Von Daniel Syrovy
Erzählungen sind in gewisser Weise immer politisch. Zumindest die Struktur und die Auswahl dessen, was erzählt wird (aus wessen Perspektive, mit welchen stillschweigenden Voraussetzungen), hat immer eine politische Dimension. So lautet ein Grundgedanke der Kulturwissenschaften. Die Politik der Erzählung ist allgegenwärtig. Aber was ist mit den Erzählungen von Politik im landläufigen Sinne? Vom politischen Tagesgeschäft etwa, oder von demokratischen Strukturen (bevor sie illiberal oder totalitär werden). Dieser Gedanke kam mir immer wieder bei der Lektüre des Debütromans der österreichischen Schriftstellerin Raphaela Edelbauer Das flüssige Land (2019) – ein Gedanke, der rasch weitere Kreise zog.
In der Tat ist es aufschlussreich, sich den Stellenwert politischer Öffentlichkeit in fiktionalen Texten, sowie in Film und Fernsehen zu vergegenwärtigen. Sofern in Romanen, Filmen und Fernsehserien überhaupt politische Systeme dargestellt werden, erscheinen diese meist als elitäre undurchdringliche Strukturen. Karrierismus, Intrigen, Korruption, autokratische Figuren, oder inkompetente Schadensbegrenzung (man denke an die TV-Serie Braunschlag), die zwielichtigen und ethisch fragwürdigen Seiten des politischen Alltags also, gibt es zweifellos auch in der Wirklichkeit, wie zuletzt das Beispiel der Ibiza-Affäre gezeigt hat. Die allgemeine Teilhabe an politischen Prozessen jedoch (vom Gemeinderat bis hin zu Wahlhelferinnen) wird eher selten erzählt.
In Edelbauers Das flüssige Land dauert es nicht lang, bis klar wird, dass sich das hier erzählte Österreich nur bedingt mit der Wirklichkeit deckt – etwa bis zu der Stelle, wo eine Autobahn-Raststätte Wittgenstein-Punschkrapferl im Angebot hat (S. 20). Noch ist der Tourismus, wie wir ihn kennen, auf die Zeit der Monarchie fixiert. Noch gibt es keine Philosophenporträts auf der altrosa Glasur der traditionellen österreichischen Süßspeise. Selbst die Thomas-Bernhard-Kugel ist bisher nur ein Kunstprojekt. Aber die Zutaten sind vorhanden, und was Edelbauer im Lauf des Romans an phantastischer Mythenbildung hervorbringt, ist, wie jede gute Überzeichnung, deutlich wiederzuerkennen. Mehr noch: Die Karikatur verweist auf Wissen, das uns zwar gemeinsam ist, das aber nicht so offen daliegt, wie es den Anschein haben mag. Deshalb allein lohnt sich ein weiterer Blick.
Aufblitzen der Realität
Die spezielle Art der persiflierenden Verdichtung in Edelbauers Roman ist schön an einem Dorffest zu erkennen, bei dem eine Weinkönigin gewählt und ein Maibaum aufgestellt wird, während alle so tun, als existiere der Abgrund nicht, der sich langsam unter dem Ort auftut, weil der alte Bergwerksstollen einstürzt („fortbewegen konnte man sich über den trichterförmigen Hauptplatz nur mehr auf seinem steinernen Pizzarand“). Auch was im Ort und in den Stollen während der NS-Zeit passiert ist, will keiner so genau wissen. Lieber schiebt man die Schuld an den Auswirkungen auf die Landwirte und Pharmakonzerne („Mittelschullehrer gegen Pfahlwurzler – eine Abrechnung“), oder allenfalls etwas willkürlich auf die „nachts über die Grenze kommenden Slowenen“.
Die ideale Lösung für das Problem wäre ein simples „Füllmittel“, um den Untergrund zu stabilisieren. So könnte das Leben der Einwohner*innen weitergehen, allerdings nicht für die Flora und Fauna der Gegend, die eine solche Bodenversiegelung nicht überleben würden. Zuständig für das Füllmittel ist die Protagonistin und Erzählerin des Romans, die es nach dem Tod ihrer Eltern mehr zufällig nach Groß-Einland verschlagen hat. Sie ist zwar „studiert“, als theoretische Physikerin bringt sie allerdings keinerlei Expertise für eine solche Arbeit mit, was, ohne allzu große Verrenkungen, letztlich auch recht österreichisch anmutet.
Verantwortlich für die Idee ist freilich nicht die Protagonistin selbst, sondern die „Gräfin“, die über den Ort herrscht und der man nicht zu widersprechen hat. Die Institution des Schlosses, das über Groß-Einland thront schlägt zunächst eine an Kafka erinnernde Tonlage an: Was man im Stadtarchiv in die Hände bekommt, bestimmt die Gräfin; worüber man im Wirtshaus redet, ebenfalls. Das Schloss ist Vater, Logos, Gott. Bei etwas näherem Hinsehen ist diese Gräfin jedoch alles andere als ein übermenschliches Wesen („Also, was ich Ihnen hiermit anbieten will, ist das Du-Wort. Ich bin die Ulrike“) und ihre Herrschaft ist eine Folge von Enteignung, Arisierung, systematischem Grunderwerb. Gleichzeitig befindet sich Groß-Einland aber außerhalb jeder Rechtsordnung („natürlich stehen wir nicht im Gemeindeverzeichnis“) und die Gräfin erklärt ganz deutlich: „der Bürgermeister ist nicht Teil unserer Geschäftlichkeiten […] Sehen Sie, in dieser Gemeinde gibt es, ebenso wie in unserem Staat als Ganzem, zwei Körperschaften“. Die „alte Ordnung“ stehe einer neuen gegenüber, die „einfach über die erste gebreitet wurde, ohne auf die gewachsenen, organischen Strukturen Rücksicht zu nehmen.“ In dieser Pervertierung historischer Ereignisse blitzt satirisch das monarchistisch-aristokratische Prinzip des alten Österreich auf, und auch dieses ist für den Leser scheinbar leicht zu identifizieren. Nur: womit haben wir es hier eigentlich zu tun?
Auch außerhalb des Romans – in der wirklichen Welt – befinden wir uns in einer Zeit, wo in Österreich immer noch überall von Landes- und Dorfkaisern die Rede ist; wo alteingesessene Familien (nunmehr ohne Adelstitel) über erheblichen Grundbesitz in Österreich verfügen. Zudem speist sich ein wesentlicher Teil des nationalen Selbstverständnisses aus einer idealisierten Habsburgermonarchie, deren heimliche Nachfolge das heutige Österreich gewissermaßen für sich beansprucht. Aus all diesen Gründen dauert es eine ganze Weile, bis sich ein halbwegs scharfes Bild auf das ergibt, was Edelbauers Roman in dieser Hinsicht mitverkörpert, ja, wofür er teilweise symptomatisch ist.
Literarischer Mythos Kakanien
Dazu ist ein Blick auf den literarischen Kontext nötig. Die Kafka-Anklänge in Das flüssige Land, ebenso wie explizite Verweise auf Robert Musil (es ist etwa die Rede von einer „Parallelaktion“, ganz wie im Mann ohne Eigenschaften), zeigen unmissverständlich, in welcher literarischen Tradition Edelbauers Roman steht. Man könnte der Liste Gerhard Fritschs Moos auf den Steinen (1956) hinzufügen, wo ein junger Schriftsteller im Nachkriegsösterreich ein verfallenes Schloss im Marchfeld besucht, das ebenso wie sein Schlossherr symbolisch für die Monarchie und ihre Ideale steht. Weiters eine ganze Reihe von Texten Thomas Bernhards, etwa Verstörung (1967), in dem der Fürst Saurau, wenn auch vom Wahnsinn gezeichnet, von seiner Burg Hochgobernitz aus unhinterfragt über die Gegend und die Leute herrscht.
Dieses literarische Österreich zehrt, wie fast die ganze heimische Literatur seit dem 19. Jahrhundert, direkt oder indirekt vom Mythos Kakanien. Schon in den 1960er Jahren hat der Triestiner Literaturwissenschaftler Claudio Magris in Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur dargestellt, wie die habsburgische Geschichtsverklärung auch in der Literatur nach 1918 weiterwirkte. Dass das Motiv sich auch hundert Jahre nach dem Ende der Monarchie noch zu halten vermag, wäre für sich genommen vielleicht keine allzu große Überraschung. Die Summe dieser quasi-monarchischen Herrscher – und ihrer Beamtenarmeen einer riesigen gesichtslosen Bürokratie – zeichnet für die Leser*innen jedoch meist ein Bild des zeitgenössischen Österreich, das demokratiefern bis demokratiefeindlich ist. Welche Auswirkungen solche Darstellungen auf ein Lesepublikum haben, ist schwer zu sagen, unter den vielen vorstellbaren Konsequenzen wird dessen politische Ermächtigung aber vermutlich eine geringe Rolle spielen.
Grundsätzlich sieht es so aus, als wären funktionierende demokratische Prozesse offenbar kein guter Stoff für Literatur und Film. Selbst wenn ein halbwegs realistisches Politikmilieu eine größere Rolle in literarischen Texten spielt, was selten genug der Fall ist, finden wir die beschriebenen Tendenzen zu Intrigen und Korruption. Barbara Frischmuths Über die Verhältnisse (1987) erfüllt zunächst den Anspruch. Die Hauptfiguren sind eine Wirtin, aber auch der sogenannte „Regierungschef“, sowie mehrere Minister und hohe Beamte. Es geht zunächst um Verhandlungen und Pressekonferenzen, um die Anforderungen der Tagespolitik. Selbst hier wird die Regierung aber bald zum „Staatstheater“ und zur „Volksbelustigung“, wo „die Leute auf der Straße sich […] für Statisten halten, denen von der Regie höchstens unartikuliertes Murren zugestanden wird.“ Und die Politiker? Sie „taktieren“, anstatt Dinge zu erledigen; denken „im Grund […] schon an die übernächste Periode.“ Dass der echten Politik seit Jahrzehnten eine neue und zuvor nicht dagewesene Entertainment-Dimension eignet, wie sie etwa der Politikwissenschafter Andreas Dörner in seiner Studie Politainment (2001) beschrieben hat, macht die Sache keineswegs leichter.
Es ist ein Teufelskreis, der einerseits sicherlich viel von dem beschreibt, was in Österreich (und anderswo) passiert, aber gleichzeitig unweigerlich die Parameter vorgibt, mit der wir uns die Gesellschaft ausmalen, in der wir uns bewegen.
In Das flüssige Land fokussiert Edelbauer, wie bereits angedeutet, nach und nach auf die Zeit des Nationalsozialismus: der Stollen, der zunächst Geldgier und Ausbeutung in einer kapitalistischen Gesellschaft seit der Frühen Neuzeit repräsentiert, wird nun auch zum Symbol für die Verbrechen nach 1938. Man erkennt Anklänge an das Werk von Hans Lebert (Die Wolfshaut) und vor allem an Elfriede Jelinek, von Die Kinder der Toten bis zu Rechnitz (Der Würgeengel). Das Stück, das mit der Regieanweisung „Ein Schloß in Österreich. Jagdtrophäen an den Wänden“ beginnt, behandelt das historische Massaker an 180 Zwangsarbeitern im März 1945 während eines Festes der Gräfin Batthyány, dessen Ähnlichkeit mit einem Hauptmotiv bei Edelbauer unverkennbar ist (mein Dank an Andrea Capovilla für den Hinweis).
Ganz ohne Bruchstellen kommt Edelbauers Text aber nicht aus, was den Nationalsozialismus betrifft. Für die Romanhandlung war dieser historische Aspekt vermutlich unvermeidlich. Dass die korrupten Figuren alle ökonomischen „Möglichkeiten“ unter dem NS-Regime ausgenutzt haben, ist nicht überraschend. Allerdings steht die ideologische Bezugnahme, die, vielleicht zu Recht, in die Motivation der Charaktere einfließt, seltsam neben der zentralen Romanhandlung. Mit anderen Worten: es handelt sich nicht nur um Geldgier und Korruption, sondern um eine faschistoide Grundhaltung. Dass auch dieser Aspekt grundsätzlich glaubwürdig sein kann, steht außer Zweifel. Hier liegt aber eine Schwäche des Romans, denn die Gesten, die in der Erzählung selbst gesetzt werden, bleiben eher blass und wirken stellenweise etwas aufgesetzt, als verstehe sich diese Dimension von selbst. Nirgends ist das verwunderlicher als bei der „Entdeckung“ der jüdischen Vergangenheit der Protagonistin, die praktisch aus dem Nichts zu kommen scheint.
„We need new narratives“
Das flüssige Land endet damit, dass die Protagonistin aus ihrer wenigstens zum Teil trauer- und medikamentenbedingt surrealen Auszeit in Groß-Einland in die Stadt zurückkehrt, wo sie in der Multikulturalität und einem gewissen Hedonismus Trost zu finden scheint („ich würde schon abends, dachte ich, am Donaukanal sitzen […] Menschen aus allen Nationen würden mit Lautsprechern und Dosenbier in der Hand an mir vorbeirinnen. Groß-Einland wäre mir nichts mehr als ein merkwürdiger Traum“). Das ist der Autorin in manchen Rezensionen negativ ausgelegt worden. Womöglich, weil als Lösungsansatz verstanden wurde, was doch nur eine weitere Flucht vor der Konfrontation ist, nicht nur mit der NS-Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart. Darin liegt zunächst wenig Trost, aber reichlich Potential, vielleicht doch etwas ändern zu können, wenn man es gemeinsam zu ändern versuchte.
„We need new narratives“ – wir brauchen neue Erzählungen, so lautet ein in den letzten Jahren von Kulturwissenschafter*innen wiederholt angeführtes Programm für das Umdenken in sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Hinsicht. Wir nehmen die Welt in Geschichten wahr, weshalb neue Geschichten uns einen neuen Blick auf die Welt ermöglichen. Leicht ließe sich das auch auf die Einbindung der Menschen in politische Prozesse umlegen. Andreas Dörner beschreibt, wie „Politainment“ auf das Fehlen jedes direkten Kontakts zum politischen System reagiert und dieses „wieder sichtbar und sinnlich erfahrbar“ macht: doch sind dieser einseitigen Form von Aufbereitung in Talkshows, Publikumsveranstaltungen und Werbespots klare Grenzen gesetzt, die heute immer deutlicher werden, nicht zuletzt, was ihre Manipulationsmöglichkeiten betrifft. Das Ziel müsste vielmehr die Einbeziehung und das Engagement Vieler sein, eine neue positive Sicht auf demokratische Prozesse. Wie die Literatur dazu beitragen kann, ist freilich nicht von Außen zu entscheiden. Ein guter erster Schritt wäre es jedoch, sorgsam zu reflektieren, welche Implikationen die Wiederholung althergebrachter literarischer Motive haben kann – und dann auch zu überlegen, wie man den verkrusteten Strukturen vielleicht entgegenwirken könnte.