von Johannes Franzen
Genies sind keine natürliche Erscheinung, Genies werden gemacht. Die Vorstellung, dass überragende Talente existieren, vor allem in der Kunst, die ihr Talent allerdings durch Außenseitertum und fragwürdiges Verhalten bezahlen, ist so alt wie die Moderne, also ziemlich alt. Wo der Geniekult in der Gegenwart weiter existiert, ist er deswegen meistens ein Klischee. Das hält die Medien aber nicht davon ab, weiter fleißig mit den überkommenen Strategien Genies zu produzieren. In der Einleitung zu einem eigentümlichen Interview mit dem Maler Neo Rauch in der NZZ etwa heißt es gleich zu Beginn:
“Mit seinen Malerhandschuhen sieht Neo Rauch, 63, fast aus wie ein Boxer. Überhaupt wirkt der Künstler kräftig, man könnte fast sagen, gestählt. Zwei Boxsäcke hängen in den Weiten seines Ateliers: ein grosser und eine kleine Birne. Träumerei und eiserne Disziplin scheinen in ihm in eigentümlicher Weise zusammenzuwirken. Er verliert sich in seinem Werk, um es dann mit der Schärfe eines Skalpells zu analysieren.”
Diese weihevolle Beschwörung versammelt fast wahllos Versatzstücke des Geniemythos. Der moderne Künstler steht zwischen eiserner Männlichkeit und sensibler Träumerei. Berühmte Kraftkerle der Kulturgeschichte – Picasso, Hemingway – werden unmittelbar aufgerufen. Und als wäre das nicht transparent genug, wird Hemingway zwei Absätze später sogar selbst zitiert. Im Atelier hängt nämlich ein angebliches Zitat des US-amerikanischen Großautors an der Wand: “Never answer a critic”.
Der Geniemythos wird in diesem Text wie in einem Paartanz zwischen Künstler und Kulturjournalismus aufgeführt. Hinter der sanften Stimme des Malers, hinter seiner zivilisierten Rede glaubt der Interviewer, “eine Kraft zu vernehmen, die unbändig sein könnte.” Es handelt sich um den „Zorn“. Als Leser dagegen muss man sofort an Rilkes lyrischen Schlager denken: “Und hinter tausend Stäben keine Welt.” Zunächst wird aber Wodka kredenzt, denn mit einem echten Künstler trinkt man harten Alkohol.
Irgendwann taucht auch ein schrulliges Tier auf, nämlich der Mops Smylla, der dem Gespräch mit Rauch beiwohnt. Der Hund soll die weiche Seite des männlichen Genies unter Beweis stellen, wie einst der Pudel des notorisch unwirschen Philosophen Arthur Schopenhauer. Heute denkt man mit einiger Beklommenheit an den Hund eines anderen Genies, an den Dackel Gustav nämlich, dessen Herrchen, der Choreograph Marco Goecke, vor nicht allzu langer Zeit eine Kritikerin mit dem Kot dieses Hundes attackierte. Aber Kunst und Kot scheinen beim modernen Genie auch sonst zusammenzugehören. Auch Neo Rauch löste 2019 einen Skandal aus, als er auf Kritik an seinen politischen Aussagen mit dem Bild “Der Anbräuner” reagierte, in dem eine Figur ein Bild mit seinen eigenen Exkrementen malt.
Spätestens hier melden sich aber auch andere Reminiszenzen. Hatte man das mit dem Wodka nicht 2021 schon in einem langen und seltsam unkritischen Porträt im “New Yorker” gelesen? Und tatsächlich schreibt der Autor Thomas Meany darüber, wie er sich von Rauch Wodka anbieten lässt (statt Kaffee). Aber man kann noch weiter zurückgehen im Zeitungsarchiv. Dann stößt man auf ein Interview, das Rauch der „Welt am Sonntag“ im September 2020 gegeben hatte (unter dem charmanten Titel “Bilderstürmerei ist geisteskrank”), und das mit einer Beschreibung des Ateliers beginnt, die einem seltsam bekannt vorkommt:
„Mitten im Raum hängt ein Boxsack und weiter hinten noch ein kleiner, für die schnellen, harten Schläge. Auf der Tür klebt ein Hemingway-Zitat: ‘Never answer a critic’. Neo Rauch, in Leipzig verwurzelt, international bekannt und gesammelt, ist im April sechzig Jahre alt geworden. Angestoßen wird mit Wodka aus dem Gefrierfach.“
Boxsack, Hemingway, Wodka – diese Art von Geniemythos kann bequem auf einen eingeschränkten Fundus an Bildern zurückgreifen. Es ist die vielleicht müheloseste Form eines kulturellen Rollenmusters. Rauch sagt Dinge wie: “Das Bild selbst kommt zur Welt, wenn es vorliegt. Es entwickelt sich aus einer Anwandlung heraus, die mich anweht oder die mich durchzieht wie eine Verheissung.”
Diese Art des bildstarken Raunens hat sich als Sprache der Kunst im Hochkultursegment schon lange etabliert. Man darf nichts Konkretes sagen, darf immer nur in Vergleichen und Metaphern sprechen, die den Nimbus einer quasi sakralen Angelegenheit suggerieren. Dabei sollte man aber auch sehr bestimmt (man könnte fast sagen maskulin) auftreten. Rauch beherrscht diesen Ton perfekt: „Ich versuche jedem Bild eine Daseinsberechtigung einzuwirken, die sich aus seiner Unbedingtheit herleitet, aus seiner Sonderbarkeit und aus seiner Eigentümlichkeit.“
Das sind leere, dickflüssige Worte – ein sprachlicher Akt, der sich darin erschöpft, eine reine Geste zu sein. Der Genie-Mythos lebt fast ausschließlich von solchen Gesten. Man arbeitet gemeinsam an der Figur. Diese Arbeit am Genie, auch das ist charakteristisch für den Status des Mythos, hat kaum Berührungsängste mit der Selbstparodie. Da kann man dann Fragen stellen wie „Malen Sie für die Ewigkeit, ist dies Teil der Motivation?“ oder „Was interessiert Sie an der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen?“ Und Antworten geben wie: „Ich würde gern den Eindruck heraufbeschwören, als sähe man in eine Parallelwelt hinein, als hätte man den seltenen Vorzug gewährt bekommen, eine Plexiglasscheibe freischarren zu können.“
So lebt das Gerede über die hohe Kunst von seiner charismatischen Bildlichkeit, die durch eingestreute Vergleiche mit ehrlichem Handwerk geerdet werden soll. Mal ist die Tätigkeit des Künstlers mit der des Bootsbauers verbunden, dann mit der des Tischlers, der ein Möbelstück immer wieder abtastet. So werden das Sakrale und das Kernige, der Sensible und der Boxer, über disparate Bildwelten unter einen Hut gebracht.
Schließlich darf bei einem echten modernen Genie auch die Beteuerung der Weltabgewandtheit nicht fehlen. Politik und Kunst etwa vertragen sich nicht, wie Rauch an einer Stelle in einem vorgestanzten Epigramm verlautbaren lässt: „Man muss die Kunst vor Politik bewahren, weil man sie damit tötet.“ Man habe gerade in Kassel erlebt, was geschehe, wenn die Kunst der Ideologie weichen müsse. Den Raum der Kunst müsse man aber verteidigen, und zwar „bis zum Letzten, bis zur letzten Farbtube.“ So wird selbst die unschuldige Farbtube in den Dienst einer martialischen Rhetorik des Unbedingten gepresst, immer im Bildbereich männlicher Stärke: der Künstler als Boxer, als Tischler, als Soldat.
Rauch verteidigt den Status des Künstlers als Sonderling, als „ein von gesellschaftlichen Grundmassstäben in bestimmter Weise abweichender Könner.“ Diese peinliche Form der Selbstanpreisung gehört ebenfalls zu den rhetorischen Strategien des modernen Genies, das so weit von den gesellschaftlichen Normen entfernt ist, dass es sich selbst krönen darf. Da stört es auch nicht, dass zwischendurch comedypreisverdächtige Sätze auftauchen wie: „Mein Atelier ist die Anti-Tagesschau‘“.
Es wird an dieser Stelle niemanden überraschen, dass Rauch diese mit großer Geste verordnete politische Askese selbst nicht einhalten kann. Der Skandal um „Der Anbräuner“ etwa entstand, weil Rauch über den Feminismus sagte, es handele sich um die „Talibanisierung unserer Lebenswirklichkeit“, oder den Schriftsteller Uwe Tellkamp als „Widergänger Stauffenbergs“ bezeichnete. Rauch ist das beste Beispiel für einen Künstler, der die Autonomie der Kunst gegen die Politik einfordert, das Politisieren aber einfach nicht lassen kann.
Selbst im Interview mit der NZZ folgt wenige Absätze nach der Feststellung, dass Politik die Kunst tötet, die Aussage: „Wir schaffen uns gerade als Industrienation ab. Wir nehmen uns vom Netz, verabschieden uns aus der Riege der ernstzunehmenden Völker.“ Dann heißt es, Deutschland sei nicht in guten Händen und schließlich wird Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ empfohlen – eine Empfehlung, mit der sich Rauch in eine Opfertradition stellt, die bei einem Mann, dessen Bilder – wie im Vorspann des Interviews stolz betont wird – Millionenbeträge einbringen, sicherlich gut zu Gesicht steht.
Am Ende dieses (auch unangenehm langen) Interviews wird dann noch offengelegt, dass der Anlass die Kunstausgabe der NZZ war (Rauch: „Ich habe etwas Ähnliches einmal mit der ‚Welt‘ gemacht, und das war eine schöne Erfahrung.“), was sicherlich auch die wachsweichen Fragen erklärt, die vor allem dazu dienen, Rauch in einem besonders guten Licht erscheinen zu lassen. Das Frappierende an solchen Interviews und Porträts sind nicht nur die Dinge, die Rauch sagt, oder die provokativen Gesten seiner Kunst, sondern die maßlosen Klischees, die in seltsamer Eintracht zwischen dem Künstler und den Medien reproduziert werden. So fallen die Besucher des Ateliers umstandslos auf die potemkinschen Boxsäcke herein, auf den Wodka und die kunstautonomen Floskeln und werden zum Sprachrohr einer Inszenierung, die einem Hauptanliegen der modernen Kunst, den Kitsch zu vermeiden, in jeder Hinsicht widerspricht.
Foto von Nathan Powers auf Unsplash