans aufgemacht: Sex and race.
MMS: Absolut. Diese ersten zwei Seiten sind ein bisschen der Roman in Kurzformat. Es fängt ja mit der Über mich-Rubrik von Niveditas Blog an, und auch wenn Saraswati noch nicht vorkommt, stellt sich Nivedita schon mit ihren Themen vor.
SL: Auch Niveditas englische Cousine Priti ist gleich präsent. Ist sie so etwas wie ein Alter Ego von Nivedita in indischer?
MMS: Natürlich ist sie auch ein alternativer Lebensentwurf. Ursprünglich, also ganz ganz ursprünglich, wollte ich einen Roman über diese beiden Cousinen schreiben. Damals waren es noch Freundinnen, aber ihre Beziehung war zentral in dem Text. Sie ist in „Identitti“ immer noch wichtig, aber nicht mehr die zentrale Beziehung, das ist Saraswati geworden. Die eine wächst als Mixed-Race-Kind in Deutschland auf und die Eltern der anderen sind beide indisch. Außerdem gibt es in England eine Community, Priti gehört also zu einer sichtbaren Minderheit. Nivedita sieht nur die Vorteile, die Priti hat, es gibt aber auch ganz viele Nachteile. Nivedita teilt ihre Zweifel und ihr Suchen mit, während Priti ja den entgegengesetzten Weg gewählt hat: Sie macht es, in dem sie auf den Tisch haut, direkt in Konfrontationen hineingeht. Ihre Themen sind ähnlich, aber sie lösen sie auf unterschiedliche Weise.
SL: Priti ist auch oft einfach sehr lustig! Eine andere sehr wichtige Stimme in dem Roman ist die Göttin Kali, denn mit der redet Nivedita immer. Du präsentierst Kali nicht als eine innere Stimme von Nivedita, sondern sie ist einfach eine weitere Stimme. Sie scheint außerhalb von Nivedita zu existieren.
MMS: Jaja, und später sehen sie sogar auch die anderen Figuren. Das hat natürlich ganz viele Ebenen, es ist zum Beispiel eine Referenz an Salman Rushdies magischen Realismus, ganz klar. Es gibt schon am Anfang die Frage, ist es eine innere Stimme? Aber sie ist unabhängig von Nivedita, sie weiß mehr, aber nicht im Sinne einer allwissenden Instanz oder eines Gewissens. Und sie ist auch keineswegs die „authentische“ indische Stimme, sie unterläuft das auch alles.
SL: Kali ist vollkommen unvorhersehbar, es ist eine anarchische Stimme.
MMS: Ja, manchmal ist sie hilfreich, aber dann macht sie wieder ihr eigenes Ding. Viele der Themen, die da verhandelt werden, haben eine so lange und schmerzhafte Geschichte, dass ich das Gefühl hatte, wir brauchen jetzt mehr. Wir brauchen Magie, und da kommt Kali ins Spiel. Vor allem, wenn es um Heilung geht – und mir war wichtig, dass das Thema Heilung drin ist – kommen wir manchmal nur mit Theorien und Worten nicht weiter.
SL: Du hast einen sehr diskursiven Roman geschrieben.
MMS: Ja, kann man so sagen.
SL: Ich habe tatsächlich chronologisch gelesen und erst am Ende die Fußnoten und die Literaturliste entdeckt. Als in Fragen von race relativ ungebildete Leserin, lerne ich viel. Was war zuerst da: Die Figuren oder der Diskurs?
MMS: Es gab definitiv die Figuren zuerst. Aber ich habe schon mal vor 25 Jahren angefangen, ein Buch über diese Themen zu schreiben. Damals bin ich daran gescheitert, aus zwei Gründen: einmal, weil mir selber nicht klar war, was mein Thema ist, weil es in Deutschland damals einfach nicht verhandelt wurde, das war wie durch einen Nebel zu schreiben, und dann, weil der Buchmarkt dafür nicht bereit war. 2015 gab es diesen Rachel Dolezal-Fall in den USA, das war eine schwarze Bürgerrechtlerin, und irgendwann kommt heraus, sie ist eine Weiße. Auf einmal hatte ich den Aufhänger. Ihr wurden die gleichen Fragen gestellt, die auch mir mein Leben lang gestellt wurden: Wer bist du wirklich? Wie kannst du beweisen, wer du bist? Deshalb war ich nie in der Lage zu beurteilen, wie das ist, was sie gemacht hat. Ist es richtig, ist es falsch? Ich hatte immer eine tiefe Sympathie für sie, weil sie unter diesen Fragen so gelitten hat. Da treffen sich also Lebensthemen, aber vieles ist auch einfach ganz neue Recherche.
SL: Man lernt in diesem Roman unglaublich viel, aber er gibt keine Antworten. Wir wissen am Ende immer noch nicht, war es böse von Saraswati, eine indische Herkunft vorzutäuschen, darf sie das, darf sie das nicht? Ist jetzt race nur konstruiert und wenn ja, warum darf sie sich ihr Indisch-sein nicht konstruieren?
MMS: Race ist ein Konstrukt, aber eines, das in der Wirklichkeit reale Auswirkungen hat. Es ist eins, bei dem du keine individuelle Entscheidung triffst, es muss in der Gesellschaft ausgehandelt werden. Saraswati hat die Abkürzung genommen. Das führt zu Widerständen und ich finde diese Widerstände sehr produktiv. Ich habe für alle Positionen in der Debatte große Sympathien, für die Stimmen, die ihr Handeln verurteilen, aber auch für Niveditas Position, die ja sehr um Verständnis ringt. Ich will zeigen, dass die verschiedenen Figuren diesen unterschiedlichen Blick auf das Thema haben, weil sie mitbringen, was sie mitbringen. Jeder bringt seine Geschichte und seine Erfahrungen mit, es geht nicht um objektiv richtig oder falsch. Ich halte den Diskurs darum für sehr produktiv, auch wenn wir ihn oft destruktiv führen. Sowohl in der wirklichen Welt als auch im Roman. Da wird viel aufeinander eingehauen.
SL: Der Roman ist unheimlich witzig und gleichzeitig verhandelst du ziemlich schwere Themen. Es geht um Trauma und Heilung und Schmerz und Liebe. Trotzdem wird es nie zu schwer.
MMS: Darum war mir auch Humor so wichtig. Einer der großen Russen hat es gesagt, ich weiß nicht mehr, welcher: Je tiefer Themen werden, desto leichter musst du darüber schreiben. Und ich glaube, man kann bestimmte Abgründe nur thematisieren, wenn man eine gewisse Leichtigkeit dabei hat, damit du dich als Leser*in auch darauf einlassen und dich dem öffnen kannst. Und wir alle haben diese Abgründe in uns, das ist ja keine Frage von Hautfarbe. Die andere Sache ist: es ist ja alles immer total real und schwer und wichtig und gleichzeitig nicht. Denn Saraswati und Nivedita sitzen in der Wohnung, haben keinen Hunger, haben überhaupt alles, was sie brauchen, also denen geht es ja gleichzeitig auch total super. Nivedita hat das Gefühl, ihr Leben ist wegen Saraswatis Betrug zu Ende. Und trotzdem ist es wichtig, diese Gefühle zu haben, denn sie sind ja real.
SL: In deinem Roman kommen sehr viele unterschiedliche, starke Stimmen zu Wort, in Form der Figuren, aber auch in Form der Debatten in den sozialen Netzwerken. Ich habe erst im Nachhinein entdeckt, wie viele Leute Beiträge zu deinem Roman geschrieben haben, überwiegend in Form von Tweets, in denen sie auf die fiktiven Ereignisse reagieren. Wie kam das zu Stande?
MMS: Das ist eigentlich so entstanden, dass ich diesen Dolezal-Fall nach Deutschland transponieren und dann wissen wollte, ob sich Leute in Deutschland überhaupt darüber aufregen würden. Es könnte ja sein, dass hier alle einfach sagen, mach doch, was du willst. Also habe ich Menschen gefragt, wie sie darauf auf Twitter reagieren würden. Einige Leute haben mir Tweets geschickt, weil sie das so verstanden hatten und da habe gedacht, das ist ja toll. So ist das eigentlich entstanden und die Antwort war, ja. Ja, es berührt auch hier einen wunden Punkt.
SL: Hast du die Beiträge, die dir zugeschickt wurden, redigiert?
MMS: Nein, die habe ich tatsächlich so gelassen, höchstens hier und da gekürzt, ansonsten war es tatsächlich mein Programm: ich lass es genauso. Das ist das Tolle daran, und das hätte ich alleine gar nicht machen können, schon allein stilistisch. Die Leute hatten unterschiedliche Meinungen, aber vor allem schreiben sie unterschiedlich. Aber die Beiträge korrespondieren relativ gut miteinander, das ist ja im Internet häufig nicht so. Du kannst das Internet in seiner Langweiligkeit und der Wiederholung vieler Tweets gar nicht darstellen.
SL: Und ich dachte, Mithu ist wonder woman, sie kann wie all diese Leute schreiben! Denn viele kannte ich ja von meiner Timeline.
MMS Überhaupt nicht! Schreiben wie jemand anderer ist noch viel schwieriger als schreiben wie man selber.
SL: Das Thema Rassismus ist sehr komplex und schwierig und man kann leicht Menschen verletzen, ohne es zu wollen. Das zieht sich durch den ganzen Roman. Reicht es, dass wir uns mit unserem angelernten Rassismus auseinandersetzen?
MMS: Ich finde es wichtig und gut, dass Leute das tun, aber sehr oft geht es um gesellschaftliche Strukturen, die wir verändern müssen. Es reicht nicht, wenn wir als Individuen versuchen, bessere Menschen zu werden. Beispiel: Strukturen im Gesundheitssystem. Wir wissen immer noch nicht, wie sehen Krankheitssymptome auf brauner und schwarzer Haut aus? Beispiel Herzinfarkt, Hautrötung. Wow! Keine Ahnung. Dazu gibt es nichts. Ist nicht erforscht worden. Letztes Jahr hat Malone Mukwende, ein Medizinstudent im zweiten Semester, ein Handbuch dazu geschrieben. Erst 2020, unglaublich, oder? Es gibt einfach viele Fälle, in denen die Strukturen nicht da sind, egal, wie nett du bist, egal, wie sehr du dich als individueller Arzt oder Ärztin mit Rassismus auseinandergesetzt hast, es gibt das Wissen nicht. Natürlich müssen wir an unserer Wahrnehmung voneinander arbeiten, aber ich habe das Gefühl, dass wir Dinge auf einer persönlichen Ebene verhandeln, die eigentlich gesellschaftlich sind, und da können wir es nur falsch machen. Und es ist auch klar, wenn ich ein Buch unter anderem über Rassismus schreibe – es geht in “Identitti” ja um viel mehr – werde ich darin Fehler machen, es lässt sich gar nicht vermeiden. Ich habe jetzt schon ein paar Dinge, die ich in der nächsten Auflage verändern werde. Und es ist toll dazu zu lernen!
SL: In deinem Roman werden viele PoC- oder nicht-europäische Autor*innen zitiert: Beispiel Zadie Smith, Hanif Kureishi, Arundhati Roy. Was hat es für dich bedeutet, sie zu lesen? Und welche Spuren davon finden wir in deinem Roman?
MMS: Hanif Kureishis „Der Buddha aus der Vorstadt“ hat wirklich mein Leben verändert. Also einen Roman von einem mixed-race Ich-Erzähler zu lesen war umwerfend. Und eine Weile dachte ich, dass er alles geschrieben hätte, was es zu dem Thema zu sagen gibt, weil mich das Buch so überwältigt hat. Viele der Bücher waren wie Liebesbeziehungen für mich, da waren Stimmen, mit denen ich kommunizieren wollte, weil sie so sehr zu mir gesprochen haben, und ich wollte zurücksprechen, mich direkt mit ihnen unterhalten. Und in gewisser Form ist dieser Roman dieses Gespräch.
SL: Wie bist du beim Schreiben deines Romans vorgegangen. Chronologisch?
MMS: Jein. Ich habe mal Jenny Erpenbeck zu der Frage interviewt, wie sie Romane schreibt und sie meinte, sie schreibt immer einzelne Kapitel. Ein Kapitel schafft man, das ist so eine Mittelstrecke, aber einen ganzen Roman schafft man nicht. So bin ich dann auch vorgegangen. Ich habe den Stoff eingeteilt und alles in die Kapitel reingepackt. Das ist nie da geblieben, das hat sich immer verändert. Aber die ganze Handlung ist quasi von alleine zu mir gekommen. Das hatte eine Zwangsläufigkeit und musste so geschehen, wie es dann in dem Roman geschieht. Das dann aber zu einem Text zu machen, der als Text funktioniert, war wahnsinnig viel Arbeit. Es ist viel viel mehr Arbeit als die Sachbücher gewesen. Aber das, wovon ich dachte, dass es viel Arbeit wäre, nämlich sich die Geschichte auszudenken, hat sich ganz viel von selber geschrieben. Und immer, wenn ich spazieren gegangen bin oder mit dem Fahrrad unterwegs war, kamen mir die Dialoge und ich musste nur gucken, dass ich sie auch aufgeschrieben kriege. Die meisten Dialoge haben sich zumindest im Keim selbst geschrieben und dann machst du sie halt besser.
SL: Die Dialoge sind super, und ich habe keine besondere Schwäche für dialoglastige Romane.
MMS: Ich komme ja eher aus der englischen Literatur, da wird sehr viel über Dialoge erzählt. Dialoge werden auch mit Anführungszeichen geschrieben, nicht nur mit Doppelpunkten oder Spiegelstrichen wie im Deutschen. Ich war eher überrascht, wie viel im Roman dann keine Dialoge waren.
SL: Du bringst in dem Roman eine Menge diskursive Kenntnisse an die Leserin, dabei wirkt er nie didaktisch.
MMS: Das ist die Hoffnung und das war auch meine große Angst. Also, ich wollte keinen Diskursoman schreiben, sondern einen, in dem Diskurs eine große Rolle spielt. Ich hoffe natürlich, dass es beides ist, aber dass du den Roman vor allem liest, weil du den Figuren folgen willst und sie dir das Gefühl geben, es ist auch emotional wichtig. Ich wollte schon einen Roman-Roman schreiben.
SL: Vor Weihnachten habe ich dich in einer Online-Performance ein Plädoyer für die Liebe halten sehen. Das hat mich sehr beeindruckt. Inwiefern ist Liebe ein Antrieb deiner Figuren?
MMS: Der Roman endet ja mit Kalis Worten „Let love flow like a river”, das ist ja kein Zufall. Liebe ist zentral. Und über das Thema Love Politics, über das ich bei der Performance geredet habe, würde ich gerne irgendwann ein Buch schreiben. Wir machen doch nur Politik miteinander, weil es darin Liebe gibt, für einander und für unsere politischen Ziele. Und es ist für Nivedita ein wichtiger Antrieb. Es ist ja eine Liebesgeschichte zwischen ihr und Saraswati, nur eben eine intellektuelle und keine sexuelle Liebesgeschichte. Also eine zwischen Professorin und Studentin, so was wie Club der toten Dichter, aber meistens sind es eben Männer. Es ist ja schon ein Topos, die Liebe zu den Menschen, an denen du wächst, von denen du lernst. Doch irgendwann musst du dich von ihnen trennen, musst eigenständig werden. Meistens passiert es nicht durch so einen großen Verrat wie in dem Fall von Saraswati, aber es muss irgendeinen Bruch geben. Es geht auch um die Frage, wie sich Communities bilden, Verbindungen entstehen, denn Niveditas Auseinandersetzung mit sich selber ist ja nicht nur eine egoistische, also ich für mich, sondern es gibt ein Uns und die Frage, wer sind wir in dieser Gesellschaft und wie können wir uns miteinander verbinden?
SL: Noch ein Thema, auf das ich gerne zu sprechen kommen würde. Welche Rolle spielen Orte in dem Roman? Er spielt in Düsseldorf Oberbilk, es gibt die Ruhr-Universität Bochum. Und gleichzeitig gibt es all diese Menschen, die sich aus verschiedenen Kontinenten zusammensetzen.
MMS: Es macht mich froh, dass du danach fragst, denn es ist ein ganz wichtiges Thema in dem Roman, das auch im Schreiben an Wichtigkeit gewonnen hat. Erst dachte ich, ich lass das in so einer namenlosen Universitätsstadt spielen, es muss gar nicht verortet sein. Aber dann war sehr schnell klar: Doch, es muss verortet sein, aus unterschiedlichsten Gründen. Auch weil vieles der Handlung so phantastisch ist, dass ich alles andere ganz real machen wollte. Also jeden Ort und jedes Klo gibt es wirklich. Und jede Figur des öffentlichen Lebens gibt es nur die Handlung ist erfunden. Und dieser Stadtteil ist mir tatsächlich ganz wichtig. Oberbilk ist ein Stadtteil, der nur durch Migration entstanden ist. Fabriken haben sich hier angesiedelt und haben die belgischen Stahlarbeiter hier Stahl produzieren lassen. Dann kam die nächste Migrationswelle und die nächste und die nächste. Dadurch ist dieser Stadtteil entstanden, der sich aus Migration ohne einen Stolz darauf entwickelt hat. Alle wollten immer gleich weg aus Oberbilk. Das ist es auch, womit ich aufgewachsen bin: Mit diesem Stadtteil der so eine heftige Migrationsgeschichte hat, die aber unsichtbar bleibt, da redet niemand drüber. Das ist sehr bezeichnend für unseren Umgang mit dem Thema. Ich wollte auch, dass es nicht in Berlin spielt, also an einem wichtigen Ort, sondern in der Provinz, denn Leben findet auch woanders statt. Und Nivedita ist eh schon so wurzellos, dass sie das Gefühl hat, wenn sie jetzt nach London oder so gehen würde, würde sie sich ganz verlieren.
SL: Weil sie sich im Laufe des Buches ein Stückweit gefunden hat.
MMS: Ja, absolut. Und wenn du deine Wurzeln gefunden hast, dann brauchst du sie nicht mehr, das ist ja das Gemeine.
SL: Im Verlauf des Romans geschehen die Morde von Hanau und die Außenwelt bricht ein in dieses Kammerstück. Wie war es für dich, über diese Morde zu schreiben?
MMS: Sie sind ja während ich geschrieben habe passiert. Ich hatte mir ursprünglich überlegt, ich wollte mit einem Terror-Anschlag enden, aus ganz vielen Gründen. Aber die Rachel Dolezal-Geschichte endet mit Charleston, als dieser weiße Gunman in die schwarze Kirche reingeht und acht Menschen erschießt. Und das ist dann erstmal das Ende dieser Debatte. Natürlich reden wir immer noch darüber, aber tatsächlich in einer anderen Form. Was ich krass finde in der deutschsprachigen Literatur: Wir schreiben nicht über rassistische Anschläge. Warum nicht? Es ist ja Teil unseres Alltags, also nicht in dem Sinne, dass wir Angst haben, auf die Straße zu gehen, aber es ist Teil einer Lebenswirklichkeit. Ich bin ja auch nicht über die Mauer geflohen und trotzdem ist es Teil der Literatur und muss abgebildet werden. Dann ist Hanau passiert und ich wusste, ich wollte das drin haben. Ich hatte viele Bedenken, dachte, ich kann nicht das Leiden der anderen als Kulisse benutzen. Ich habe für den Roman bei vielen Sachen Leute gefragt, eher zu ethischen als zu stilistischen Fragen – darf ich das, was denkst du? – und in Bezug auf Hanau war das Feedback: Unbedingt, das muss rein. Es soll in irgendeiner Form ein Denkmal in der Literatur geben – es ist ja nur ein ganz kleines Denkmal.
SL: Eine Frage, die ich dir noch unbedingt stellen wollte, nicht zuletzt, weil ich dich und dein Schreiben schon so lange kenne: Wie lange hat dieser Roman sich angekündigt und wie lange hast du real daran geschrieben?
MMS: Das kann ich dir relativ konkret sagen. Er hat sich wohl 25 oder 30 Jahre angekündigt, aber ich habe ihn dann am Ende in einem halben Jahr geschrieben, sogar eher kürzer, also vielleicht vier Monate.
SL: Ehrlich?
MMS: Aber. ABER. Es hatte einen Vorlauf, ich hatte schon die ersten hundert Seiten geschrieben.
SL: Aber es war ja doch ein ziemlich schneller Schreibprozess.
MMS: Ja, aber auch, weil ich eine Deadline hatte. Bei Hanser haben sie gesagt: In einem halben Jahr. Und ich hatte noch eine Menge anderer Deadlines, insofern waren das dann schon so sechzehn-Stunden-Tage. Das war auch körperlich irre anstrengend.
SL: Es ist der ziemlich perfekte Zeitpunkt für diesen Roman, oder? Das Interesse an diesen Themen ist riesig im Moment.
MMS: Absolut, das sagen mir auch viele Journalist*innen ganz ehrlich: es ist das Thema der Zeit, deshalb haben auch die Redaktionen gesagt, sie machen das.
SL: Aber man merkt, dass es wirklich dein Thema ist, dass du ihn nicht geschrieben hast, weil das Thema so en vogue ist. Da stecken wahrscheinlich Gedanken und Gefühle von dreißig Jahren drin.
MMS: Ja klar. Und das ist auch die einzige Angst, die ich habe: dass ich kein weiteres Thema habe, mit dem ich so tief verbunden bin (lacht) und ich dann keinen zweiten Roman schreiben werde.