Südostecke des Humboldt-Forums

Architektonische Doppelmoral – Über die Politik der Rekonstruktion

von Matthias Warkus

Wie extreme Rechte über das Planen und Bauen denken, brachte ein anonymer Twitterer Anfang September 2023 so auf den Punkt: »Abriss von Plattenbauten, durch Remigration; Architektur: Rekonstruktionen fördern«. Die ethnisch gesäuberte Volksgemeinschaft soll in irgendwie »traditioneller« oder gar »klassischer« Architektur untergebracht, das Erbe der Moderne hingegen zusammen mit den »volksfremden« Teilen der Bevölkerung eliminiert werden.

Solches Denken ist ebenso menschenfeindlich wie banal. Wenn in Deutschland erneut Faschisten an die Macht kommen sollten, wird ihr Verhältnis zu Architektur und Städtebau wohl, wie zwischen 1933 und 1945, eine wichtige Fußnote zu ihren Verbrechen sein, aber eben nur eine Fußnote. Solange es noch nicht so weit ist, erscheint vor allem interessant, was eine Radikalisierungsetage tiefer passiert: dort, wo Rechte und Ultra-Konservative im Rahmen der bundesdeutschen Demokratie und ihrer Bautätigkeit ihre politischen und metapolitischen Offensiven vortragen.

Umschlag von Philipp Oswalt, Bauen am Nationalen Haus

Wenn man wissen will, wie dies vonstatten geht, ist Philipp Oswalts Aufsatzband Bauen am nationalen Haus (Berenberg Verlag, 240 S.) eine aufschlussreiche Lektüre. Oswalt ist Professor für Architekturtheorie an der Universität Kassel, leitete einige Jahre die Stiftung Bauhaus Dessau und ist unter anderem im hessischen Landesdenkmalrat tätig. Das Buch versammelt aktualisierte und erweiterte Fassungen von Beiträgen aus den Jahren seit 2017 sowie einen ganz neuen Text. Die Aufsätze entstanden aus Oswalts fachlicher und teils auch institutioneller Auseinandersetzung mit Rekonstruktionsprojekten wie etwa dem Berliner Stadtschloss (bzw. Humboldt-Forum) und der Potsdamer Garnisonkirche.

Der umfangreiche Text zur Garnisonkirche ist das Herzstück des Bandes. Er bietet nicht zuletzt eine ausführliche historische Darstellung der Vorgänge, die zum aktuellen Rekonstruktionsstand geführt haben. Den Startschuss dazu gab letztlich ein rechtskonservativer Bundeswehroffizier im Jahre 1984, an einem Ort, wie es kaum einen westdeutscheren gibt, nämlich Iserlohn. Was seitdem geschah, kann man nicht anders nennen als haarsträubend: Verflechtungen mit rechtsradikalen bis extremistischen Kreisen, institutionelle Verwirrungen (unter anderem spielt eine in geradezu listiger Mimikry benannte »Stiftung Preußisches Kulturerbe« eine Rolle), immer wieder auftauchende Sehnsüchte nach Altpreußen sowie seinem als unpolitische Quelle strenger Tugend und nationaler Besinnung konzipierten Protestantismus.

Auch die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses ist von ähnlichen Fragwürdigkeiten gekennzeichnet: ein Dickicht unterschiedlicher staatlicher und privater Akteure, knappe Abstimmungen, einflussreiche Mäzenfiguren aus rechten Netzwerken, und am Ende ein Bau, der in seiner äußeren Erscheinung weitgehend den Wunschzettel der konservativen Rekonstruktionslobbyisten abarbeitet. Dies, obwohl es eine langanhaltende, intensiv geführte Diskussion um das Humboldt-Forum gab und verschiedene intellektuell durchaus anspruchsvolle Überlegungen zu alternativen Vorgehensweisen beim Schlossneubau auf dem Tisch lagen, vor allem der mit einem Sonderpreis gekrönte Entwurf des Büros Kuehn Malvezzi, der unter anderem vorsah, den Bau in Ziegelmauerwerk zu errichten und erst nachträglich, entsprechend dem Spendenaufkommen, die rekonstruierten Fassadenelemente anzubringen.

Turm von Groß Sankt Martin, Köln (Wiederaufbau 1948–1985), im Vordergrund die ebenfalls zerstörten und wiederaufgebauten bzw. ersetzten Giebelhäuser. Foto: Miguel Andres Parra/Pexels

Rekonstruktionen verloren gegangener Bauten sind keine neue Erfindung und kommen in den unterschiedlichsten historischen und politischen Situationen vor. Das veranschaulichen etwa die vielen wiederaufgebauten Kölner Kirchen, die Dresdner Semperoper oder der Magdeburger Domplatz. Selbst dekorative historische Kulissenarchitektur ist nichts Neues: Gegenüber dem Weimarer Rathaus steht ein Gebäude von 1971, das den rekonstruierten Giebel des historischen Stadthauses als Kulisse trägt. Geht man um seine Ecke herum, sieht man, dass die Seitenfassade demonstrativ ein Raster aus DDR-Betonformsteinen vorzeigt.

Die Rekonstruktionsprojekte, die Oswalt behandelt, haben jedoch einen deutlich anderen Anstrich als die angesprochenen Wiederaufbauten der Vergangenheit. Während früher, insbesondere zu Zeiten, als die photogrammetrische Aufnahme von Gebäuden noch nicht möglich oder üblich war, Rekonstruktionen stets den Charakter eines Nachempfindens und Weiterentwickelns des verlorenen Vorgängerbaus trugen, geht es bei den modernen Projekten um eine fotorealistische Wiederherstellung der Außenhaut. Zumindest suggerieren dies die Befürworter. Die Rekonstruktion wird damit als bloß zwangsläufige, rein technische Umsetzung des Gewesenen inszeniert.

Diese Zwangsläufigkeit ist jedoch eine Illusion. Gebäude verändern sich über die Zeit, und allein die Auswahl des Referenzzustandes eines verlorenen Baus, den man rekonstruieren möchte, stellt bereits eine – bisweilen politisch zu lesende – Entscheidung dar. Selbst bei einem hochgelobten, kaum rekonstruktiv zu nennenden Projekt wie der Sanierung des Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel durch das Büro David Chipperfield taucht dieses Problem auf. Dort wurde minutiös ein halb-ruinöser Zustand gesichert und wiederhergestellt, an dem sich die unterschiedlichsten »Zeitschichten«, wie man es gerne nennt, ablesen lassen – allerdings eben nicht alle. Von den Einbauten aus der DDR-Zeit sind lediglich die Bohrlöcher in den Decken verblieben.

Umso schwerer wiegt diese Art von Entscheidung bei Rekonstruktionsvorhaben. Es war keineswegs ein rein technisches Erfordernis, die Außenhaut des Berliner Stadtschlosses auf dem Stand zum Ende der preußischen Monarchie zu reproduzieren, inklusive der Kuppel von 1845–53. Der wenig monumentale Renaissanceflügel wurde weggelassen, und aus der Zeit zwischen 1918 und der Sprengung findet sich keine Spur. Innerhalb dieses planvoll gewählten Rahmens wurde dennoch, beispielsweise in der Frage nach der umstrittenen Kuppelinschrift, die Wiederherstellung von durchaus Fragwürdigem mit dem Argument begründet, die Originaltreue habe das erzwungen. Diese spezielle Doppelmoral arbeitet Oswalt beeindruckend heraus. Er liefert eine differenzierte Argumentation, die weit überzeugender ist als die vernichtenden Phrasen, in denen die gängige vollständige und empörte Ablehnung des Humboldtforums oft formuliert wird.

Die von Oswalt angedeuteten Probleme, die durch die Illusion, eine perfekt authentische Rekonstruktion sei machbar, hervorgerufen werden, zeichnen sich in den sozialen Medien deutlich ab. Liest man dort Kommentare von leidenschaftlichen Rekonstruktionsanhängern, wird erkennbar: Jede moderne Brechung, jeder Kontext, der etwas als Rekonstruktion kenntlich machen soll, gilt als verwerflich. Beim Humboldtforum hoffen die Fans, dass nicht nur irgendwann auch die Innenräume wiederhergestellt werden, sondern dass darüber hinaus der moderner gestaltete vierte Flügel zur Spree (Titelfoto) wieder abgerissen und durch ein Rekonstrukt ersetzt werden möge. Diese Rekonstruktionsideologie kennt prinzipiell keine Grenzen, da ihr Ziel die Verwirklichung von Irrealem ist.

Nach Lektüre von Oswalts Band ergibt sich der Eindruck eines ganzen Genres von Rekonstruktionsprojekten unterschiedlicher Art, die sich in mehreren Punkten ähneln. Erstens: Der Wiederaufbau wird als zivilgesellschaftliches, durch breite Spendenbereitschaft ohne Weiteres privat finanzierbares Vorhaben inszeniert – um damit an den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche anzuschließen, der als einziges solches Projekt tatsächlich eine derart breite bürgerliche Unterstützung hatte. Zweitens: Die Initiative wird von Akteuren getragen, die sich politisch konservativ positionieren und oft auf mehr oder minder unübersichtliche Weise mit der radikalen Rechten verflochten sind. Drittens: Bei der konkreten Gestaltung wird auf eine fotorealistische Wiederherstellung eines angeblich unumstrittenen Originalzustandes aus der Zeit vor 1919 gepocht. Viertens: Hochrangige politische, teils auch kirchliche, Amtsträger lassen sich für das Projekt einspannen, das sie als Beitrag zur Stärkung positiver Identität ansehen. Und fünftens: Durch das Primat der möglichst perfekten Herstellung der historischen Kulisse geraten Fragen nach der inneren Ausgestaltung und konkreten Nutzung des Gebäudes ins Hintertreffen. Es ergibt sich eine sonderbare Spielart dessen, was in der Theorie postmoderner Architektur »dekorierte Kiste« genannt wird.

Die große Frage, die man sich nun stellen kann und die Oswalts Buch mehr implizit als explizit beantwortet, lautet: Wozu das alles? Welche politische Funktion haben diese Rekonstruktionen überhaupt? Es soll irgendwie um Identität gehen, aber so leichtfertig in unseren politisch-medialen Diskursen allenthalben von Identität geredet wird, so schwierig ist es auf den Punkt zu bringen, wer sich womit identifizieren, was womit identisch sein und welche Rolle Architektur dabei spielen soll. Oswalt lässt in seinem Aufsatz zum Berliner Schlossneubau beiläufig den Satz fallen: »Nun mangelt es Berlin wahrlich nicht an Identität.« Mit diesen scheinbar banalen Worten ist das Grundproblem wohlfeilen Identitätsgeredes umrissen: Die Identität von Berlin oder Deutschland mit sich selbst ist – diachron wie synchron –, ebenso klar wie jene von, sagen wir, Frankfurt am Main oder Wuppertal. Es gibt nichts anderes, womit man sie verwechseln könnte, und dass sie durch die Zeiten mit sich selbst identisch geblieben sind, ist ebenfalls unumstritten. 

Das ist bei Bauwerken anders: Zur Frage, ob etwa die Frauenkirche in Dresden die historische Frauenkirche wirklich in einem emphatischen Sinne ist, gehen die Meinungen auseinander. In dem Moment, in dem man unterstellt, eine Millionenstadt oder ein mittelgroßes Industrieland brauche eine Identität, die ihm spezifisch durch bestimmte Bauwerke verliehen werden könnte, problematisiert man einen unkontroversen Alltagsbegriff. Das Verdienst von Philipp Oswalts Buch ist es, kompakt und an konkreten Beispielen zu zeigen, dass Rekonstruktionsprojekte wie die Garnisonkirche nicht einfach dazu dienen, etwas wiederherzustellen, über dessen Verlust ein Konsens besteht. Mit der Rekonstruktion etablieren sie erst die Erzählung, etwas jenseits des Gebäudes sei objektiv verloren, und setzen den politischen Hebel an, um es wiederzubringen.

Man könnte nun einwenden, dass die Frage, ob und in welcher Hinsicht etwa die Garnisonkirche wirklich für das alte Preußen steht, letztlich akademisch sei. Bloß weil Potsdam einen Kirchturm mehr hat, wird noch niemand die Pickelhaube aufsetzen. Doch erzeugen derartige Rekonstruktionen atmosphärische Verschiebungen. Wer die Thematisierung von Stadtentwicklungs- und Bauprojekten in den sozialen Medien verfolgt, weiß, dass rechte Stimmen hierzu mindestens genauso offensiv und erfolgreich auftreten wie bei anderen Bereichen politischen Handelns auch. Dies verbindet sich mit einer allgemeinen Rückwärtsgewandtheit und Zukunftsvergessenheit des Denkens, die es noch nicht einmal honorieren kann, wenn irgendwo Bäume gepflanzt werden, da »man« es ja doch nicht mehr erleben werde, dass diese groß würden. 

Dazu kommt mehr oder minder unverhohlen verschwörungstheoretisches und strukturell antisemitisches Raunen, das hinter jeder Glasfassade das Wirken vaterlandsloser links-grüner und/oder international-kapitalistischer Strippenzieher und ihrer »modernistischen« Komplizen in den Architekturbüros wittert. Die Vorstellung der Rekonstruktion als technisch-zwangsläufige Wiedergewinnung des Vergangenen bedient, wie Oswalt zeigt, die Fantasie eines Bauens, das ohne die verteufelten zeitgenössischen Planer auskommt. Damit stellt sie sich in eine lange Tradition an die äußerste Rechte anschlussfähiger architekturfeindlicher Polemik. In »Stadtbild«-Initiativen oder neuerdings unter dem aus Skandinavien kommenden Titel »Architektur-Rebellion« formiert sich dazu mehr und mehr eine sich als unpolitisch verstehende Basis, deren Vokabular und Argumente aber bis hin zu Neonazis geteilt werden.

Der Rekonstruktionstrend in seinen spezifischen Schattierungen kommt dieser Basis von oben entgegen. Er stellt das handfeste semiotische Pendant zur Anbiederung an die Neue Rechte durch Übernahme ihrer politischen Forderungen dar. Dazu gehört, dass er in letzter Konsequenz die Architektur als kreative, kritische Praxis des Schaffens neuer Räume und Orte durch eine Praxis des Ausstaffierens der Gegenwart mit möglichst perfekt imitierten Versatzstücken der Vergangenheit ersetzen möchte.

Paulinum, Leipzig: Fassade zum Augustusplatz hin mit stilisierten gotischen Elementen und angedeuteter Turmspitze
Paulinum, Leipzig (Erick van Egeraat, 2007–2017), Nutzung als Aula (teilweise als ev. Kirche geweiht) und Institutsgebäude, eigenes Foto

Oswalt beschränkt sich glücklicherweise nicht auf die Kritik, sondern präsentiert mit dem (seinerzeit von ihm selbst betreuten) Wiederaufbau der Bauhaus-Meisterhäuser in Dessau durch das Büro Bruno Fioretti Marquez in einer »Architektur der Unschärfe« zumindest ein Gegenkonzept. Solche Wiederaufbauten sind für ihn Neubauten, deren Urheber ganz klar moderne Architekten sind, die sich im Entwurf »regelbasiert auf historische Sachverhalte beziehen«. Sie greifen die jahrhundertealte Tradition der architektonischen Wiedererinnerung und des Wiederaufbaus auf. Damit sind sie ironischerweise in gewisser Hinsicht konservativer als Projekte der illusionär fotorealistischen Rekonstruktion. Ein vergleichbares Programm scheint mir auch das von der Kritik einhellig verrissene Paulinum in Leipzig zu verfolgen – auch wenn ich nicht weiß, ob Oswalts strenges Urteil mir hier zustimmen würde. Das Gebäude empfindet nach außen hin in knallig schräger und verfremdeter Form die zur DDR-Zeit gesprengte Universitätskirche nach. Nach innen reproduziert es den spätgotischen Innenraum als schneeweiße Schale, in der funktionslos gewordene Pfeiler mehrere Meter über dem Boden enden und in Leuchtkörper auslaufen: eine postmoderne Rekonstruktion, die ihre eigene »Weirdness« zelebriert und offensiv keine Fotokopie der Vergangenheit sein möchte.

Bauen am nationalen Haus ist ein Buch, das Erkenntnisse dazu liefert, wie sich der hiesige Umgang mit verlorenen Bauten hohen Symbolwerts besser gestalten ließe als heute. Steine können nicht daran schuld sein, was in ihrem Inneren passiert ist. Dieser Ausspruch des ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD) aus dem Jahre 2000 ist sicher wahr. Aber der Wiederaufbau von Steinen, die als mit den Steinen von früher identisch konzipiert werden, ist nie unpolitisch und wertfrei. Unsere Gesellschaft und ihre Institutionen schulden solchen Projekten ein sorgfältiges und kritisches Auge.

Titelfoto: Zois Fotis/Pexels

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