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Autoritäre Revolte – Rammstein, Rock und Frauenhass

von Veronika Kracher

Kaum jemand hat es momentan so schwer wie Rammstein-Fans. Denn nach den Vorwürfen gegen die Band, systematisch junge, weibliche Fans ausgenutzt zu haben, bedarf es einiger  Willensstärke, um sich weiterhin zu diesem ekligen Klüngel zu bekennen. Schwächere Personen als die eingefleischten Fans einer Band, die seit Jahrzehnten so richtig subversiv mit Kolonialherren- und Nazi-Ästhetik kokettiert, würden sich nun wahrscheinlich distanzieren. Sie würden angesichts der zahlreichen Beschreibungen eines ausgefeilten Systems, das auf der  Ausbeutung junger Frauen basiert, ihre Konzertkarten verkaufen und Tattoos überstechen lassen. 

All die Normies, die Till Lindemanns Genie nur halbherzig gewürdigt haben, verstehen einfach nicht dass seine bis vor kurzem bei Kiepenheuer & Witsch verlegten Bände, die Gedichte über sexualisierte Gewalt enthalten, Ausdruck eines künstlerischen Ichs sind, und überhaupt nichts mit Lindemanns tatsächlichem Verhalten zu tun haben! Jedenfalls haben es Rammstein-Fans einfach verdammt schwer, weil sie zahlreiche mentale Verrenkungen vornehmen müssen, um vor sich und der Welt zu rechtfertigen, warum ihnen mit riesigen Phalli herumspritzende Altrocker mehr am Herzen liegen als das Wohlergehen von Frauen.

Rammstein sind jedoch nicht die einzigen Künstler, die trotz einer Geschichte von Chauvinismus und Misogynie nach wie vor von ihren Fans in Schutz genommen werden, eine Bühne bekommen und Preise abräumen. Die viel beschworene „Cancel Culture“ existiert nicht – obwohl sie dringend nötig wäre. Fanatischen Fans fällt es in der Regel ausgesprochen schwer, Kritik an den Objekten ihrer Bewunderung zuzulassen oder diese gar selbst zu üben. Denn wer als Fan eine Identifikation mit seinem Idol – sei es ein Schauspieler, eine Musikerin, ein Sportler – aufgebaut hat, ist häufig auch emotional mit diesem Idol verhaftet.

Nun ist es das eine, Kritikpunkte zu ignorieren oder zu verleugnen. Wie wir aber gerade in Bezug auf Rammstein sehen, bleibt es nicht dabei – stattdessen üben sich die Fans in brutaler Misogynie gegenüber den  Frauen wie Shelby Lynn oder Kayla Shyx, die den Mut haben, von ihren Erlebnissen mit der Band zu berichten. Derartiges Verhalten ist nichts Rammstein-spezifisches, sondern die  bittere Begleiterscheinung, wenn es Vorwürfe gegen berühmte Männer – und es sind meistens Männer – gibt. Drastischstes Beispiel der letzten Jahre ist wohl die misogyne Hasskampagne gegen die Schauspielerin Amber Heard, die gewagt hatte zu insinuieren, dass ihr Ex-Mann kein sensibler Außenseiter ist, wie er ihn in seinen Filmrollen in den 90er Jahren verkörpert hatte, sondern ein cholerischer Säufer. Diese Verteidigungshaltung resultiert aus mehreren Faktoren – ist aber letztendlich in einer Gesellschaft und Industrie verwurzelt, in der die Verachtung und Ausbeutung von Frauen an der Tagesordnung ist.

Rockstar-Männlichkeit

Fans gitarrenlastiger Musikrichtungen sehen sich gerne als irgendwie rebellisch, selbst wenn die von ihnen vergötterten Künstler Multimillionäre sind, die in ausverkauften Stadien das Standard-Programm jedes Radiosenders mit den „besten Hits der Achtziger, Neunziger und von heute“ abspielen. Vielleicht wohnte Rock noch subversives Potential inne, als Künstler*innen dafür Sanktionen erfuhren, sich gegen den Krieg in Vietnam zu stellen. Aber dem Kapitalismus und seiner Kulturindustrie ist es immanent, alles auch nur ansatzweise Bedrohliche aufzusaugen, sich einzuverleiben und zum systemkompatiblen Hochglanzprodukt zu machen, dessen kritisches Moment mehr Schein als Sein ist.

Wie die Autor*innen Joy Press und Simon Reynolds in dem lesenswerten „Sex Revolts – Gender, Rock und Rebellion“, das gerade jetzt das Buch der Stunde sein sollte, ausführen, wurde die Rebellen-Inszenierung „alternativer“ Musik immer schon auf dem Rücken von Frauen ausgetragen. Rock-Rebellen hatten sich seit den 1950er und 60er Jahren damit gebrüstet, alle erdenklichen – aber vermutlich auch deshalb selten konkret benannten – Repressionen kaputt schlagen zu wollen. US-Regierung, Elternhaus, Polizei, schlicht alles von dem Kränkungen und Einschränkungen ausgingen. Ein Unterdrückungsverhältnis blieb jedoch seit jeher außen vor: das Geschlechterverhältnis.

Wie Press und Reynolds darstellen, werden im Rock und seinen ideellen Vorgängern wie der Beat-Literatur Frauen, trotz der brutalen Ausbeutung und Unterdrückung, die sie im kapitalistischen Patriarchat erleiden, weniger als dessen Opfer gesehen. Stattdessen gelten sie als diejenigen, von denen eine Einschränkung und Unterdrückung ausgeht, gegen die rebelliert werden muss. Mütter, Lehrerinnen, Partnerinnen. Anstatt unsere Rock-Rebellen einfach ziehen und sich selbst entdecken zu lassen, verlangen diese Spießerinnen von ihnen die Übernahme von Verantwortung und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Und einen Job annehmen, um eine Familie zu ernähren, anstatt mit der Gitarre auf dem Rücken durchs Land zu reisen, ist dem musikalischen Männer-Genie schlicht unwürdig. Die Zuschreibung an Frauen, Teil der Herrschaft zu sein, ist eigentlich eine projektive Täter-Opfer-Umkehr, die den Zweck hat,  die konkrete patriarchale Gewalt, die Stars mit Rebellen-Attitüde immer und immer wieder ausüben, zu verschleiern.

Eigentlich, so argumentieren die Autor*innen von „Sex Revolts“, geht es in großen Teilen des Phallus-Rock maximal um eine infantile Rebellion mit dem Ziel, eine diffuse Unzufriedenheit zu artikulieren, sich die Hörner abzustoßen und für ein paar Jahre lang eine Gegenposition zu einem selten wirklich benannten Establishment zu performen. Mit einem tatsächlich revolutionären Anspruch, der eine radikale Kritik an den herrschenden Verhältnissen übt, hat diese Attitüde wenig gemein. Und: Es ist bezeichnend, dass diese musikalische Trotzphase bei so vielen Musikern inzwischen mehrere Jahrzehnte  anhält. Zusammenfassend: Das Establishment ist weiblich, Rebellion hingegen männlich konnotiert.

Rockstar-Misogynie

Auch wenn es zahlreiche bewundernswerte weibliche und queere Künstler*innen gibt, die sich in der chauvinistischen Rockindustrie durchsetzen konnten, war und ist die Funktion von Frauen in der Welt von Rammstein, anderer Männer-Bands und deren Fans primär die des Groupies. In von Männern produzierten Büchern, Liedern oder Filmen wird Frauen selten die Rolle als selbstbestimmtes Subjekt gestattet. Vielmehr müssen sie immer wieder als Projektionsfläche für dieselben Männerfantasien herhalten. Entweder sind sie das abstrakte,  sexlose Liebesobjekt, die sexuell deviante Schlampe, oder die kaltherzige Ex, an der in Texten  Rache genommen wird.

In einer Kulturindustrie, in der Männer – wie im Kapitalismus generell – im Besitz der Produktionsmittel sind, entstehen männerbündische Seilschaften. Diese führen dazu, dass Männergeschichten jene sind, die als erzählenswert erachtet werden, weil so viele Männer nach wie vor die Perspektive von Frauen nicht respektieren, und demzufolge auch nicht veröffentlichen wollen. Der einzige Zugang in die Musikbranche, zu den Bühnen, zu Musikern selbst war für Frauen das Dasein als Fan und Groupie. Rammstein ist nur ein Beispiel von vielen, dass Frauen als Fans, mit denen der Künstler über Musik fachsimpeln, oder dessen Tracks er hören kann, nicht wahrgenommen werden, sondern lediglich als Sexobjekte. Ihre Aufgabe ist es, Teil der Performance von Star-Männlichkeit zu sein, die auch immer über den Zugang zu anderen Körpern und Sex funktioniert.

Identifikation und Idolisierung

In patriarchalen Verhältnissen ist die Idealvorstellung von Männlichkeit mit der Abwertung des Nichtmännlichen verbunden. Richtig Mann kann nur sein, wer nicht Frau oder queer ist. Die Unterwerfung der Frau erfolgt konkret im besten Falle (aber nicht nur) durch den Sexualakt. Denn sexuelle Potenz, Virilität und Erfolg bei der Damenwelt sind Garanten dafür, ein echter Mann zu sein. Stars sind oftmals Gradmesser für die gesellschaftlichen Idealvorstellungen von Geschlecht. Sei es die verspielte, queer anmutende Männlichkeit eines Harry Stiles oder eben ein Till Lindemann, der sich selbst als intellektuell und künstlerisch versierter, direkter, harter Rebellentyp inszeniert, der aus einem riesigen Phallus von der Bühne sein Genie auf seine Fans runterspritzt und nebenbei auch noch Pornos mit sehr jungen Frauen dreht. Es ist naheliegend, dass diese Performance einen ganz bestimmten Typus Mann anspricht.

Die Fans von Rockstars sind zwar selten selbst wohlhabende Berühmtheiten mit einer Sammlung an antiken Gitarren oder kostbaren  Schallplatten, sie werden in der Regel nicht von attraktiven Frauen angehimmelt und von Plattenproduzenten umgarnt, aber der Konsum eines Musikers  führt dazu, dass man sich ein bisschen in dessen Ruhm sonnen kann. Musik vermittelt Emotionen; und selbst wenn die wilden Tage des Zuhörers inzwischen vorbei sind und er ein tristes Leben als mittlerer Angestellter fristet, seine Frau sich getrennt hat und die Kinder sich nicht mehr melden: im Auto die „Hardrock 1987“-Playlist aufdrehen lässt ihn noch einmal den Kitzel der adoleszenten Rebellion spüren. Diese adoleszente Rebellion ist eben auch immer auf der Wiedergutmachung gekränkter, infantiler Männlichkeit und der Abwertung von Frauen aufgebaut.

Wohl ein nicht unbeträchtlicher Teil männlicher Rammstein-Fans sehnt sich danach, über die Teilhabe an der Musik und an Konzerten zumindest ein bisschen sein zu können, wie sie sich Lindemann vorstellen. Lindemanns Umgang mit jungen, attraktiven Frauen ist für diesen Typ Mann, der Rockmusik und -stars nicht trotz, sondern wegen ihres Frauenbildes zelebriert, erstrebenswert. Gerade der Umgang von Rammstein-Fans mit den Teilnehmerinnen der feministischen Proteste gegen das Konzert in München macht dies deutlich. Die Fans, oftmals Typ „gut situierter Familienvater“, skandierten Parolen wie „Row, Row, Zero“, bekannten öffentlich ihre Liebe zu Lindemann und belästigten die Demonstrantinnen auf sexualisierte Art und Weise, wie berichtet wird.

Fandom als autoritäre Revolte

Ob Fans nun die Vorwürfe an Lindemann und seinem Umfeld glorifizieren oder sie verleugnen und die zahlreichen betroffenen Frauen als Lügnerinnen, rachsüchtige Groupies oder naive Dummchen darstellen: Sie glauben, auf der „richtigen Seite“ der Geschichte zu stehen. Denn ihre Idole sind ja Rebellen, die gegen das – mit Frauen assoziierte – Establishment antreten. Deswegen, so der gedankliche Kurzschluss, sind all jene, die sich gegen diese Idole stellen, Vertreter*innen der verhassten Spießergesellschaft.

Die eigene, alternative Szene dient oft als Raum der Abgrenzung gegen den „Mainstream“, was musikalisch, visuell und im Habitus zelebriert wird. Jedoch verleugnen Rock-Fans, dass ihre Musik längst zum Mainstream geworden ist. Fans glauben, ihre Szene aus einem „Wir gegen die“-Kollektivgefühl heraus als Schutzraum verteidigen zu müssen. Ein Beispiel ist Gatekeeping. Wer als junge Frau mit einem Wipers-Shirt auf ein Konzert geht, sollte aus der Pistole geschossen angeben können, für welche Alben Brad Davidson Bass gespielt hat, weiß sie das nicht, ist sie nämlich kein richtiger Fan. Dies liegt mutmaßlich auch viel in der oberflächlichen Ästhetisierung von Subkulturen über Plattformen wie TikTok begründet. Anstatt sich aber darüber zu freuen, dass sich junge Menschen für eine bestimmte Musikrichtung interessieren, sprechen eingefleischte Fans ihnen die genuine Begeisterung  nach wie vor oft ab.

Außerdem glauben Fans, die eigene Community gegen Kritik von außen verteidigen zu müssen. Diese Verteidigung kann berechtigt sein, wie bei der brutalen Hetze gegen Antifaschist*innen oder queere Menschen. Aber in einer Zeit, in der selbst die Bevölkerung von Sylt keine Einwände gegen die 2022 dort campierenden Punks hat, ist die Außenseiter*innenszenierung von Subkulturen obsolet geworden. Was bleibt, ist die Abwehrhaltung gegen Kritik aus den eigenen Reihen, weil: Dissonanzen im Wohlfühlort sind unangenehm. Die Leidtragendenden sind in der Regel Frauen, People of Colour, Queers oder Menschen mit Behinderung – denn anstatt Schutzraum vor Diskriminierung zu sein, führen Subkulturen diese immer wieder fort.

Im Falle von Bands wie Rammstein ist der Autoritarismus jedoch noch einmal drastischer, da diese Fans sich nicht als antirassistisch oder antisexistisch begreifen. Sie sehen sich, wie es Reaktionäre so gerne tun, als Opfer von Feminismus und Cancel Culture, die ihnen den Spaß des übergriffigen Saufgehabes nehmen will. Chauvinismus als Freiheit und der Appell an Verantwortung als weiblich codiertes Establishment, die klassische Männerrock-Erzählung also.

Gesellschaftlich vermittelte Misogynie

Letztendlich ist die treibende Kraft hinter der Verteidigung von Ausbeutung und die Wut gegenüber den  Frauen, die über das ihnen zugefügte reden, Misogynie. Die Philosophin Kate Manne bezeichnet Misogynie als „Straf- und Kontrollmechanismus des Patriarchats“, um Frauen dafür abzustrafen, sich patriarchalen Anforderungen an Weiblichkeit zu verweigern.  Gewalt ist ein Grundpfeiler patriarchaler Herrschaft – und seine Profiteure sanktionieren den feministischen Kampf für sexuelle Selbstbestimmung regelmäßig durch misogyne Akte und Kampagnen.

Opfern die Schuld für das Erfahrene geben, zu suggerieren, sie hätten es doch eigentlich gewollt, oder zu behaupten, Opfer würden gerade berühmte Männer aus niederen Motiven wie dem Wunsch nach Ruhm der Gewalt bezichtigen, sind elementare Bestandteile von Misogynie. Es ist bitter, live mitverfolgen zu können, mit welcher Selbstsicherheit und Grausamkeit Männer aller Milieus gerade ihre Frauenverachtung offen zur Schau stellen. Ziel ist es, die Betroffenen zum Schweigen zu bringen – und weiteren Opfern zu vermitteln: „Haltet lieber den Ball flach, sonst werden wir euch das gleiche antun.“

Es ist nicht so, dass diese Misogynie bei den Verteidigern von Lindemann nicht bereits vorhanden wäre – jetzt bricht sie nur besonders sichtbar heraus.. Jetzt haben diese Männer konkrete Feindbilder, bei denen sie glauben, ihre berechtigte Wut herauszulassen und ihr Idol verteidigen zu können. Primär zeigen sie nur auf, was für stumpfe Menschen sie sind, unfähig, sich einer simplen Erkenntnis zu stellen: Lindemann ist kein Genie, Rammstein machen keine subversive Kunst, sie sind bräsige Spießer und ihre Rebellion nichts anderes als infantiler Trotz, ausgetragen auf den Schultern von Frauen.

Foto von Diane Picchiottino auf Unsplash

Normalisierte politische Gewalt

von Annika Brockschmidt

Am 4. Dezember 2022 trafen acht Kugeln das Haus des Bernalillo County Commissioner Adriann Barboa. Am 11. Dezember folgten 12 Kugeln. Am 3. Januar diesen Jahres schlugen drei Kugeln in das Haus von Linda Lopez, Senatorin von New Mexico, ein, die den Distrikt 11 vertritt. Sie durchschlugen das Fenster des Schlafzimmers ihrer zehnjährigen Tochter, die zum Zeitpunkt des Angriffs schlief und durch die Schüsse geweckt wurde. Nachdem der State Representative (Bundesstaats-Abgeordnete) Javier Martínez von den Anschlägen auf die Häuser seiner Kollegen gehört hatte, überprüfte er sein eigenes Haus – und fand Einschusslöcher. Ziel der Anschläge waren in öffentliche Ämter gewählte Demokraten.

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Missbrauch, Kontrolle, sexualisierte Gewalt – Armie Hammer und das Erbe einer Dynastie

von Isabella Caldart

Content Warnung: Vergewaltigung, psychische und physische Gewalt, Gaslighting, Kannibalismusfantasien, Mord

Es ist die Bilderbuchfamilie, die Bilderbuchkarriere, das Bilderbuchleben. Ein großer blonder Mann mit breiten Schultern und All-American-Lächeln, mit der perfekten Ehefrau, zwei Kindern, einer reichen Dynastie im Hintergrund, Filmhits wie „The Social Network“, „On The Basis of Sex“ und vor allem „Call Me By Your Name“. Auch die Scheidung nach zehn Jahren Ehe, die im Juli 2020 bekanntgegeben wurde, kratzte nicht an seinem Image. Die Zukunft sah großartig aus für Armie Hammer. Bis im Januar 2021 ein anonymer Instagram-Account namens „House of Effie“ den Hollywood-Schauspieler unerwartet zu Fall brachte.

Von „House of Effie” zu „House of Hammer”

Am 10. Januar 2021 veröffentlichte „House of Effie“ auf Instagram zahlreiche DMs, die angeblich von Armie Hammer stammten. In diesen DMs schilderte er detailliert seine sexuellen Vorlieben, viele davon mit gewalttätigem Inhalt, einige davon beschreiben kannibalistische Fantasien („Ich bin zu 100 % ein Kannibale“). Vor allem Letztere ging in den sozialen Medien viral und sorgte für viele Witze und Memes. Witzig ist diese Geschichte aber ganz und gar nicht: Im März 2021 wurde Hammer von einer Frau namens Effie (mutmaßlich der Inhaberin des Instagram-Accounts) der Vergewaltigung und des physischen und psychischen Missbrauchs bezichtigt. Laut Effie lernten sie sich im Jahr 2016 über Facebook kennen, als Effie 20 Jahre alt war (Armie Hammer ist 1986 geboren), und führten dann eine vier Jahre dauernde On/Off-Beziehung, in der Hammer Effie kontrolliert, dominiert und missbraucht haben soll.

„Am 24. April 2017 vergewaltigte mich Armie Hammer über vier Stunden lang in Los Angeles, wobei er meinen Kopf wiederholt gegen eine Wand schlug und mein Gesicht verletzte“, sagte Effie in einem Videostatement. „Er beging auch andere Gewalttaten gegen mich, in die ich nicht eingewilligt habe.“ Laut einer der vielen privaten Nachrichten, die „House of Effie“ im Januar veröffentlichte, habe Hammer ihr danach geschrieben: „Du warst die intensivste und extremste Version, die ich je hatte. Dich auf dem Boden zu vergewaltigen, ein Messer gegen dich gerichtet. Alles andere wirkt langweilig. Wie du geweint und geschrien hast und ich über dir stand. Ich fühlte mich wie ein Gott. Ich habe noch nie solche Macht und Intensität verspürt.“

Nur wenige Tage nach dem Nachrichten-Leak ging Armie Hammers Ex-Freundin Courtney Vucekovich an die Öffentlichkeit und bestätigte dessen angebliche kannibalistischen Neigungen: „Er sagte zu mir, er wolle meine Rippe brechen, sie grillen und essen.“ Vucekovich ist eine der Schlüsselfiguren der dreiteiligen Dokuserie „House of Hammer“, die Anfang September auf dem Streamingdienst Discovery+ anlief. „House of Hammer“ geht aber einen großen Schritt weiter. Es geht nicht nur um Armie Hammer und die Vorwürfe der Vergewaltigung, des Missbrauchs, der psychischen Gewalt, Manipulation und Nötigung – es geht um die gesamte Hammer-Dynastie und die Frage: Wird solches Verhalten möglicherweise vererbt?

Gegenderte Gewalt der Hammer-Männer

Gewalt, das dröselt die Doku auf, ist ein integraler Teil der Hammer-Männer, und sie reicht viele Generationen zurück. (Ein Jahr vor „House of Hammer“ hatte Vanity Fair schon ein sehr ausführliches Porträt über die Familie und die Missbrauchsvorwürfe gegen Armie veröffentlicht.) Casey Hammer, Armie Hammers Tante, ist neben Vucekovich die zweite wichtige Augenzeugin in „House of Hammer“. Sie ist seit langem von ihrer Familie entfremdet und hat die Machenschaften der Hammer-Dynastie bereits in ihrem selbstverlegten Memoir „Surviving My Birthright“ (2015) geschildert.

Begründer dieser Dynastie und Patriarch war Armand Hammer (1898-1990), der als Inhaber des Erdöl- und Erdgasunternehmens Occidental Petroleum das Familienvermögen erwarb. Sowohl Armand als auch sein Sohn Julian sowie dessen Sohn Michael – Caseys Bruder und Armies Vater – haben laut Casey und „House of Hammer“ Zeit ihres Lebens (Julian starb 1996, Michael lebt noch) Frauen unterdrückt und misshandelt. „Jede Generation in meiner Familie war in dunkle Machenschaften verwickelt, und es wird immer schlimmer“, sagt Casey Hammer in der Doku. Armand Hammer soll eine Geliebte gehabt haben, die stets auf Abruf all seinen sexuellen Forderungen bereitstand; in den Scheidungspapieren von seiner zweiten Frau heißt es über ihn, er sei „ein Meister der psychologischen Kriegsführung“ gewesen.

Julian feierte bei sich zu Hause oft Partys in großem Stil, auf denen es nicht nur Schalen voller Kokain gab, sondern immer auch sehr junge Frauen anwesend waren, viele sogar noch minderjährig; auch sein Sohn Michael war bei diesen Partys anwesend. Julian, so sagt Casey, habe seine Ehefrau regelmäßig verprügelt, die mit ihrer Tochter jedes Mal ins Motel floh, bis sie sich Jahre später endlich trennen konnte. Casey erinnert sich auch an eine dieser Partys, auf denen sie als kleines Mädchen ein Telefonbuch neben ihren Kopf halten solle, damit ihr Vater darauf schießen könne – zwecks Entertainments seiner Gäste. In der dritten Folge von „House of Hammer“ sagt Casey außerdem, durch eine triggernde Situation später in ihrem Leben habe sie sich an ein weiteres Kindheitstrauma erinnert: Ihr Vater habe sie sexuell missbraucht.

Korrupte Millionärsfamilie

Mindestens genauso brisant sind die politischen Verwicklungen der Familie. Julius Hammer, Armands Vater, wird nur kurz erwähnt – er wurde im 19. Jahrhundert im Russischen Kaiserreich geboren, war dann Mitbegründer der Kommunistischen Partei in den USA (daher auch der Name seines Sohns, der für „Arm and Hammer“ stehen soll), und auch Armand hatte Verbindungen zur Sowjetunion – zu keinem Geringeren als Lenin und Stalin –, half den Sowjets, Geld in den USA zu waschen und führte sein Ölimperium später zu so großem Erfolg, weil er freigiebig Bestechungsgelder zahlte. Doch nicht nur im Kreml ging Armand ein und aus, zum Weißen Haus und zum Buckingham Palast hatte er ebenfalls beste Beziehungen, veranstaltete etwa für Prinz Charles und Lady Di einmal einen großen Empfang.

Sein Sohn Julian wiederum, Armie Hammers Großvater, erschoss im Mai 1955 kaltblütig einen Bekannten, dem er 400 Dollar schuldete – ein Mord, der nie geahndet wurde (er galt als „Selbstverteidigung“), weil Armand mit genug Geld nachhalf. Schließlich musste der Name Hammer makellos bleiben. Aber nicht nur Julian, auch Armand war verantwortlich für den Tod anderer Menschen. In dem Fall sogar für den von 167: Eine Ölplattform namens Piper Alpha vor der Küste Schottlands fing im Juli 1988 Feuer, Schuld waren mangelnde Sicherheitsvorkehrungen. Für Armand Hammer machte sich seine gute Beziehung zu den Royals damals bezahlt: Als er Betroffenheit heuchelte und kurz darauf mit Charles und Diana gesehen wurde, verzieh ihm die Öffentlichkeit diesen bis dato schwersten Unfall auf einer Bohrinsel.

Das Weiße Haus soll hier nicht unerwähnt bleiben: Armand Hammer war in den Watergate-Skandal verwickelt. 1972 hatte er illegale Spenden in Höhe von 54.000 Dollar an Nixon getätigt (inflationsbereinigt heute eine Summe von gut 380.000 Dollar). Im Jahr 1989 wurde er vom damals amtierenden US-Präsidenten George H. W. Bush begnadigt.

Machtspiele gab es auch innerhalb der Familie: Wenige Monate vor seinem Tod im Alter von 92 Jahren änderte Armand Hammer sein Testament. Die aktuelle Version ließ seinen Sohn Julian, mit dem er sich nie verstanden hatte, sowie Enkelin Casey so gut wie außen vor, Enkel Michael, Armie Hammers Vater, erbte fast das gesamte Familienimperium. Sie habe versucht, die Serie „Succession“ zu schauen, sagt Casey Hammer in „House of Hammer“. „Ich musste es ausschalten. Nimm ‚Succession‘ mal eine Million, und das ist meine Familie.“

Erbe der Gewalt

Zurück zu Armie Hammer. Armand, Julian, Michael, Armie – sie alle haben Frauen äußert brutal behandelt und auch sonst in vielerlei Hinsicht geringe Moral und eine hohe Gewaltbereitschaft gezeigt. Sein Frontallappen (unter anderem zuständig für das Sozialverhalten, für Empathie, Gefühle und die Persönlichkeit) sei noch nicht vollständig ausgebildet, hatte Armie Hammer früher einmal gescherzt. „Du wachst nicht eines Tages auf und wirst ein Monster – das ist erlerntes Verhalten“, sagt seine Tante Casey in der Dokuserie. Ob Armie Hammers Gewalttätigkeit und die Gewalt der Hammer-Männer generell nun genetisch oder erlernt ist, das sollen Neurolog*innen, Psycholog*innen oder Genetiker*innen erforschen. Fakt ist: Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Familie und scheint mit Armie Hammer einen negativen Höhepunkt erreicht zu haben.

Während sich die zweite Folge von „House of Hammer“ mit der Familienhistorie auseinandersetzt, legt die erste ihren Fokus auf die Opfer Hammers. Im Zentrum steht vor allem bereits erwähnte Ex-Freundin Courtney Vucekovich, eine eigentlich selbstbewusste (so wirkt sie) Frau, Gründerin, erfolgreich. Wie konnte es passieren, dass Armie Hammer so viel Macht und Kontrolle über sie ausgeübt hat?

Vucekovich beschreibt den Beginn ihrer Beziehung, wie Hammer sie mit Geschichten aus seiner Kindheit früh einlullte, um ihr Vertrauen zu gewinnen, wie er Love bombing betrieb (ihr ununterbrochen Nachrichten voller Aufmerksamkeit und Zuneigung schickte), wie es ihm immer wieder gelang, dass sie selbst die zahlreichen Red Flags ignorierte – so bekam sie, bevor sie sich jemals verabredet hatten, von ihm ein Foto ihrer Wohnung in Dallas, als sie verreist war. „Ich weiß noch, dass ich dachte: Flirten wir? Oder ist das beängstigend?“, sagt sie in der Doku. Man merkt, wie Vucekovich versucht, sich im Nachhinein einen Reim darauf zu machen, wie Hammer sie dermaßen manipulieren konnte: „Es ist verrückt, was der Verstand bereit ist zu übersehen oder zu rechtfertigen, wenn man jemanden wirklich mag.“

Für Außenstehende wirkt das Verhalten von Courtney Vucekovich unglaublich naiv und wenig nachvollziehbar, aber genau darum geht es: Jede*r, auch erfolgreiche, selbstbewusste, populäre Frauen kann das passieren, auch sie können in einen Zyklus aus Zwang, Unterdrückung, Gewalt und übertriebener Zuneigungsbekundung abrutschen. Dadurch wird nochmal deutlich: Die Schuld trägt immer der Täter.

Erzählweise der Dokumentation

Auch wenn „House of Hammer” einen starken Fokus auf die Opfer legt – neben den zentralen Figuren Courtney Vucekovich und Casey Hammer werden unter anderem eine weitere Frau, mit der Armie Hammer Nachrichten austauschte, die sich am Ende aber nie mit ihm traf, und ein ehemaliger Mitarbeiter vom Filmset interviewt –, so hat die Doku auch einige kritikwürdige Elemente. Da ist zum Beispiel die Erzählweise, die es nicht schafft, sich gänzlich vom konventionellen True Crime Storytelling zu lösen, teils mit Cliffhangern arbeitet, mit unheimlicher Musik und nachgestellten Szenen. Auch die These, das Böse sei vererbbar, flammt in dem Versuch, alle Hammer-Generationen und ihren Hang zur Gewalt miteinander zu verknüpfen, immer wieder auf. Und diese These ist mindestens angreifbar.

Ein größeres Problem ist aber, dass „House of Hammer“ die Moral und die Ideale, die hochgehalten werden, selbst missachtet. So wird mehrfach erwähnt, dass die Opfer im Vordergrund stehen sollen, und mit Vucekovichs und Casey Hammers Perspektiven stimmt das auch. Allerdings werden von der Frau, mit der Hammer nach Vucekovich eine Beziehung einging, die nahezu identisch war (dasselbe Motel, dieselbe Playlist, vergleichbare Verhaltensweisen), und Effie, die mutmaßlich auch „House of Effie“ ist, nur alte Videoaufnahmen eingeblendet. Der Grund: Beide Frauen wollten nicht Teil der Doku sein.

Effie beziehungsweise der Instagram-Account „House of Effie“ postete nach der Ankündigung der Doku in ihren Stories, die archiviert sind, sie habe nicht ihr Einverständnis dazu gegeben, dass die Screenshots ihrer DMs in der Dokuserie verwendet werden dürften. „Es ist so traumatisch und schmerzhaft für mich, wenn andere Menschen über mein Trauma sprechen oder versuchen, meine Geschichte nachzuerzählen”, schreibt sie. Natürlich sind die Screenshots der Hammer-DMs elementar für die Doku, und ohne „House of Effie“ wäre die Geschichte niemals ins Rollen gekommen. Aber gleichzeitig verlässt „House of Hammer“ hier die moralische Grauzone, indem die Wünsche eines der Opfer komplett ignoriert werden.

Konsequenzen

Wie geht es jetzt weiter mit Armie Hammer? Bereits wenige Tage nach dem DM-Leak durch „House of Effie“ veröffentlichte die britische Boulevardzeitung Daily Mail am 13. Januar 2021 ein Video, das den Schauspieler zeigt, der hinter dem Steuer trinkt und Drogen konsumiert. Noch am selben Tag stieg er aus der Rom-Com „Shotgun Wedding“ aus, in der er den Love Interest von Jennifer Lopez hätte spielen sollen, angeblich um mehr Zeit für seine Kinder zu haben; auch seine Agentur ließ ihn fallen. Der Film „Death on the Nile“ mit Hammer in einer der Rollen – eine Neubesetzung sei zu teuer gewesen – kam noch im Februar 2022 ins Kino (er floppte). Armie Hammer ging im Mai 2021 für sechs Monate in Reha – bezahlt übrigens von Robert Downey, jr. Im Juli dieses Jahres wurde bekannt, dass er wohl auf den Cayman Islands, wo er als Kind einige Jahre lang verbracht hatte, als Concierge arbeiten würde. 

Ob für Hammer eine Art Wiedergutmachung möglich ist, wenn er öffentlich genug Reue zeigt, zu Kreuze kriecht und Besserung gelobt, ist schwer vorherzusehen. Die Entertainment-Industrie beweist regelmäßig, dass auch sexualisierte Gewalt kein Grund für dauerhafte Ächtung ist (siehe den Heard/Depp-Prozess, den anhaltenden Support für Roman Polanski oder die Rückkehr von Louis C.K.). Die Vorwürfe gegen Armie Hammer jedoch sind so massiv, dass es selbst für ihn schwierig sein wird, wieder mit offenen Armen empfangen zu werden. Allerdings: Angeklagt wurde er bisher noch nicht. Vielleicht ändert das die Doku „House of Hammer“ jetzt.

Foto von Josh Nuttall auf Unsplash

Gewalt und Mimesis in Zeiten der Wahl – Über das Fehlen weiblicher Macht

von Barbara Peveling

In Deutschland verwandelte sich der Wahlkampf im Sommer in eine politische Hexenjagd. Frankreich hingegen wärmte sich für seine bevorstehende Kampagne mit der Präsentation toxischer Männlichkeit auf. In beiden Gesellschaften geht es dabei um die Aufrechterhaltung eines etablierten Systems durch Mimesis und Gewalt.

Eine Analyse.

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