(Dieser Text ist in leicht abgänderter Form als Nachwort für Sarah Bergers bitte öffnet den Vorhang: @milch_honig 2019–2009 verfasst worden) Weiterlesen
Kategorie: Feuilleton
Kitsch und AfD – Zur Ästhetik des aktuellen Rechtsradikalismus
In den letzten Jahrzehnten hat die Konjunktur des Kitschvorwurfs nachgelassen. Populären Autoren wie Takis Würger oder Karl Ove Knausgård, die ihre Texte durch Semi- oder Autofiktionalität gern mit Natürlichkeitspathos aufladen, wird er zwar manchmal gemacht, dabei aber nicht mit der verallgemeinernden Ablehnung alles Trivialen, die sonst oft dazugehörte. Während Urheber und populärer Gegenstand in Zweifel gezogen werden, ist man vorsichtiger geworden, dessen Rezipienten zu stark zu kritisieren. Was den Kitschvorwurf nämlich besonders problematisch macht, ist die mit ihm verbundene Unterstellung, nicht nur mit dem Werk, sondern auch mit den Fans des Kitsches sei etwas nicht in Ordnung. Doch diese soziale Dimension des Kitschvorwurfs heißt nicht, dass es den Kitsch als ästhetisches Phänomen nicht gäbe und der Begriff nicht zur Analyse bestimmter Texte gerade aufgrund ihrer Funktion im politischen Diskurs hin hilfreich sein kann. Weiterlesen
Der Wunsch sich selbst zu gestalten – Das Tagebuch der Marie Bashkirtseff
Von Magda Birkmann
Im Jahr 1882 forderte der französische Schriftsteller Edmond de Goncourt seine Leserinnen im Vorwort seines Romans La Faustin auf, ihm authentische Zeugnisse ihres Lebens und ihrer Empfindungen – in der Form von Tagebüchern, Erinnerungen und Lebensbeichten – zukommen zu lassen: Weiterlesen
„Die unklare Ängstlichkeit vor atmosphärischen Revolutionen“ oder Über das Lesen und Schreiben im Anthropozän
Weil ich Fichtenwälder liebe,
ging ich durch Fichtenwälder
– Franz Kafka
I miss the earth so much
– Elton John
Wahr, glokal und hier und jetzt – Literatur & Internet
„Die wichtigen Dinge des Lebens geschehen nicht im Internet.“
Es zeugt von einer seltsamen Unkenntnis des Lebens sehr vieler Menschen im 21. Jahrhundert, wenn ein Schriftsteller in unserer Gegenwart solche Aussagen trifft. Und doch scheint Alex Capus, einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller der letzten zehn Jahre, der Ansicht zu sein, dass das Internet kein Ort für das echte und wahre Leben sei. Deswegen hat er eine Kneipe eröffnet. Das sei wie Facebook, nur ohne Internet, schreibt er in einem Text für die Schweizer Zeitschrift Das Magazin. Weiterlesen
Was man lesen kann – Frühjahrsempfehlungen von 54books
Wer einmal über eine der beiden großen Buchmessen Deutschlands in Leipzig und Frankfurt gelaufen ist, hat eine Ahnung davon bekommen, wie viele Bücher jedes Jahr im Frühjahr und in der Herbstsaison erscheinen. Niemand kann da den Überblick behalten, und warum auch? Von den rund 70 000 Büchern, die jährlich in Deutschland auf den Markt kommen, kann und will man nicht einmal einen Bruchteil lesen. Und selbst diejenigen, die man gerne lesen würde, wird man nicht alle innerhalb des Jahres lesen können. Es scheint ein schier unmögliches Unterfangen zu sein, eine Schneise der Empfehlungen in dieses Dickicht aus Neuerscheinungen zu schlagen. Weiterlesen
Wer hat das Gudbrandstal geschrieben?
Klima, Kunst und Erde: In diesem Gesamtkunstwerk, zu dem auch wir gehören, hängt alles mit allem zusammen.
Susanne Christensen, 1969 geboren, ist eine dänisch-norwegische Literatur- und Kunstkritikerin. Der vorliegende Text stammt aus der norwegischen Literaturzeitschrift Vagant und war ursprünglich ein Beitrag zum Kunstprojekt Framtidsruiner (Zukunftsruinen) über Orte im norwegischen Gudbrandstal. Das Gudbrandstal ist eine nahezu mythisch aufgeladene Landschaft: Vom sogenannten „Eidsvoll-Eid“ („Einig und treu, bis der Berg Dovre fällt“), den sich die verfassungsgebende Reichsversammlung 1814 schwor und damit für Norwegens Unabhängigkeit sorgte, bis zu Edvard Griegs Vertonungen des Ibsen-Dramas Peer Gynt ist es für die Ausprägung der norwegischen Nationalromantik von höchster Bedeutung. Weiterlesen
Feuilleton auf unserem Planeten
Als Tilman Winterling im November 2012 einen Beitrag mit dem Titel “Startschuss!” auf seiner neuen Homepage 54books.de veröffentlichte, stand dort lediglich “Hier soll in nächster Zeit mein Blog entstehen.” Einen genauen Plan gab es damals eigentlich nicht, Tilman hatte sich im Vorfeld nicht mit anderen Blogs, Twitter oder Rezensionen beschäftigt; er war nach eigener Aussage ein Hobbyleser, wie es bis heute Bloggern vorgeworfen wird. Weiterlesen
Flâneur am rechten Rand
Nachdem die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke verkündet worden war, übermittelte die Antaios-Lektorin Ellen Kositza auf Twitter die begeisterte Zustimmung ihres Ehemanns, des Antaios-Verlegers Götz Kubitschek: Per Shelfie zeigte sie die einigermaßen umfangreiche Handke-Sektion des Burgbücherschranks. Tatsächlich hatte Kubitschek, der seit einigen Jahren einem breiten Publikum am besten für seinen Speiseplan und seine Funktion als Ideologe von AfD und Identitärer Bewegung bekannt ist, Handke bereits 2012 als Teil des „Lektürekanons rechter Leser“ (Sezession 45/2011) bezeichnet. Literatur spielt für eine Gruppe, die sich vom Mainstream wahlweise als kulturell enthoben oder eingebunden verstehen will, schließlich keine ganz triviale Rolle.
Doch warum Handke? Zunächst haben die Schnellrodaer Selbstdarsteller*innen die Angewohnheit, ihrer eigenen Marke Publizität zu verschaffen, indem sie sie gebeten (Uwe Tellkamp) oder wahrscheinlich ungebeten (Eugen Ruge) mit etablierten Namen aus dem Kultur- und Literaturbetrieb verknüpfen. Handke ist dabei aufgrund seiner geschichtsrevisionistischen Haltung zum Völkermord im ehemaligen Jugoslawien eine Figur, die sich ähnliche Kritiker*innen wie Kubitschek gemacht hat – Kritiker*innen, die einem positivem Bezug auf Rassismus und Nationalismus weder zustimmen und denen diese Haltung auch nicht egal ist, nur weil sie sich nicht von angeblich kontextbefreiter Ästhetik ablenken lassen.
Betrachtet man Handkes eigene Jugoslawien-Interventionen, so wird deutlich, dass eine Nähe zur europäischen radikalen Rechten nicht rein zufällig ist. Wie bereits von FAZ und besonders eindrucksvoll von Alida Bremer im Perlentaucher berichtet, gab Handke noch 2011 dem verschwörungstheoretischen Magazin Ketzerbriefe ein Interview, in dem er die Opfer des Massenmords von Srebrenica verhöhnte. Wie weiter zurückliegende Äußerungen Handkes in einschlägigen Publikationen zeigen, hat eine Nähe zu rechten Extremisten bei ihm Tradition. Als Teil seiner Unterstützung Serbiens im Kosovokrieg war Handke 1999 einer der Unterzeichner einer Querfront-“Antikriegspetition” des Gründervaters des intellektuellen Nachkriegsrechtsradikalismus in Europa, des französischen Philosophen Alain de Benoist. Die Erklärung sprach sich unter anderem gegen das “erste Bombardement eines souveränen europäischen Staates durch eine amerikanische Militärallianz” seit dem Zweiten Weltkrieg aus und solidarisierte sich gleich auch noch mit den Palästinensern. Unter den Unterzeichnern fanden sich neben Handke die Schriftsteller Jean Raspail (“Das Heerlager der Heiligen”) und Guillaume Faye (“Ethnische Apokalypse: Der kommende europäische Bürgerkrieg”), sowie viele andere französische, deutsche und amerikanische Autoren aus dem ganzen neurechten, rassistischen Spektrum.
Während andere prominente Unterzeichner, denen der Inhalt des Aufrufs wohl nicht unangenehm genug gewesen war, ihre Unterschrift zurückzogen, als die Initiatoren und Mitunterzeichner noch offensichtlicher geworden waren, geht Handkes Verbindung zur französischen Nouvelle Droite weiter zurück. Bereits 1996, auf der Höhe des Skandals um Handkes Jugoslawien-Reportagen, erschien sowohl in der deutschen Zeitschrift Novo (Nr. 22/1996, wiederveröffentlicht von Suhrkamp) als auch in französischer Übersetzung im Theorieorgan Alain de Benoists, der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Éléments pour la civilisation européenne (Nr. 86/1996, wiederveröffentlicht in Nr. 149/2013), ein Interview mit Handke. Ganz im Duktus der heutigen Lügenpresse-Rufer erzählt Handke darin dem Novo-Chefredakteur Thomas Deichmann (später als Beistand des Kriegsverbrechers Duško Tadić und noch später als “Klimaskeptiker” bekannt), dass die “Medien […] eine Art Viertes Reich bilden” würden, in dem “im Vergleich zum Tausendjährigen Reich, das nur zwölf Jahre gedauert hat, überhaupt kein Ende abzusehen” sei.
Handke kann behaupten, von diesen Assoziationen mit europäischen Faschisten nichts gewusst zu haben, nichts autorisiert zu haben, nicht für das Handeln seiner Fans verantwortlich zu sein. Aber Nichtwissen hat bei ihm Tradition, und das, was er unterschrieben und gesagt hat, spricht für ihn selbst.
Ist das Zensur oder kann das trotzdem weg?
von Elif Kavadar
Je mehr über Inhalte gesprochen wird, die bestimmte Gruppen von Menschen benachteiligen, desto häufiger treten Vorwürfe auf, die Redefreiheit werde dadurch eingeschränkt. Nicht nur verschiebt das den Fokus der zu Beginn geäußerten Kritik – es konstruiert auch eine Machtverschiebung und einen Freiheitsverlust, der nicht existiert.
Vor einigen Tagen schrieb Johannes Franzen in der FAZ darüber, warum solcherlei Zensurvorwürfe, die es so vorher nicht gegeben hätte, keine Grundlage haben und ein Vorher erschaffen, in dem alles kritiklos akzeptiert worden sei. Weder entspricht das den historischen Tatsachen, noch ist im Heute eine solche Zensur durch Einwände an manchen Inhalten wirksam. Dennoch wird Kritik an benachteiligenden Inhalten mit inquisitorischen Mitteln verglichen, wie im folgenden Kommentar unter dem Beitrag:

Auch in der kürzlichen Debatte um Sensitivity Reading* flammten Zensurvergleiche auf, wieder wurden Gefahren konstruiert, wieder Verbote der Redefreiheit beteuert. Eine ironische Tatsache, bedenkt man, dass diese vermeintlichen Einschränkungen der Redefreiheit auf großen Portalen wie der ZEIT und dem NDR als Bedrohung dargestellt wurden. In „Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche“ greift Reni Eddo-Lodge das Phänomen auf:
„Diesem Kampf um die „Redefreiheit“ kann man kaum eine Debatte nennen. Sie ist einseitig, und die mächtige Seite verdreht ständig die Teilnahmebedingungen. Den Widerstand gegen antirassistische Reden und Proteste als einen edlen Kampf um Redefreiheit zu verkaufen ist eine Strategie, um Weiße vor Kritik zu schützen. Manche Weiße scheinen zu glauben, dass der Vorwurf des Rassismus viel schlimmer als der Rassismus selbst ist.“ (S. 140)
Dieser Mechanismus, den oppositionellen Stimmen eine Art diktatorische Macht zuzusprechen und Probleme zu konstruieren, die eigentlich keine sind, greift nicht nur in Debatten um Rassismus, sondern ist in allen Diskursen um Diskriminierung beobachtbar – so auch bei der Erfindung der Feindbilder „Political Correctness“ und „Gutmenschen“, wie Katrin Auer schon 2002 analysierte. Vergleiche mit der katholischen Inquisition, bekannten historischen und heutigen Diktatoren und die Bezeichnung als eigentliche Faschist*innen postulieren ein Ende der (Rede-)Freiheit und erschaffen eine Situation, die bedrohlicher nicht wirken könnte – entspräche sie denn den Tatsachen. Das Feindbild einer Art allmächtiger Institution entsteht, welches Mustern antisemitischer Weltverschwörungstheorien gleicht.
„Political correctness ist ein Kampfbegriff, mit dem rechtsextreme Ideologen demokratische Positionen in Frage stellen, um ihre eigene Position um so wirkungsvoller zur Geltung zu bringen. Der Effekt dieser Diskursstrategie steigert sich noch, wenn die vermeintlichen Vertreter von pc mit einer Machtfälle imaginiert werden, die ihresgleichen sucht.“ (Jäger/Jäger 1999, zit. n. Katrin Auer)
Das ist auch zwei weiteren Beispielen zu entnehmen, die ich als Mit-Betreiberin der Sensitivity Reading-Website* erhalten habe. Das erste Zitat ist aus einer Mail, das zweite aus einem Kommentar. Besonders erstaunlich ist, dass trotz der angeblich diktatorischen Verhältnisse keine Sorge zu bestehen scheint, all das unter dem Klarnamen zu veröffentlichen.


Die Vehemenz, mit der verteidigt wird, diskriminierende Inhalte weiterhin kritiklos schreiben zu dürfen, erinnert nicht selten an die Taktiken der AfD, die z.B. „die Freiheit Andersdenkender“ bedroht sieht, wenn sich das Maxim Gorki-Theater an einer antifaschistischen Demonstration beteiligt. Freiwillige, nicht staatlich vorgegebene Aktivitäten werden rhetorisch zu gehirnwäschenähnlichen Repressionsmaßnahmen erhöht und instrumentalisiert.
Matthias M. Lorenz beschreibt in „Literatur und Zensur in der Demokratie“ die Bestrebungen, bestimmte Begriffe wie das N-Wort nicht mehr zu nutzen, als „weder Denkverbot noch Sprachzensur, sondern in erster Linie eine legitime Forderung in der Multikulturalismusdebatte“ (S. 192). Es sei die Folge eines demokratischen, nicht eines totalitären Prozesses. Weiterhin zitiert er Wolfgang Fritz Haug, der fragt: „Aber was ist das für ein Handlungsverlangen, das die Fesseln der Moral loswerden, sich von den Werten der Kultur und den Regeln der Demokratie emanzipieren will?“ (ebd.).
Ob sich diese Kommentator*innen rechts positionieren würden oder nicht, so lässt sich eine Aneignung der Rhetorik und der Strategien des rechten Spektrums nicht von der Hand weisen. Inwieweit das ein Symptom für den Erfolg neurechter Denkmuster ist oder dafür, dass demokratische Bestrebungen anfangen, zu fruchten, das weiß ich nicht. Vielleicht ist das Hinausposaunen eines angeblichen Freiheitsverlustes an eine breite Öffentlichkeit ein Zeichen dafür, dass Privilegien angekratzt werden, dass tatsächlich eine Bedrohung existiert – nämlich die, Privilegien und Deutungshoheiten vielleicht irgendwann teilen zu müssen. Aus dieser Perspektive betrachtet sind solcherlei Kommentare womöglich eine Bestätigung, dass es vorangeht, dass mehr über Themen und Menschen geredet wird, die bisher eine marginale Rolle in der Kultur gespielt haben. Mühselig ist das Ertragenmüssen dieser Symptome nur trotzdem.
*Sensitivity Reading ist ein Angebot, das Autor*innen vor Veröffentlichung eines Manuskripts nutzen können, um ihren Text auf unbeabsichtigte Bias und diskriminierende Inhalte sichten zu lassen. Sensitivity Reader sind ein Glied des Lektorats, sofern der Wunsch besteht, die Expertise von Menschen, die diese Diskriminierungserfahrungen machen, in Anspruch zu nehmen. Mit dem Erstellen einer Plattform für diesen Zweck hat die Kritik an selbiger stetig zugenommen.
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