Hinter der Gewalt

von Kuku Schrapnell

„Wie gewaltvoll musste ein Text über Gewalt sein?“, fragt Evan Tepest in seinem Essay „Auslaufen“. Wie gewaltvoll muss dieser Text über meine Gewalt sein? Nährt er nicht nur alte Geschichten vom männlichen Täter und femininen Opfer? Gibt es eine Lust des Publikums, das ansonsten skandinavische Krimis liest, jetzt ganz authentisch von Brutalität zu lesen? Kann ich überhaupt von dieser Gewalt schreiben, ohne sie dabei wieder und wieder zu erleben? Und ist das schon Verarbeitung?

Erst jetzt vier Jahre nach dem Ereignis und drei Jahre nach dem Angebot, etwas dazu zu veröffentlichen, entsteht dieser Text. Wie gern würde ich einfach die Trennung zwischen Autorin und Text-Ich behaupten oder über „eine Freundin“ schreiben, um dann doch am Ende aufzulösen: Die Freundin war ich selbst. Aber so leicht will sich das alles nicht abtrennen lassen. So leicht lässt sich das eigene Leben, die eigene Vergangenheit, die ja doch nicht vergeht, nicht abtrennen. Trotzdem ist das Aufschreiben auch schon Distanz. Kein Erleben kann in Worten aufgehen. Und trotzdem sagt meine Therapeutin, ich solle mehr Tagebuch schreiben. Dabei würde sich mehr sortieren.

19.04.2020

gestern fährt ein auto unnötig nah und unnötig schnell an mir und meinem fahrrad vorbei und ich trete hinterher, mehr geste als alles andere, und das auto macht die vollbremsung und es steigen so fünf oder sechs typen aus gleich zwei autos aus, weil das hinter dem ersten  auch noch mitdazugehörte und es dauert nicht lange und ich fang mir den ersten faustschlag ins gesicht ein und einen zweiten und weil ich ja nicht auf den mund gefallen bin auch einen dritten und vierten.

dank der unglaublichen verdrängungsleistungen zu denen mein gehirn fähig ist, kann ich mich gar nicht an so viel mehr details erinnern, aber ich weiß noch, dass der eine typ aus einem der autos mir irgendwann zwischen ersten und viertem schlag ins gesicht schreit, du hast gegen das auto getreten da sitzen kinder drin! und ich glaube, es ist nicht nur mein wunsch nach comic relief, sondern es ist auch wirklich ein bisschen witzig.

natürlich ist es nicht so witzig, dass ich mich für eine geste, pinke haare, süße ohrringe, vielleicht make-up gleich von meiner körperlichen unversehrtheit verabschieden darf, aber wie so häufig hatte ich da auch einfach ein bisschen glück. glück dass mir nur ein bisschen zahn fehlt und es ansonsten nur ein paar blutergüsse sind. glück, dass zufällig mein alter mitbewohner und zwei passant*innen gleich da waren. glück, dass das ganze vor meinem alten haus passierte und nicht nur viele tolle menschen gleich rauskamen, sondern einer auch daran dachte, ein video zu machen.

und mittlerweile versteh ich, wie viel glück ich hatte und dass das ganze auch hätte ganz anders ausgehen können, aber emotional hab schon jetzt keinen richtigen zugang mehr dazu. allerdings hat diese strategie auch ihre grenzen, weil mir so ziemlich alles gerade egal ist. jetzt liege ich schon seit fünf stunden im bett und hab schon die wand und die decke und alle möbel angeguckt, hab diverse apps schon mehrfach geöffnet und geschlossen, mich artig für genesungswünsche und solidaritätsbekundungen bedankt und alles davon ist mir egal, bleibt schön draußen und wenn ich nach innen horche ist da nichts, nur manchmal ein bisschen traurigkeit. und ich wäre gerade gerne wütend oder sowas, aber da ist nichts, noch nicht.

Jetzt steht es da. Ich habe Gewalt erfahren. Aber was ist diese Gewalt? Schläge werden in diesem Land hundertfach jeden Tag ausgeteilt. Gegen Frauen und Kinder. Gegen BIPoC und behinderte Menschen. Gegen Queers und besonders andere trans Menschen. Und was ist ein Stückchen Zahn gegen offene Wunden? Gegen Gehirnerschütterungen und gebrochene Knochen? Was gegen all die Gewalt, die tötet?

Zwei Jahre nachdem ich auf offener Straße angegriffen werde, wird Malte C. auf dem CSD Münster zu Boden geschlagen und stirbt nur wenige Tage später an den Folgen. Ein Jahr davor, 2019, verbrannte sich Ella N. auf dem Alexanderplatz selbst. Die trans Frau war aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet, um ein neues Leben zu beginnen, nur um in Magdeburg und später in Berlin weiter auf Transfeindlichkeit und Rassismus zu treffen, egal ob in den Behörden oder auf der Straße. Selbst nach ihrem Tod geht die Gewalt weiter. Bilder ihres nackten Körpers werden über WhatsApp verbreitet. Und das sind nur die beiden brutalsten Taten der letzten Jahre.

Immer wieder gibt es Gegendemos von Nazis gegen CSDs ob in Erfurt oder in Döbeln, ob in Überlingen oder München. Immer wieder gibt es Angriffe auf diese queeren Demonstrationen. Die Aufzählung von queerfeindlicher Gewalt ließe sich hier immer weiter fortführen oder in Statistiken abbilden. Aber wer kann nur wegen so einer Aufzählung schon Empathie fühlen? Wer kann in der Statistik das Dunkelfeld sehen?

Vor allem für die Queers, die diesen Text lesen werden, möchte ich diese Aufzählungen lieber kurz halten. Und bei diesen Queers möchte ich mich auch entschuldigen für das Auswalzen meiner eigenen Geschichte. Was all diese Gewalt nämlich eint, ist die Angst, die sie verursacht. Die Angst es auch irgendwann nicht mehr auszuhalten. Die Angst, auch irgendwann dran zu sein. Die Angst, doch noch Opfer zu werden.

26.04.2020

heute fühlt sich immer noch alles sehr irreal an, wie eine schlechte filmszene oder eine geschichte, die man schon einmal zu oft erzählt hat. dabei habe ich viele gespräche darüber vermieden und erst seit ein paar tagen schaff ich es über das reine nacherzählen der wenigen momente an die ich mich selbst erinnern kann, wirklich hinaus zu kommen. eine freundin hat so etwas gesagt wie, die angst, dass doch mal jemand zuschlägt, ist doch eh schon immer da und wenn es dann wirklich passiert, ist man selbst schon durch mit dem drama. auf hunderten nachhausewegen bin ich alles mal für mal durchgegangen, die gewalt, die reaktionen, die trauer, die wut, die angst. und dann passiert es und ich sag allen, dass alles halb so wild ist, bin überfordert mit der emotionalität der ganzen nachrichten. ein paar tage später bin ich dann gerührt und weine, weil alle so lieb und süß sind. jetzt kommt also das drüber sprechen. das was wäre wenn oder wenn oder wenn und zu sagen, dass vielleicht war es gut nicht weggerannt zu sein, weil das ein bisschen die opfererzählung aufbricht. eine andere freundin sagt, stehen zu bleiben und weiterzupöbeln ist ein bisschen dumm, aber stabil. irgendwie gefällt mir das. mein mitbewohner fragt, ob das nicht auch so ein mackerding ist, stabil bleiben, das letzte wort haben, frech sein, obwohl man eh schon kassiert hat. und auch wenn ich ihm widersprochen hab, stimmt es vielleicht. aber das ist die logik dieser gewalt und es hilft, nicht das opfer zu sein. mit kratzen und beißen hat meine psyche das durchgesetzt: ich bin nicht das opfer, war doch alles halb so wild, ist ja nichts schlimmeres passiert. in helleren momenten denke ich: schön wär’s.

Es ist nicht leicht zu verstehen, was Gewalt überhaupt ist. Wahrscheinlich könnten wir uns darauf einigen, dass ein Schlag ins Gesicht eine Gewalttat ist. Aber sind nicht auch Beleidigungen schon Gewalt? Vielleicht geht es auch gar nicht darum, was alles unter Gewalt fällt, sondern darum sich zu überlegen, was Gewalt eigentlich mit uns macht. In seinem Essay „Kritik der Gewalt“ beschäftigte sich Walter Benjamin schon vor hundert Jahren mit dieser Frage.

Er unterscheidet dabei zwei Arten der Gewalt: Da gibt es die, die ein Recht begründet und die, die ein Recht erhält. Dass Gewalt Recht erhält, ist leicht zu verstehen. Wenn es ein Recht gibt und dann kommt jemand und bricht es, kommt die Polizei, holt den Knüppel raus und das Recht wird verteidigt. Dabei muss es dazu gar nicht immer kommen. Die bloße Drohung, dass es so sein könnte, reicht schon aus.

Mit der rechtssetzenden Gewalt ist es ein bisschen schwieriger, nicht umsonst spricht Benjamin auch von der mythischen Gewalt. Am Anfang jeder rechtlichen Ordnung braucht es Gewalt, um sie durchzusetzen. Sei es die Guillotine der französischen Revolution um das bürgerliche gegen das aristokratische Recht durchzusetzen oder das Recht des Siegers nach dem Krieg: „Wo Grenzen festgesetzt werden, da wird der Gegner nicht schlechterdings vernichtet, ja es werden ihm, auch wo beim Sieger die überlegenste Gewalt steht, Rechte zuerkannt. Und zwar in dämonisch-zweideutiger Weise ›gleiche‹ Rechte: Für beide Vertragschließende ist es die gleiche Linie, die nicht überschritten werden darf.“ Oder an anderer Stelle ein bisschen eindeutiger und einfacher: „Sie verbieten es Armen und Reichen gleichermaßen, unter Brückenbögen zu nächtigen.“

Recht ist bei Benjamin eben kein Synonym für Gerechtigkeit, sondern nur ein Ausdruck von Macht und damit auch Gewalt. Deswegen verfolge der Staat auch Gewaltverbrecher: Nicht weil es darum geht, die Rechtszwecke zu verteidigen, also zum Beispiel die Würde des Menschen, wenn man dem Grundgesetz glaubt, sondern darum, dass Gewalt außerhalb des Rechts immer das Recht selbst in Frage stellt, da sie in der Lage wäre ein neues zu begründen.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich eine aktuelle, ambivalente Dynamik: Während es auf der einen Seite zwar immer mehr rechtliche Gleichstellung für queere Menschen gibt, wie zum Beispiel das maßlos wichtige Recht auch heiraten zu dürfen, oder die Abschaffung des schrecklichen Transsexuellengesetzes zugunsten des nicht ganz so schrecklichen Selbstbestimmungsgesetzes, steht auf der anderen Seite die Zunahme der (mythischen) Gewalt gegen queere Menschen, die diese Rechte in Frage stellt. Die rechtliche Gleichstellung ist nicht nur in sich selbst prekär, immerhin kann ja schon die nächste rechte Regierung alles wieder kippen, sie ist auch immer nur so stark, wie die in ihr gebündelte Gewalt. Die Gleichstellungsrechte können überall da in Frage gestellt und unterlaufen werden, wo ihre rechtsbegründende Gewalt nicht direkt in Erscheinung tritt, weil beispielsweise Polizeistreifen lieber durch linke oder migrantisch geprägte Viertel fahren, oder andere Gruppen schon so mächtig geworden sind, dass sie sich ungehindert austoben können.

18.04.2021
gestern hat mich eine freundin gefragt, wie es mit der anzeige aussieht und erst da hab ich gecheckt, dass heute der jahrestag ist. also alles gute zum ersten jubiläum, kuku. es erklärt aber auch ein bisschen was. warum ich die letzten tage eh noch unkonzentrierter und vergesslicher war als sonst (adhs, depression und ptsd können erstaunlich ähnliche symptome haben) warum die stimmungsschwankungen teils so extrem ausfielen.

da, wo es sich nicht verdrängen lässt, versuch ich witze drüber zu machen. zum beispiel über das stück zahn, das mir fehlt. meine zahnärztin hat beim abschleifen gesagt, dass ich jetzt wohl keine richtige dame mehr werde. das fand ich lieb und erzähle es dann gerne, weil es die schönere geschichte ist. eine geschichte ohne opfer. nicht so gerne erzähle ich, dass es manchmal erleichternd ist, wenn die gewalt real wird, weil die angst manchmal lähmender ist, als das was tatsächlich passiert.

und trotz der solidarität und den ganzen bestärkungen war ich froh, als ich es nach ein paar wochen wegschieben konnte. wunden attestieren lassen, zeugenausssage machen und weg. der arzt hat viele dinge nicht aufgenommen, aber schon da war es mir zu anstrengend, darauf zu bestehen. kurz vor silvester kam der brief von der staatsanwaltschaft, dass sie den einen haben und jetzt ein verfahren läuft. kurzes googlen zeigt das was zu erwarten war, befreundet mit einem, der gerade vor gericht steht, wegen des angriffs auf connewitz, rechtes fußballumfeld und antisemitische share-pics. seit der brief gekommen ist, denke ich immer mal wieder daran, dass jetzt ein guter moment wäre, mir eine der anwält*innen zu nehmen, die mir freund*innen und genoss*innen empfohlen haben und dann ist der gedanke auch schon wieder weg, bis ich das nächste mal über die erinnerung kratze.

Wenn ich in einer Stadt länger wohne oder sie häufiger besuche, weiß ich wann und wo ich wie rumlaufen kann. Wann die Kapuze und der Blick nach unten angebracht sind und wo auch die Klamotten weiter sein müssen, um so wenig wie möglich Körperteile zu zeigen, die dem angenommenen Geschlecht widersprechen könnten. Ich versuche mich um diese Uhrzeiten an diesen Orten in einen Geist zu verwandeln und körperlos an allen vorbeizuschweben. Solange bis ich wieder einen vermeintlich sicheren Ort erreicht habe.

Das Konzept von sichereren Orten oder Safe Spaces ist natürlich Quatsch. Als könnten trans Menschen nicht transfeindlich sein. Als wäre meine eigene internalisierte Transmisogynie nicht auch schon anderen transweiblichen Personen entgegengeschlagen. Als würden diese sichereren Orte überhaupt allen Menschen offenstehen, die sie dringend brauchen. Meistens sind die sogenannten Safe Spaces vor allem weiß und akademisch, in den seltensten Fällen sehe ich dort Menschen, die arm oder obdachlos sind, die Sexarbeit machen oder sich keinen Cocktail für 10€ leisten können.

Einen Raum als sicher zu definieren kommt mir sowieso komisch vor. Vier Wände und eine Decke mögen zwar gegen verschiedene Wetter schützen, aber wer darin ein- oder davon ausgeschlossen wird, hängt ja selten vom Raum selbst ab, sondern viel mehr davon, was die Menschen in ihm damit machen. Meine Vorstellungen von Sicherheit sind nicht nur von Räumen abhängig, ob ich Angst habe oder nicht, ob ich mutig bin oder sogar provokant, hat viel mehr mit den Menschen, die mich begleiten, von denen ich komme oder zu denen ich gehe, zu tun. Gehe ich zu einem Date, hab ich vielleicht vor lauter Vorfreude vergessen, was letztes Mal in dieser oder jener Straße passiert ist, die ich nun durchqueren muss. Geh ich mit einer Schwester durch eine neue Stadt, weiß ich für diese Stunden gehört sie nur uns, während wir kreischen und lachen und wundervoll sind.

17.05.2022

heute ist der internationale tag gegen homo-, bi-, trans-, und interfeindlichkeit und in meiner stadt macht der lsvd einen kiss in und alle, die wen haben, dürfen sich küssen für sichtbarkeit und toleranz. ich weiß nicht so ganz, wie das sichtbarkeit für trans und inter leute schafft und auch nicht genau, wie das mit der toleranz dann funktioniert, weil ja nur so lange da alle aussehen, wie du und ich, nein, nicht ich, aber vielleicht wie die leute aus meiner nachbarschaft, normale leute halt, also nur so lange der normale nachbar jetzt nen mann küsst und die kassiererin von rewe ne frau, kommt da vielleicht jemand vorbei und denkt sich, wow, die sind aber normal.

heute ist der internationale tag gegen homo-, bi-, trans-, und interfeindlichkeit und in leipzig macht der lsvd einen kiss in und morgen ist die gerichtsverhandlung. ich weiß wirklich nicht, was ich deswegen fühle. klar, da ist viel angst, einem der typen von damals gegenüber zu sitzen, oder eher so schräg daneben, aber es ist eben nur einer. es gibt zwei videos, die drei typen zeigen, die mich, uns bedrohen und schließlich auch wie einer zuschlägt. Und angeklagt ist einer. wenn man in deutschland in einer gruppe zusammen losgeht und leute schlägt, ist es automatisch eine gefährliche körperverletzung. wenn sie das machen, weil die leute queer sind, weil sie arm sind, weil sie obdachlos sind, nicht weiß sind oder jüdisch sind, ist das keine extra straftat. so oder so, morgen sitzt da dann einer, der angeklagt ist, wegen einer ganz normalen körperverletzung.

da ist diese angst, da sind die alpträume immer mal wieder, aber seit drei oder vier wochen wieder häufiger. diese angst dreht sich aber nicht nur um schläge, sondern auch um gerichte. da sitzt dann einer, der richter ist und gesetze kennt und sagt dann, guten tag, wie war das damals vor zwei jahren und einem monat? aha, ja ja, gut sie können gehen und ein, zwei stunden später sagt er, hier ist das urteil. für ihn macht es im besten fall keinen unterschied, ob er jemanden verurteilt, der queers verprügelt oder jemanden, der nazis blockiert hat. im wahrscheinlicheren fall macht er zweiteres lieber als ersteres. er hatte immer gute noten und hat jetzt ein gutes gehalt. er ist eine gesetzesmaschine. oben kommen die aussagen und beweismittel rein und am ende macht es ding und unten kommt ein urteil raus.

ich hätte gedacht, dass ich wackliger bin, dass die angst mehr raum nimmt, dass ich weine beim schreiben und melodramatisch bin, aber seit gestern bin ich ruhig. wälze meine gedanken in alle richtungen, überlege, was ich morgen wie am besten sage. versuche mich an details zu erinnern, um glaubhafter zu sein oder gehe ins nagelstudio und treffe mich mit einem freund für bier und gespräche über den esc. vielleicht fange ich an wieder zu arbeiten und mache einen zahnarzttermin. ganz ruhig. ich weiß, dass die ruhe nicht echt ist, weil ruhe nie echt ist, aber es gibt bis morgen keine alternative zu ihr und morgen ist erst morgen.

Wenn ich diese Texte von damals lese, merke ich erst, dass das, was ich Verdrängung genannt habe oder Ruhe, nichts anderes ist als Dissoziation. Dabei wären so viele Gefühle viel angebrachter. Wut zum Beispiel. Kaum ein Gefühl fällt mir so schwer wie Wut. Wut ist immer die Emotion des Angreifers, oder nicht? Die, die mich sehen und denken, sowas wie mich sollte es nicht geben, sind die Wütenden. Mir selbst fällt es schwer wütend zu werden. Eine Person, die mich liebt, hat gefragt: „Was machst du, wenn du wütend bist? Traurig werden und weinen?«“ Und in den meisten Fällen stimmt das.

Dabei ist Wut so ein wichtiges Gefühl. Es ist die Wut, die uns nach Veränderungen streben lässt. Wenn wir wütend werden, haben wir Energie und können etwas bewegen. Wut zeigt uns aber auch unsere Grenzen auf. Wenn jemand oder etwas uns zu nahekommt, uns verletzt oder bedroht, kann Wut uns helfen aus dieser Situation herauszukommen. Traurig werden und weinen hilft da eher selten. Ich kenne jedoch viele Queers, die wenig Zugang zu ihrer Wut haben. Wut ist auch ein gefährliches Gefühl. Wut kann auch den Kontrollverlust bedeuten, wenn wir über das Ziel hinausschießen und denen weh tun, die wir lieben. Wir haben so viel Wut erlebt. Noch bevor wir wussten, was unseres eigenes Nicht-Passen bedeutet, hat es schon den Zorn und das Mobbing der anderen auf sich gezogen. Wenn ich mir Wut wünsche, wünsche ich mir eine gemeinsame Wut, einen queer rage, der auf die Straßen schwemmt. Aber dabei sind wir nicht nur unser Gefühl, werden nicht zu einem Mob, sondern wir sind, weil wir miteinander sind, auch füreinander da. Wir passen aufeinander auf.

18.05.2022

das urteil ist frustrierend. zumindest sag ich mir das immer wieder. nach den 3 1/2 stunden verhandlung löst das urteil keine gefühle mehr in mir aus. die verhandlung beginnt, ich werde als erstes hineingerufen um meine aussage zu machen.

b. sagt vor gericht, dass es eine queerfeindliche attacke war. er sagt es immer wieder, nachdrücklich und dabei ein bisschen hochgestochen. er sagt, dass er nicht verstehen kann, dass das gericht nicht in der lage ist, die videos abzuspielen. sucht das eine noch nach seiner vernehmung raus. das andere hat jemand hinten auf der einen stuhlreihe für das publikum zufällig noch auf dem handy.

d. sagt immer kuku und sie bei seiner aussage. sie meinen…? ich kenne nur kuku. als der staatsanwalt meinen namen sagt, klingt es, ein bisschen belustigt und ein bisschen angeekelt. so wie nur herablassung klingen kann. er ist ein kämpfer für gerechtigkeit, für klare kalte fakten: wenn sie sagen, dass sie die männer als rechte beschreiben würden, was kann ich mir darunter vorstellen? die radfahrerin ist verwirrt von der frage. man weiß doch wie rechte aussehen. dass direkt nach ihr der vater des ankeglagten aufgerufen wird und in voller thor steinar kollektion in den raum kommt, darf man nicht aufschreiben, weil es keine pointe ist. manchmal hilft selbst lachen nicht mehr.

das urteil löst keine gefühle in mir aus. meistens. zwischendurch bin ich für einen kleinen augenblick enttäuscht, noch seltener fast wütend. aber es hat die angst zurück gebracht. es ist keine furcht, die mich überfällt, die total lähmend ist oder die mich zuhause hält. es ist eine anspannung, die vor der haustür noch gar nicht richtig zu merken ist, aber mit jedem schritt, stetig wächst.

in der begründung heißt es, die beleidigungen und die drohungen könnten nicht einwandfrei dem angeklagten zugewiesen werden. auch hätten sich die zeug*innen in der anzahl der schläge widersprochen, weswegen nur ein schlag, wie im video zu sehen, zu beweisen sei. die plötzliche gewalt, sei völlig unerklärlich.

das urteil lautet 90 tagessätze. der angeklagte gilt damit nicht als vorbestraft.

Ein paar Tage später nachts auf dem Nachhauseweg halte ich die Flasche, als könnte sie eine Waffe sein. Vielleicht wäre sie das in der Hand von jemand anderem. Ich halte die Flasche wie ein Mann sie halten würde, oben am Hals, und hoffe, dass man auf die Entfernung weder Make-Up noch Ohrringe sieht. Die Geste ist nicht nur verzweifelt, sondern albern. ich kann nichts dagegen tun, aber ich laufe, als wäre es ein Laufsteg und nicht ausgerechnet die verfickte Ludwig-Erhard-Straße. Irgendwo zwischen Tankstelle und Innenstadt wird es mir zu peinlich und die Flasche bleibt an einer Ecke stehen. Ein Jahr später beginne ich mit Kickboxen, für das Gefühl mich im Zweifelsfall verteidigen zu können.

Aber kann ich mich überhaupt noch dagegen verteidigen, wenn die Gewalt schon mythisch ist, längst schon eine größere Erzählung als mein kleines Leben? Die Gesellschaft um mich herum hat sich verändert, verändert sich mit jedem weiteren Angriff auf mich und meine Geschwister. Aber keine Veränderung ist in Stein gemeißelt, das genau ist ja eben das Wesen der Veränderung. Überall da wo Gewalt ausbricht, um eine neue Macht ins Recht zu setzen, gibt es auch die Möglichkeit der Gegenmacht.

Wir organisieren eine Gedenkkundgebung für Malte C. Das Mikrophon ist offen für alle und eine trans Frau fleht den Tränen nahe den Rest der Gesellschaft an uns zu verteidigen. Mich macht das wütend. Wütend auf die Unterstützung anderer angewiesen sein zu müssen. Dabei ist mir im selben Moment klar, dass ein bisschen Kickboxen mir in so einem Fall nicht weiterhelfen wird, mir auch damals nicht geholfen hätte. Aber vielleicht stimmt es, vielleicht hilft es ein wenig darüber zu schreiben.

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Foto von CHUTTERSNAP

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