von Leander Steinkopf
Wenn Schriftstellerinnen und Schriftsteller zusammenkommen, reden sie erfahrungsgemäß eher selten über die Romane der Gegenwartsliteratur, die ihr inhaltliches Arbeitsumfeld bilden. Stattdessen geht es um die neuesten Verlagswechsel ihrer Peers, um den Medienhype, der einen Kollegen beglückte, oder um die zahlreichen Preise und Stipendien, die eine Kollegin zuerkannt bekam. Im Arbeitsalltag übt man sich in epischer Geduld. Umso mehr schätzt man in der Freizeit diese kleinen Geschichten von Sieg und Niederlage, von wer mit wem, von Fairness und Ungerechtigkeit, die schneller ins Blut gehen als Romane der handelsüblichen Länge. Verbunden ist dies oft mit Gefühlen, die man angesichts des reflexiven Ideals der Schriftstellerei für überraschend halten könnte, nämlich mit Neid und Missgunst.
Weiterlesen: Der Buchkäuferkuchen und die MissgunstmaschineIn der Literaturwelt, wie sie sich den Schriftstellerinnen und Schriftstellern präsentiert, sind die wichtigen Ressourcen eng begrenzt: die Bestseller- und Bestenlistenplätze, die Preise und Stipendien, die Bücherseiten der Zeitungen und die Sendezeit der Büchersendungen. Obendrein erzeugen all diese Güter öffentliche Aufmerksamkeit, mitunter besteht ihr Wert ausschließlich darin. Und so laden sie viel offensiver zum sozialen Vergleich ein, als es etwa hinter verschlossenen Türen verhandelte Gehälter von Angestellten tun. Es ist also nicht selbstverständlich, sich an dem guten Buch einer Schriftstellerkollegin zu erfreuen, wenn die Qualität ihres Werkes auch bedeutet, dass die eigenen Chancen auf die begehrten Ressourcen dadurch geringer ausfallen. Ein Preis, ein Bestenlistenplatz, eine Rezensionsseite kann nur einmal vergeben werden. Der Wettbewerb ist ein Nullsummenspiel.
Diese Sicht auf die Bücherwelt ist nicht die einzig wahre, es ist auch eine andere Perspektive möglich: Man könnte sich als Schriftstellerin und Schriftsteller mit gutem Grund freuen, wenn man seine Zeitgenossen um die Qualität ihres Schaffens beneidet. Das könnte nämlich heißen, dass man das Glück hat, in literarisch guten Zeiten zu leben.
Gute Zeiten, schlechte Zeiten
Eine Zeit, in der es viele gute Schriftstellerinnen und Schriftsteller gibt, könnte man einerseits als Zeit betrachten, in der es viel Konkurrenz gibt. Man kann sie aber auch als Zeit betrachten, in der sich das Lesen von Gegenwartsliteratur besonders lohnt und dadurch besonderer Beliebtheit erfreut. Ein Buch allein macht keine Blütezeit, eine Autorin, ein Autor allein macht keinen Aufschwung. Es sind all die Zeitgenossen – mögen sie besonders zahlreich sein – die man als Autorin und Autor um ihr einzigartiges Können und Tun beneidet, die gemeinsam die Blüte bilden. Lebt man als Autorin oder Autor hingegen in Zeiten, in denen weit und breit kein Zeitgenosse Neid erregt, hat man das Pech, in schlechten Zeiten zu schreiben. Sind da aber viele gute Andere, steigern diese, völlig absichtslos und als bloßes Nebenprodukt ihres individuellen Schaffens, den Ruf ihres Mediums und ihrer Generation, sodass andere, die diesem Medium, dieser Generation und Gegenwart angehören, im Fahrstuhl mit nach oben fahren. Autorinnen und Autoren stehen dann nicht einfach in Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Kaufenden und Kritisierenden, sondern tragen großzügig bei zum Gemeingut guter Literatur.
Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Vergangenheit und etwas weiter zurückreichenden Gegenwart, die heute klingende Namen sind, waren selten Solitäre. Das Aufsehen, was sie einst erregten, haben sie auch jenen zu verdanken, die gleichzeitig groß waren. Die heutige Sehnsucht nach den 1920er Jahren etwa wäre doch längst nicht so groß, wenn nur Vicki Baum damals geschrieben hätte, nur Walter Benjamin oder nur Joseph Roth. Es ist gerade die Fülle der brillanten Autorinnen und Autoren, welche die Zeit so interessant macht. Und jener besondere Glanz dieser Zeit bestrahlt umgekehrt jene, die in ihr und über sie schrieben. Die Fülle, die wir heute mit Blick auf die 1920er wahrnehmen, ist also einerseits tatsächlich mit Fülle begründet, andererseits damit, dass der Glanz der Zeit mehr damalige Autorinnen und Autoren in das Licht heutiger Aufmerksamkeit rückt.
Generalisierung und elastische Nachfrage
Man kann davon ausgehen, dass die Leserinnen und Leser in irgendeiner Weise darauf reagieren, wie gut die Gegenwartsliteratur insgesamt ist oder als wie gut sie gilt, ja, von dieser Wahrnehmung hängt wohl ab, ob man die Leserinnen und Leser überhaupt und wenn ja wie oft, als Leserinnen und Leser bezeichnen kann. Sie, genauso wie die Kritikerinnen und Kritiker, die Vermittlerinnen und Vermittler, generalisieren zu guten Jahrgängen und guten Zeiten, zu schlechten Jahrgängen und schlechten Zeiten. Und heutzutage hört man eben oft, dass die deutsche Gegenwartsliteratur vielleicht nicht die interessanteste sei, während etwa aus Frankreich die spannenden Sachen kämen.
Nun sind natürlich nicht alle deutschen Bücher schlecht, und nicht alle französischen gut, aber hat sich eine Generalisierung erst herumgesprochen, wird der schlechte Ruf auch guten deutschen Autoren schaden, der gute Ruf auch schlechten französischen Autoren nutzen. Mancher französische Autor mag Houellebecq seinen Erfolg neiden, wird aber von dessen Glanz doch profitieren, weil er in Frankreich das Gewicht und Prestige von Literatur steigert und jenseits Frankreichs das Interesse an französischer Literatur. In Deutschland mag man derweil mit mehr Selbstzufriedenheit seine Romane schreiben, weil es an den international herausragenden Persönlichkeiten fehlt, hat aber alle Nachteile des bescheidenen Rufs der deutschen Gegenwartsliteratur. Christian Kracht und Daniel Kehlmann sind vielleicht auch deshalb nach Nordamerika umgezogen – an unterschiedliche Enden des Kontinents –, um mit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht in Verbindung gebracht zu werden.
In einer Welt, in der Bücherkonsum nicht so sehr durch mangelnde Lesezeit, sondern durch mangelnde Leselust begrenzt ist, wo die freie Zeit, die man eigentlich lesend verbringen könnte, lieber für Netflix und soziale Medien verwendet wird, stehen Autorinnen und Autoren am Markt weniger in Konkurrenz zueinander als gemeinsam in Konkurrenz zu anderen Medien. Wenn man davon ausgeht, dass ein imaginärer Leser im Jahr sechs Bücher kauft, seine Nachfrage vollkommen unelastisch ist, dann geht es für den Autor darum, dass sein Buch eines von diesen sechs ist, dann besteht harte Konkurrenz zwischen den Autorinnen und Autoren, dann kann man sich freuen, wenn die anderen erfolglos sind, wenn sie literarisch scheitern. Geht man hingegen davon aus, dass die Nachfrage variabel ist, dass also der imaginäre Leser auf die Bücher vier bis sechs überhaupt keine Lust mehr hat, weil die Bücher eins bis drei so schlecht waren, oder umgekehrt, dass er die sechs Bücher mit solch einer Freude gelesen hat, dass er im selben Jahr nochmal sechs Bücher kauft, dann verändert dies die Sicht auf das Schaffen anderer Autorinnen und Autoren, auf die Arbeit konkurrierender Verlage.
Gute Bücher anderer Schreibender steigern dann die Chance, dass auch das eigene Werk gelesen wird. Der Kuchen wächst und auch wenn man von ihm nur ein kleines Stück abbekommt, ist dies allemal mehr als das Stück, das man in mageren Zeiten von einem kleineren Kuchen bekäme.
Neid in den Strukturen
Missgunst und Konkurrenzdruck werden aber gepflegt durch die gängigen Rückmeldungen, die der Literaturbetrieb bietet. Der Kult um die Bestsellerliste gibt dem Gedanken Futter, dass sich Autorinnen und Autoren und ihre Werke nach Rang sortieren lassen, dass die Plätze für Literatur begrenzt sind, und dass man selbst den Platz nicht bekommt, wenn ein anderer ihn innehat. Es gibt immer bloß zehn Bücher in den Top Ten, da aber die Verkaufszahlen nicht öffentlich genannt werden, merkt man nicht, dass die verkauften Auflagen der Bücher, die in die Top Ten gelangen, über die Jahre stetig gesunken sind: Wenige Glückliche erreichen die Plätze, aber alle gemeinsam haben verloren.
Ähnlich starr und knapp sind die Rezensionsplätze in den Zeitungen, die Programmplätze der guten Verlage und die Lesungstermine der Literaturhäuser. Ironischerweise leisten selbst die Strukturen der Literaturförderung Neid und Missgunst Vorschub. Es gibt eine feste, ganz unflexible Zahl von Preisen und Stipendien, die in Deutschland vergeben werden. Im Gegensatz zur elastischen Nachfrage am Buchmarkt, ist die Verteilung von Geld und Anerkennung hier wirklich ein Nullsummenspiel. Höchstens wird eine Preissumme mal zwischen zwei Preisträgern aufgeteilt, nie jedoch werden ausnahmsweise mehr volle Preise vergeben, wenn ein Buchjahr besonders gut war. Selten wird eine Preisvergabe gestrichen, wenn das Buchjahr nichts hergab. Wenn man als Autorin oder Autor auf Einkommen durch Preise und Stipendien schielt – und die reichhaltige deutsche Förderlandschaft lädt dazu ein – dann liegt es nahe, sich von Mitschriftstellern schlechte Bücher zu erhoffen, weil dies die eigenen Förderchancen erhöht.
Oft wird gegen das deutsche Förderwesen vorgebracht, dass es die Schreibenden der materiellen Not und Notwendigkeit entzieht, was eine Voraussetzung sei für große Literatur. Ein anderer Kritikpunkt lautet, dass Förderung die Autorinnen und Autoren in eine Richtung locke, die zwar bei professionellen Jurys Eindruck schindet, die unprofessionellen Leserinnen und Leser aber nicht anspricht. Hier sei noch ein anderer Kritikpunkt hinzugefügt: Das großzügige Preis- und Stipendienangebot schafft eine starre Konkurrenzsituation, die am freien und elastischen Buchmarkt überhaupt nicht bestünde. Das deutsche Förderwesen konstruiert eine starre Konkurrenzsituation, wo eigentlich – zumindest ein Stück weit – eine Win-Win-Situation möglich wäre.
Neid und Missgunst, das sind schlechte Eigenschaften, aber von Schriftstellerinnen und Schriftstellern empfunden, können es gute Zeichen sein, Hinweise auf eine gute Zeit der Literatur. Das gilt natürlich nur, wenn der Neid sich auf die Qualität der Werke bezieht und nicht bloß Frust darüber ist, dass man diesen Preis oder jenes Stipendium, diesen Listenplatz oder jene Rezensionsspalte wieder nicht erhalten hat.
Von Leander Steinkopf erschien zuletzt die Anthologie „Neue Schule: Prosa für die nächste Generation“ bei Claassen.
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