von Susanne D. Engling
Neben meinem Schreibtisch hängt ein Bild. Es ist ein Ausschnitt aus dem Gemälde „Die drei Lebensalter der Frau“ von Gustav Klimt. Entstanden ist es 1905. Interessanterweise wird häufig nur der Ausschnitt dargestellt, den auch ich mir aufgehängt habe, obwohl das Gemälde eigentlich größer ist – so zum Beispiel ganz aktuell auch auf dem Cover der ZEIT in dieser Woche. Auf dem Ausschnitt ist der nackte Oberkörper einer jungen Frau zu sehen, die mit geschlossenen Augen ihr an sie geschmiegtes, schlafendes Kind umarmt. Beide haben weiße Haut, die Mutter blondes, langes Haar mit Blumen darin. Beide haben feine Gesichtszüge, rosige Wangen, schlanke Gliedmaßen. Es ist ein Bild der Harmonie. Vielleicht habe ich es deswegen aufgehängt. Das Bild einer Mutter, wie man es sich wünscht, wie eine Mutter sein soll: ausgeglichen, in sich ruhend und glücklich. Mutter und Kind wirken wie zwei Teile einer Einheit. Sie gehören zusammen. Es ist ein Bild, das Frieden ausstrahlt. Es ist ein Bild, das Vieles nicht zeigt.
Klimts Gemälde stellt die Idylle dar, die viele Frauen verinnerlicht haben: Eine Mutter ist jemand, die sich für andere aufopfert, für andere da ist. Gleichzeitig wird vorausgesetzt, dass dieses Für-andere-da-Sein mit einem Einverständnis einhergeht; mit einem Annehmen der Mutterrolle und einem Aufblühen, einer reinen und unhinterfragbar natürlichen Freude des Sich-Kümmerns. Wer offen ausspricht, in der Mutterschaft nicht die maximale Erfüllung zu finden, bricht ein Tabu. Doch seine Mutterschaft zu bereuen, bedeutet zumeist nicht, dass eine Frau ihre Kinder nicht lieben würde, es bedeutet zunächst und in erster Linie vor allem, dass es neben der Mutterschaft noch so Vieles mehr gibt, was einen Menschen glücklich macht. Alles, was bisher wichtig war, muss warten. Mutterschaft ist Kümmern, wer Mutter wird, stellt sich selbst pausenlos zurück. Nicht jeder Mensch möchte das. Ein patriarchales System setzt es aber voraus. Es denkt Mütter und Frauen als Menschen, deren unumstrittene Natur es ist, sich selbst und alle eigenen Wünsche und Vorstellungen zu opfern, ohne dafür etwas zu erwarten.
Manchmal kann ich die Harmonie in Klimts Bild nachfühlen. Wenn ich mit den Kindern spiele; die Sonne fällt ins Zimmer, wir können dem nachgehen, was wir gerne tun wollen, ohne dass Termine oder Verpflichtungen im Hintergrund lauern, uns daran erinnern, dass Schuhe angezogen, Zähne geputzt oder Hausaufgaben erledigt werden müssen. „Mit den Kindern mitschwingen“ hat es der Partner meiner Mutter einmal genannt, der selbst fünfzehn Jahre lang Hausmann war. Dass ich mich hineingeben kann in dieses Mitschwingen setzt voraus, dass ich selbst Tage habe, an denen ich mich nur nach mir richten kann, nach niemandem sonst.
„Die drei Lebensalter der Frau“ zeigt eigentlich noch eine dritte Figur. Es ist eine Person, die neben der jungen Frau mit dem Kind steht. Sie hat eine eingefallene Haut, die Venen an ihren Armen treten deutlich hervor, ihr Bauch wölbt sich, ihre Brüste hängen herab, ihr Rücken wirkt knöchern. Die Hand liegt über den Augen und ihre langen braungelockten Haare fallen vor ihr Gesicht. Offensichtlich soll dies eine ältere Frau darstellen – eine Frau jenseits der Mutterschaft. Ihre Haltung wirkt niedergeschlagen. Eine Frau jenseits ihres sogenannten Lebensziels, jenseits von Fruchtbarkeit und Selbst-Hingabe? Wenn man bedenkt, dass zu Klimts Lebzeiten viele Frauen in Europa bei einer Lebenserwartung von 52 Jahren „zehn Mal oder noch öfter schwanger“ waren, wie es Antje Schrupp in ihrem hellsichtigen Essay „Schwangerwerdenkönnen“ schreibt, liegt es nahe, dass es eher als erleichternd empfunden wurde, wenn die Fruchtbarkeit endlich nachließ. Frauen konnten sich meist erst dann mit anderen Dingen beschäftigen – wenn ihre körperliche Konstitution es noch zuließ.
Natürlich ist es hier der Blick des männlichen Künstlers, der vermittelt, als wie idyllisch Mutterschaft verstanden werden sollte und wie trostlos der Zustand sei, der ihr nachfolgt. Dass der Teil des Gemäldes, in dem sich diese dritte Figur befindet, in der Rezeption so häufig ausgespart wurde, macht deutlich, dass es auch in der Gegenwart noch immer die Tendenz gibt, Mutterschaft ausschließlich als etwas Positives, Erstrebenswertes und zudem Wunderschönes darzustellen. Dass es sich bei den Reproduktionen dieses Teilgemäldes vor allem um Drucke auf Regenschirmen, Postkarten und Taschenspiegeln handelt, spielt insofern eine entscheidende Rolle, als damit eine sehr breite Masse an Rezipienten und Rezipientinnen – vor allem weiblichen Geschlechts – angesprochen werden soll, die wiederum das Bild der entspannten, sorgenden und gleichzeitig ästhetisch schönen Mutter verinnerlicht. Ich schließe mich da nicht aus.
Das Gemälde „The Dream“ der amerikanischen Künstlerin Madeline Donahue von 2020 erinnert in seiner Komposition stark an den Ausschnitt aus Klimts „Die drei Lebensalter der Frau“: Eine Frau mit langem Haar und geschlossenen Augen hält, den Kopf zur Seite geneigt, ein Kind auf dem Arm. Eine ihrer Brüste ist sichtbar, das Haar fällt in Wellen über ihre Schulter. Sie hat die Augen geschlossen, die Grenzen ihres Körpers gehen über in die Körper ihrer Kinder. Wie ein Echo meiner Spiegelneuronen schmerzt meine Schulter beim Betrachten des Bildes, die verkrampft wirkt – Tragen ist anstrengend. Das Kind auf dem Arm der Frau blickt auf ein Smartphone, auf ihrer rechten Schulter sitzt ein weiteres und bürstet mit weit geöffneten Augen ihr Haar.
Madeline Donahue beschäftigt sich in ihren Gemälden immer wieder neu mit verschiedenen Aspekten der Mutterschaft. Viele ihrer Bilder zeigen Geburtsszenarien, andere stellen die enge Verbundenheit zwischen Müttern und Kindern dar, mindestens genauso häufig finden sich bei ihr Themen wie Überforderung, mentale Belastung oder körperliche Veränderungen. Als meine Kinder noch sehr klein waren, benutzten sie meine Haare gerne als Beruhigungsmittel. Zuerst ist es süß, dieses Zuppeln und um-den-Finger-Winden, irgendwann wird die pausenlose Überstimulation so anstrengend, dass es kaum mehr auszuhalten ist.
Die Schwiegermutter meiner Mutter sagte einmal zu ihr: „Achte besser auf dich, deine Familie braucht dich.“ Mutterschaft sollte jedoch mehr sein als Selbstopferung. Sich selbst zurückzustellen für ein anderes, (noch) mehr oder weniger hilfloses Wesen liegt zwar in der Logik des Sich-Kümmerns, es sollte deswegen aber nicht selbstverständlich sein, hinter dieser Tätigkeit zu verschwinden. Mütter sind Menschen mit Kindern und brauchen das, was andere Menschen auch brauchen: Geborgenheit, Freiheit, Respekt, Abgrenzung, finanzielle Sicherheit, Zeit dafür, das zu tun, was sie ausfüllt. Mutterschaft ist in unserer Gesellschaft viel zu oft noch gleichbedeutend damit, eine Atmosphäre herzustellen, in der sich andere wohlfühlen. Ob die Mutter sich selbst darin wohlfühlt, ist weniger wichtig, die anderen haben immer Vorrang.
Im viktorianischen Zeitalter wurden Kleinkinder und Babys, die, um fotografiert werden zu können, aber noch nicht lange genug ruhig bleiben konnten, auf den Schoß ihrer Mutter gesetzt. Diese allerdings wurde dabei mit einem Tuch abgedeckt, um auf dem Bild nicht zu sehen zu sein. Mutterschaft: unsichtbar, aber selbstverständlich und jederzeit verfügbar. Wenn wir Mutter werden, verändern wir uns. Wie, das können wir vorher nicht wissen, wie die Philosophin L.A. Paul herausgearbeitet hat. Denn keine Erfahrung, die wir machen, bevor wir Eltern werden, gleicht den fundamentalen Veränderungen, die die Sorge um ein auf uns angewiesenes Kind mit sich bringen wird. Werden wir es bereuen, uns so entschieden zu haben? Werden wir ganz darin aufgehen? Mal das eine, mal das andere? Wir wissen es nicht. Wir können nur mit Hoffnung und Zuversicht an das Mutterwerden herangehen. Man lernt nicht nur das Kind nach der Geburt kennen, sondern auch sich selbst als neuen Menschen. Dafür zu sorgen, dass dieser Mensch in all seinen Facetten sichtbar bleibt, erfordert neben all den neuen Herausforderungen viel Stärke.
Über meinem Schreibtisch hängt inzwischen eine Kopie von Paula Modersohn-Beckers „Mutter und Kind“. Eine nackte Frau stillt zur Seite gedreht ihren ebenfalls nackten Säugling. Ihr Haar ist dunkel und unauffällig. Markant dagegen ihr flächig gemalter Körper, der beinahe die Hälfte des Bildes einnimmt. Der obere Arm liegt um das Kind, die Augen sind geschlossen. Wie oft habe ich selbst so gelegen, die Hand hinter dem Kopf des Kindes auf der Matratze aufgestützt, im Dämmerschlaf, mit steifem Nacken, froh, dieses kleine Wesen so nah bei mir zu wissen. Vor einiger Zeit zeigte meine jüngste Tochter, die damals etwa anderthalb Jahre alt war, auf das Bild und rief laut: „Da Mama!“ Dem Gemälde von Klimt haben meine beiden Kinder nie viel Beachtung geschenkt.
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Foto von Jenna Norman