von Maximilian John
Für viele Menschen scheint die Videospielindustrie von außen betrachtet ein sehr attraktives Berufsfeld zu sein. Das Versprechen, das Hobby zum Beruf zu machen, führt viele Menschen in den Bereich. Jason Schreiers Bücher geben Einblicke in eine Industrie, die viel zu häufig Enthusiasmus ausnutzt, um schlechte Arbeitsbedingungen zu rechtfertigen.
Es war jahrelang eine beliebte Phrase des Videospieljournalismus, dass Videospiele “in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind”. Neben Statistiken, die zeigten, dass eine immer größere Anzahl an Menschen regelmäßig spielte, wurde auch häufig der unübersehbare kommerzielle Erfolg der Industrie als Beleg zitiert. Schon Mitte der 2000er Jahre schaffte es die Videospielindustrie rein monetär betrachtet an die Filmindustrie heranzukommen, sie stellenweise sogar zu übertreffen. Mittlerweile haben sich Videospiele aus ökonomischer Perspektive als eine der wichtigsten Kulturindustrien der Welt etabliert. Mehrere Videospielpublisher gehören zur Liste der Fortune 500 Companies, also zu den umsatzstärksten Unternehmen der Vereinigten Staaten. Entsprechend ist es wenig verwunderlich, dass nun auch immer häufiger die Videospielindustrie als solche in den Blick gerät.
Einer der bekanntesten Journalisten in diesem Bereich ist Jason Schreier. Bis Anfang 2020 bei Kotaku und seitdem bei Bloomberg veröffentlicht er immer wieder investigative Berichte über den Zustand der Spieleindustrie. Die oft langen, in ihrer Form relativ einzigartigen Texte (ein nicht kleiner Teil anderer investigativer Berichte dieser Art erschien ebenfalls im Umfeld von Kotaku) zeigten ein Bild der Industrie, das sich von der eigenen Außendarstellung der Unternehmen stark unterschied. Schreier zeigte Probleme und Fehlentscheidunge auf, aber er beschrieb auch teilweise problematisches Verhalten von Führungspersonen und löste damit mehrmals kleine bis mittelgroße Skandale aus.
Neben seiner Arbeit bei Kotaku und Bloomberg ist Schreier auch der Autor zweier erfolgreicherer Bücher über die Videospielindustrie: Blood, Sweat and Pixels von 2017 und Press Reset von 2021. Letzteres schaffte es zeitweise sogar in die Bestsellerliste der New York Times.
Blood, Sweat and Pixels widmet sich der Frage, wie Videospiele entstehen und warum viele Produktionen so oft in Schwierigkeiten geraten. Vielen Spieler*innen ist nicht bewusst, wie häufig Produktionen in Probleme geraten: Es wird in der Regel nur thematisiert, wenn auch das Endprodukt noch mit massiven Problemen zu kämpfen hat. Ein Beispiel hierfür ist Cyberpunk 2077, dessen Veröffentlichung in einem unfertigen Zustand eine Diskussion über Entwicklungsprobleme nach sich zog.
Anhand von zehn abwechslungsreichen Beispielen, von großen Titeln mit riesigem Budget bis hin zum anfänglichen Amateur, der fünf Jahre alleine in seiner Wohnung vor sich hin arbeitet, stellt Schreier ein Sammelsurium an Schwierigkeiten vor, die während einer Videospielproduktion auftreten können. Dabei sind die Probleme so verschieden wie vielschichtig, aber sie lassen sich letztendlich in Schreiers Analyse auf ein großes Problem zurückführen: Videospiele sind ein komplexes Zusammenspiel aus Kunst und Technik, das aufgrund dieser Komplexität nicht von vornherein vollständig planbar ist. Zu viele Aspekte greifen durchgehend ineinander und sind aufeinander angewiesen, was dazu führt, dass selbst kleinere Änderungen eine ganze Produktion ins Schleudern bringen können.
Die faktischen Probleme, die sich aus dieser Grundproblematik ergeben, sind von Projekt zu Projekt unterschiedlich und können mal stärker auf der künstlerischen, mal mehr auf der technischen Seite liegen. Dabei können die Problemfelder allerdings nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Ein Beispiel liefert Dragon Age: Inquisition. Das Entwicklerstudio Bioware entwickelte die technische Grundlage (Engine) des Spiels während der Entwicklung des Spiels, statt, wie üblich, auf eine bestehende Technik zurückzugreifen. Dieser Umstand sorgte dafür, dass viele Aspekte des Spiels erst relativ spät im Entwicklungsprozess getestet werden konnten. Eine direkte Folge davon war ein schlecht gestaltetes Startgebiet mit vielen gleichförmigen Aufgaben, das viele Spieler*innen schon in den ersten Spielstunden vergraulte.
Andersherum kann aber auch eine Veränderung der Geschichte dazu führen, dass technische Aspekte stark überarbeitet werden müssen, um neue zur Geschichte gehörende Spielelemente zu ermöglichen. Das war etwa beim nicht veröffentlichten Star Wars 1313 der Fall, das mehrmals überarbeitet werden musste, da der Star-Wars-Übervater George Lucas Änderungen in der Geschichte des Spiels verlangte. Im Zusammenspiel damit, dass oft erst während des Testens wirklich ermittelt werden kann, ob ein Spiel denn auch Spaß macht, kommt es deshalb sehr oft zu kurzfristigen Planänderungen, nicht selten verbunden damit, dass bereits erledigte Arbeit obsolet wird.
Vor dem Hintergrund knapper Budgets und Zeitpläne, die trotz aller Probleme eingehalten werden müssen, ist etwas, das als Crunch bezeichnet wird, ein häufiges Phänomen in der Branche. Crunch ist der etablierte Begriff für eine hohe Belastung, meist in der letzten Phase eines Projekts, in der viele Überstunden und Wochenendarbeit an der Tagesordnung sind. Während kurze und selten auftretende Crunchphasen in fast allen Industrien vorkommen können, sind sie in der Videospielindustrie eher die Regel als Ausnahme:
“Seit Jahrzehnten sind häufige Überstunden eine verbreitet Praxis und werden als so integral für die Spielentwicklung betrachtet wie Knöpfe oder Computer. Manche argumentieren, dass Crunch aus einem Versagen der Führung und des Projektmanagments entsteht, dass es unvertretbar ist, dass Mitarbeiter*innen über Monate hinweg 14 Stunden am Tag ohne mehr Gehalt arbeiten müssen. Andere sagen, dass Spiele nur so entwickelt werden können.”[1]
Das Makabre am Crunch (und eine Schwierigkeit der Kritik daran) ist, dass die Mehrarbeitszeit nur selten seitens der Studioleitung offiziell vorgeschrieben wird. Selbst Naughty Dog, das Studio hinter den Erfolgsreihen Uncharted und The Last of Us, das für diese Praktik berüchtigt ist, hat die Überstunden nie offiziell angeordnet. Aus diesem Grund werden die Überstunden auch nicht bezahlt. Das heißt allerdings nicht, dass die Entscheidungsträger*innen der Spielestudios nicht verantwortlich sind. Die Akzeptanz seitens der Studioleitung und eine durchgehende Gefahr des Arbeitsplatzverlustes, gepaart mit sozialem Druck, führt dazu, dass eine offizielle Anordnung von Überstunden auch nicht notwendig ist, damit sich Crunch trotzdem über Monate oder sogar Jahre, manchmal über mehrere Projekte hinweg, ziehen kann.
Und so ist es wenig verwunderlich, dass das bewusst in Kauf genommene Knirschen im System in fast jedem Kapitel beider Bücher thematisiert wird. Unabhängig von der genauen Situation des Entwicklerstudios kam keines der beschriebenen Beispiele ohne mehrmonatigen Crunch aus. Manchmal, weil ein Publisher nicht bereit ist, mehr Geld zu investieren, manchmal aber auch, wie im Fall von Yacht Club Games, weil das unabhängige Studio schlicht pleite gegangen wäre.
In diesem Aspekt zeigt sich auch eine Schwäche von Blood, Sweat and Pixels. Schreier stellt Crunch nur als Fakt hin, ohne ihn zu hinterfragen und kritisieren und lässt Menschen, die diese Zustände als Notwendigkeit darstellen, unkommentiert zu Wort kommen. Zudem zeigt er die Auswirkungen, die über längere Zeiträume eine potentiell sehr große psychische Belastung darstellen, nur teilweise auf. Dies änderte sich seit Veröffentlichung des Buches deutlich. Schreier ist mittlerweile ein scharfer Kritiker der Crunchkultur und hebt immer wieder Studios hervor, die ohne diese systemimmanente Überarbeitungskultur auskamen.
Doch die Probleme der Arbeitsbedingungen in der Videospielindustrie enden nicht mit dem Crunch. Ein Problem, auf dem der Fokus des zweiten Buches liegt, ist die fehlende Arbeitssicherheit in der Branche. Auch wenn viele Spielestudios im Rahmen ihrer Einstellverfahren eine Karriere versprechen, liegt die durchschnittliche Verweildauer bei einem Studio bei deutlich unter fünf Jahren. Das liegt zum Teil an der weit verbreitet Praxis, nach der Veröffentlichung eines Spiels einen nicht unerheblichen Teil der Mitarbeiter*innen zu entlassen, zum Teil aber auch an einer sehr hohen Quote an Studios, die geschlossen werden.
Der Fokus des Buches liegt auf Studioschließungen. Dabei zeigt Schreier, wie unterschiedlich auch hier die Probleme sein können, die zu Studioschließungen führen. Im Fall des Entwicklers der Reihe Bioshock, Irrational Games, reicht es etwa aus, dass der Studiogründer und kreativer Kopf (zumindest in der Außendarstellung) Ken Levine das Studio verließ, um sich wieder kleineren Projekten zu widmen. An anderer Stelle, vor allem in dem Abschnitt über das Entwicklerstudio hinter Kingdoms of Amalur: Reckoning, werden als Gründe die miserablen wirtschaftlichen Entscheidungen genannt. Unabhängig vom Grund ist es aber im Endeffekt immer so, dass ein Teil (im besten Fall) oder sogar alle Mitarbeiter*innen von heute auf morgen ohne Job dastehen. Eine neue Anstellung zu finden, ist dabei nicht unbedingt unproblematisch, gerade wenn sich das Studio, wie im Fall von Big Huge Games, nicht in einer der Städte mit vielen Entwicklungsstudios befindet.
Eine der großen Stärken von Schreiers Büchern sind die anschaulichen und empathischen Darstellungen, die zudem nicht viel Vorwissen über die Videospielindustrie benötigen, um verstanden werden zu können. Diese Anschaulichkeit macht die Probleme der Videospielproduktion greifbar. Dennoch sind die einzelnen Abschnitte im Fall von Blood, Sweat and Pixels überwiegend Erfolgsgeschichten. Es ist nicht primär ein Buch über die Probleme der Videospielindustrie, sondern vor allem eines über deren Überwindung. Leider bleibt eine über die einzelnen Beispiele hinausgehende Reflexion der Probleme auf der Strecke. Die Beispiele stehen nebeneinander und werden nur durch die Einleitungs- und Fazitkapitel in einen gemeinsamen Rahmen eingeordnet.
Dadurch bleibt die Analyse der strukturellen Probleme an der Oberfläche. Anders sieht es in Press Reset aus. Dieses deutlich kritischere Buch zeigt keine Geschichten des Erfolgs, sondern des Scheiterns. Auch wenn die einzelnen Abschnitte ineinander überleiten, da manche portraitierte Personen gleich in mehreren der behandelten Studios arbeiteten, bleibt aber auch hier ein Nebeneinander der Texte bestehen. Allerdings fällt der einordnende Blick zu Anfang und Ende des Buches deutlich ausführlicher aus, wobei auch hier die Analyse der strukturellen Probleme leider an der Oberfläche bleibt. Auch die Lösungen, die Schreier im Nachwort vorschlägt, bleiben nur skizziert. Das ist insofern schade, als der Autor in Podcasts und Interviews immer wieder zeigt, dass er zu dieser Form struktureller Analyse fähig ist und sich das im Buch in Ansätzen zeigt.
Auch wenn beide Bücher verschiedene Arten von Entwicklungsstudios und Produktionen zeigen, bleiben sie doch weitestgehend auf Nordamerika beschränkt, mit wenigen Beispielen aus Europa. Das ist schade, da sich der ganze Diskurs über Arbeitsbedingungen in der Industrie generell weitgehend auf diese beiden Kontinente bezieht, und beispielsweise die japanische Videospielindustrie, die immerhin mit Nintendo und Sony zwei von drei der wichtigsten Konsolenhersteller stellt, komplett außen vor bleibt. Hier hätten Einblicke eine Darstellung der Videospielindustrie deutlich erweitern können.
Schreier wird dem eigenen Anspruch zu erkunden, warum Videospielproduktionen oft schwierig sind und woher die schlechten Arbeitsbedingungen der Videospielindustrie entstehen, also nur halb gerecht. Das macht die Bücher allerdings nicht weniger lesenswert. Sie bieten vergleichsweise tiefgehende und seltene Einblicke in eine Industrie, die erst seit wenigen Jahren überhaupt als Industrie ernst genommen wird. Damit stellen die Bücher einen Kontrast zu einer Berichterstattung dar, die nach wie vor zu oft nur Pressemitteilungen unkritisch übernimmt und fast schon ein verlängerter Arm der PR ist. Zudem sind Schreiers Bücher eine gute Ergänzung und Erweiterung zu all jenen Texten, die Videospiele zwar als Kunst darstellen, aber dabei die Produktionsbedingungen vollkommen ausblenden. In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass in absehbarer Zeit Übersetzungen von beiden Büchern in deutscher Sprache erhältlich sein werden, um auch Menschen ohne englische Sprachkenntnisse diese Einblicke zu ermöglichen.
[1] „For decades, extended overtime has been a ubiquitous practice, seen as integral to game development as buttons or computers. It’s also been controversial. Some argue that crunch represents failure of leadership and project management—that for employees to spend months working fourteen-hour days, usually for no extra money, is unconscionable. Others wonder how games can be made without it.“