von Alex Struwe
„Deutschland liebt das Lesen“, verkündete die Presseabteilung der Leipziger Buchmesse Ende März 2025. 296.000 Interessierte waren dieses Mal zum jährlichen Frühjahrstreffen der deutschen Buchbranche erschienen, ein Besucherrekord und eine „überwältigende Resonanz“. Auch die Frankfurter Buchmesse ging vor kurzem mit gestiegenen Besucherzahlen zu Ende und “bleibt auf Wachstumskurs”, wie der Direktor der Messe resümierte. Es sei “eine immense Lesebegeisterung zu spüren” gewesen, ergänzt die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Das Herz der Bildungsbürger schlägt höher. Sind Bücher also doch wieder im Kommen? Lesen die Menschen wieder mehr?
Euphorie über die Vitalität des analogen Mediums kann die angeschlagene Buch- und Zeitungsbranche selbstredend gut gebrauchen. Lieferanteninsolvenzen setzten kleinere Verlage enorm unter Druck, Verkaufszahlen gehen zurück, Auflagen werden reduziert und kaum ein (zugegeben linkes) Medium musste im vergangenen Jahr nicht um Rettung durch Spenden oder Solidaritätskäufe rufen. Dies spiegelt auch einen tiefgreifenden Wandel in den Lesegewohnheiten wider. Die Langzeitstudie American Times Use Survey aus den USA fand in den letzten 20 Jahren einen dramatischen Rückgang des freiwilligen Lesens um 40 Prozent, was die Studienleiterin als „zutiefst besorgniserregend“ kommentierte. Zugleich bieten die großen Sprachmodelle künstlicher Intelligenz zunehmend Zusammenfassungen langer Texte an oder überführen sie in gesprochenes Wort. Die Website ihatereading.com wirbt etwa damit, das lästige Lesen in Studium und Arbeit bis zur Überflüssigkeit optimieren zu können und flutete dafür die sozialen Netzwerke mit KI-generierten Clips, in denen selbstbewusste Studierende gegen ihre Dozierenden und deren analogen Unsinn aufbegehren.
Von Erfolg für das Lesen kann angesichts dieser Entwicklungen nur sprechen, wer „das Lesen“ in größter Abstraktion begreift, also wie auf jedem anderen Markt von allen konkreten Qualitäten des Inhalts und der Form des Lesens absieht. Die Dark-Romantasy-Groschenromane mit dem Hang zu sexuellen Gewaltphantasien, die vor allem die Bücherverkaufszahlen zu verantworten haben dürften, stehen dann als Gleiche neben den unzähligen Aufklärungsbüchern zur Bedrohung von rechts oder dem neuen Faschismus, neben Selbsthilferatgebern und Bestsellern, Unterhaltung neben Wissenschaft und so weiter. Diese Äquivalenz ist die Bedingung dafür, dass das Lesen zu einer Ware werden kann, um die es auf dem Buchmarkt freilich geht. Zugleich führt diese Logik unweigerlich zur Frage, was denn aber dieses Lesen noch bedeutet, um das sich so vielfach gesorgt wird.
Lesen wie die KI
In Leipzig markierte die Buchmesse zugleich den Auftakt zum Themenjahr „Mehr als eine Geschichte. Buchstadt Leipzig“, das seitdem großflächig im öffentlichen Raum beworben wurde. Für die Kampagne entschied man sich zur Bebilderung für eine Reihe von Menschengesichtern, die während der Lektüre eines Buches herzhaft lachen, schmunzeln oder staunen. Die weichgezeichneten Menschenklischees, die hier das Lesen so „lieben“, wurden dafür mit KI-Bildgeneratoren erzeugt. Dass Bücher mit Emotionen und menschliche Emotionen mit KI-generierten Bildern beworben werden, ist ein kleiner Treppenwitz der Geschichte. Es steckt darin aber ein Hinweis auf einen inneren Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der KI und dem befürchteten Niedergang des Lesens.
Denn worum wird sich beim Lesen gesorgt? Um die Fantasie von Kindern? Um die Buchseite als gesunde Alternative zur Bildschirmzeit? Oder um das Kulturgut Bildungsroman, das ja seit mindestens einem Jahrhundert gegen Film, Comic und Fernsehen bedroht ist. Meist ist mit dem Lesen schlicht gemeint: Wissen, das ja bekanntlich Macht sein soll. Da das Geschriebene immer auch Medium ist und damit Vermittlung eines Inhalts, werden das Buch und das Lesen so zu Mitteln zum Zweck der Aneignung von Wissen. Lesen vermittelt demnach komplexe Zusammenhänge, die mehrere hundert Seiten umspannen können und entsprechend lange Aufmerksamkeit und Konzentration fordern. Natürlich wird auch zur Unterhaltung gelesen, wenn junge Menschen über mehrere Bücher hinweg die Geschichten von Harry Potter verfolgen oder unzählige Young-Adult-Romane “verschlingen”. Aber auch hierbei liegt die allgemeine Wertschätzung für das Lesen nicht in den konkreten Inhalten, die ja auch längst in Film und Streaming-Serie überführt wurden, sondern in der Fähigkeit, sich lesend Inhalte zu erschließen. Wenn öffentlich Sorge um das Lesen bekundet wird, so geht es im Großteil um diese Akkumulation der Intelligenz.
Diese Tendenz, das Lesen auf die bloße Funktion zu reduzieren, wird mit der Künstlichen Intelligenz verallgemeinert. Denn die KI in Form der Large Language Models lernt und weiß ausschließlich über ein rein formales, instrumentelles Lesen. Sie akkumuliert den Inhalt der Texte zu einem Gesamten, aus dem sie die größtmögliche Wahrscheinlichkeit als Wissen errechnen kann. Diese Vorstellung des Lesens hat sich auch unter den Menschen einigermaßen durchgesetzt. So gehört zur sozialmedial verstärkten Selbstoptimierungsideologie nicht nur die Akkumulation von Geld für finanzielle Unabhängigkeit oder von Proteinen für den Muskelaufbau, sondern auch die Anhäufung von Wissen für die Intelligenz. „Read a book!“ ist die kulturindustrielle Referenz, sich zu bilden und schlau zu sein. Die Milliardäre und Tech-Visionäre, aber selbst die Incel-Alphas aus der Manosphere müssen daher auch Bücher lesen. Elon Musk etwa lese mehr als 100 Bücher im Jahr, bewirbt der Dienstleister Blinkist sein dazu passendes Produkt, sich Bücher einfach portionier- und leicht verdaubar zusammenfassen zu lassen. Und Googles KI-Anwendung NotebookLM generiert aus jedem Buch mittlerweile einen mittelmäßigen Podcast. Der Chatbot macht es uns quasi vor: Wenn es beim Lesen um Wissenserwerb geht, brauchen wir dafür das Lesen gar nicht mehr.
In einem Essay für den New Yorker beschrieb der Wissenschaftshistoriker Graham Burnett seine zunehmende Faszination für die ungeheure Leistungsfähigkeit der KI, der gegenüber die tausenden Bücher in seinem Büro sich „wie archäologische Artefakte anzufühlen beginnen“. „Ich kann das ‚Buch‘, das ich haben möchte, in Echtzeit zusammenstellen“, begeistert sich Burnett. „Und das Erstaunliche daran ist: Die Herstellung von Büchern wie jenen in meinem Regal, die jeweils die Arbeit von Jahren oder Jahrzehnten sind, wird schnell zu einer Sache von gut durchdachten Prompts. Die Frage ist nicht mehr, ob wir solche Bücher schreiben können; sie können endlos geschrieben werden, für uns. Die Frage ist nur, ob wir sie lesen wollen.“ Die Antwort lautet natürlich Nein. Es wäre doch dumm, Jahre und Jahrzehnte für das Schreiben eines Buches brauchen zu wollen, obwohl dafür nun ein Prozess von wenigen effizienten Eingaben ausreicht. Und genauso blöd wäre derjenige, der noch so ein Buch liest. Diese so simple Rechnung geht jedoch nur auf, wenn das instrumentelle Lesen der einzige Maßstab für Klugheit ist.
Destruktive Affirmation
Das Verschwinden des Lesens ist daher bestechend konsequent. Denn wenn das Lesen nur ein Medium, eine Vermittlung, ist, so tendiert die instrumentelle Vernunft des Optimierungs-Größenwahn zur Unmittelbarkeit, zur immediacy, wie daher Anna Kornbluh die aktuelle Stufe spätkapitalistischer Ideologie passenderweise bezeichnete. An einen permanenten Fluss allverfügbarer Information docken wir einfach an, die Serie und der Podcast laufen im Stream, das Smartphone ist immer da, der Text verflüssigt sich, wird komprimiert oder auf Buchlänge ausgedehnt. Sinnbild dieser Leistung ist die KI. Dass ironischerweise deren äußerste instrumentelle Klugheit genaugenommen wenig mit Intelligenz zu tun hat, wurde den Chatbots immer wieder unter die Nase gerieben und sich darüber im Internet zuletzt viel lustig gemacht. Als die neueste Version von ChatGPT im August veröffentlicht wurde, versprach diese „Expertise auf Doktorandenniveau“. Daraufhin teilten viele User in den sozialen Netzwerken Screenshots davon, dass das Modell nicht einmal zählen konnte, wie viele Male der Buchstabe B im Wort Blaubeere vorkommt.
Entsprechend fehlt den Maschinen auch das zentrale Moment der Intelligenz, nämlich die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Die eigentliche Dummheit der Künstlichen Intelligenz zeigt sich deshalb daran, jede Form der Verunsicherung systematisch auszublenden. Das Phänomen der halluzinierenden Sprachmodelle, die sich Quellen oder Fakten einfach selbstbewusst falsch ausdenken, ist mittlerweile auf das Design der Maschine selbst zurückgeführt. Die KI-Modelle stellen Eindeutigkeit über Richtigkeit und antworten daher im Normalfall „zuversichtlich falsch“, wie es eine Untersuchung in der Zeitschrift Columbia Journalism Review zur Fehleranfälligkeit generativer KI-Modelle beschrieb. Eine Studie der Europäischen Rundfunkunion ergab, dass die gängigen Maschinen bis zu 40 Prozent ihrer Antworten erfinden und als Fakten ausgeben.
Vielleicht lässt sich der eigentliche Gehalt des Lesens daher in der Differenz zum Lernen der Maschine bestimmen, und zwar als Denken. Damit meint Lesen nicht nur, ein Buch in der Hand zu haben, den Inhalt zu erschließen und eine der zahlreichen Listen von „Diese Bücher müssen Sie gelesen haben“ abzuhaken. Sondern Lesen bedeutet dann die Fähigkeit der Selbstkritik. Durch den Nachvollzug anderer Gedanken können wir uns selbst reflektieren. Der Rückgang des Lesens ließe sich dann nicht nur als logische Konsequenz daraus verstehen, dass es immer effektivere Wege des instrumentellen Wissenserwerbs gibt. Sondern er würde auch auf einer Art Kritikabwehr beruhen. Freilich ist Lesen keine garantierte und erst recht nicht die einzige Quelle kritischen Denkens. Aber etwas von der Mühe der Selbstkritik steckt noch in jedem Moment der Unlust, die das Lesen für viele heute bedeutet. Es wird daher nicht nur aus Faulheit aufgegeben und durch technische Tricks überbrückt, sondern auch zugunsten der eindeutigen Sicherheit – vermutlich umso leichtfertiger, je mehr die gesellschaftliche Umwelt nur noch aus Krise und Unsicherheit besteht. Der Preis dieser Selbstsicherheit ist jedoch ironischerweise autoritäre Unterwürfigkeit, denn die unbedingte Affirmation braucht eine Autorität.
So jedenfalls lässt sich in etwa das Verhältnis vieler Menschen zu den Chatbots beschreiben, vor deren schierem Allwissen man ehrfürchtig wird und denen man entsprechend Glauben schenkt, vor allem wenn sie uns mit dem Spiegelbild unserer gesellschaftlich durchschnittlichen Persönlichkeiten bestärken. Dieses enorme Bedürfnis nach Affirmation steht in scheinbarem Widerspruch zu den sozialen Imperativen von Selbstoptimierung und „persönlichem Wachstum“ durch immer neue Superfoods, Fitnessroutinen und mentale Arbeit am richtigen Mindset. Aber ganz wie in unserer gesellschaftlichen Umwelt, steht die Beschwörung des Wachstums bestenfalls noch für Stagnation. Die individuelle Entwicklung und „Reise“ to grow as a person, wie sie in Coming of Age bis ins Reality TV unendlich wiederholt vorgelebt wird, ist eigentlich nur die Abhärtung gegen Krise und Selbstzweifel hin zu jener Eindeutigkeit, dass man „weiß, wer man ist“, und seinen „Wert“ kennt.
Die Maschinen haben diese Form der Affirmation gelernt und perfektioniert. Kein Wunder, dass sie sich direkt schon als Liebespartner anbieten, um so den ewigersehnten „zwischenmenschlichen“ Austausch zu haben – aber ohne die lästigen Konflikte, die über reibungsvolle Kommunikation gelöst werden müssten. An anderen Stellen ersetzen die Bots in Zeiten medizinischer Unterversorgung die Therapieplätze, auch wenn das Verfahren jeder Psychotherapie unvereinbar ist mit der bloßen Affirmation des Patienten. Dies kann nur so lange gut gehen, wie sich die seelischen Leiden auf ein Defizit von Anerkennung und Validierung beschränken, die durch das digitale Spiegelbild gelindert würden. Jüngst aber machten Nachrichten die Runde, dass die KI vulnerablen Jugendlichen als „Lösung“ ihrer Probleme den Selbstmord empfahl, sie dazu berat und immer wieder auch das Gespräch darauf lenkte. Ein Mann in den USA tötete nach Beratung von ChatGPT seine Mutter und sich selbst. Diese empathielos destruktive Dummheit der Maschine ist Spiegel einer Kultur, die sich der Selbstkritik entledigt hat und umso blinder auf die Autoritäten vertrauen muss, die sich ihr als Intelligenz ausgeben.
Dead Kulturindustrie
Damit das Lesen nicht nur zunehmend überflüssiges Medium des Wissenserwerbs und der Affirmation ist, müsste es Denken sein: die Konfrontation und Reflexion durch andere Gedanken. Dazu aber braucht es Gedanken, die anders sind – ein Anspruch, der mit der digitalen Verdichtung und Affirmation des Bestehenden kaum vereinbar ist. Die generelle Affirmation wiederum ist keinesfalls ein neues Kulturphänomen, das erst mit den digitalen Maschinen kam. Im Gegenteil, diese Maschinen sind mit den Inhalten einer Kulturindustrie trainiert und gefüttert worden, deren „unversöhnliche […] Elemente der Kultur, Kunst, und Zerstreuung durch ihre Unterstellung unter den Zweck auf eine einzige falsche Formel“ zu bringen sind, wie Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung jene Totalität der Kulturindustrie beschreiben. „Sie besteht in Wiederholung.“
Was wir größtenteils lesen und auch sonst als Kulturprodukte konsumieren, ist die Wiederholung ausdifferenzierter Klischees. Anziehung hat diese zermürbende Langeweile vor allem in einer Welt, die offensichtlich am Abgrund steht und uns keinen Millimeter Spielraum einräumt, daran etwas zu ändern. Darüber tröstet gewissermaßen ein auf der Stelle Treten, das sich gut anfühlt – positive vibes only: der gemütliche Abend auf Netflix mit irgendeiner Serie, die so ist wie die andere Serie, deren Stimmung einem so gut gefallen hat; die Playlist mit Musik, die sich so anhört wie diese eine Band, die man vor zehn Jahren noch bewusst gern gehört hat; der Mental-Health-Podcast, der selbst bei schweren psychischen Leiden noch das „Sei wie du bist“ empfiehlt; oder eben das Buch mit der Geschichte, die entweder von einem selbst handelt (Autofiktion, Midcult) oder von einer selbstvergessenen Fantasiewelt. Der Zusammenhang zwischen Eskapismus und Affirmation besteht darin, das Bestehende unangetastet weiter funktionieren zu lassen.
Das unbedingte Bedürfnis nach Affirmation zeigt sich auch in der Klage über eine vermeintliche male loneliness epidemic, der zufolge junge Männer zu destruktiven Incels oder sonstigen Faschisten würden, weil sie als Subjekte in der politischen und kulturindustriellen Repräsentation kaum auftauchten. Die Logik, dass man diese Männer bestärken müsse, indem sie sich selbst in Büchern lesen und in Propaganda wiederfinden, griff auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seiner neuen ARD-Doku Shut Up, Bitch! Kampf um die Männlichkeit auf. Die dichte und nahe Darstellung der Radikalisierung von misogynem Hass wird hier von der Sorge begleitet, irgendjemand müsse den Tätern ihre Unsicherheiten nehmen. In Theweleits Männerphantasien etwa können wir aber nachlesen, dass der Übergang der Affirmation in Verhärtung und Verpanzerung des Selbst zur Faschisierung dazugehört. Und passenderweise wurde das Format mit Szenen einsamer Männer in düsteren Blau-Rot-Kontrasten illustriert, als hätte es die Neue Rechte selbst für sich entworfen. Die Bilder sind aber, wie könnte es anders sein, einfach nur mit der KI generiert.
Hier deutet sich der Zusammenhang zwischen Affirmationsideologie und KI-Bildern an. Schließlich sind auch jene Bilder nur der errechnete Durchschnitt aller verfügbaren Inhalte. Der Medienwissenschaftler Roland Meyer warnt daher regelmäßig davor, dass es kaum einen emanzipatorischen Einsatz für die „Nostalgiemaschinen und Klischeeverstärker“ geben könne, die zur „Ästhetik des digitalen Faschismus“ tendierten. Während etwa in den USA die KI-Bilder von Donald Trump als Cäsar, Football-Spieler, muskelbepacktem Jedi-Ritter oder stilisiert an der Bordkanone eines Trucks voller stahlbehelmter ICE-Agenten längst von der Regierung zirkuliert werden – Trump ließ selbst sein offizielles Porträt an die KI-Ästhetik anpassen –, drängen auch hierzulande KI-Motive in den öffentlichen Raum. So wie die „Buchstadt Leipzig“ mit hochemotionalen Menschenklonen wirbt, pries zuletzt auch das Auswärtige Amt seine Arbeit im diplomatischen Dienst mit künstlich generierten Plakatmotiven an. Hier saß die junge Frau Dinah am Schreibtisch inmitten einer KI-Kulisse von New York, vor der auch sie betonen muss, dass bei ihrer Arbeit große Emotionen im Spiel sind: „Ich kann hier direkt was bewirken und das liebe ich.“
Für die Ästhetik und Eigenheit der KI-Bilder hat sich mittlerweile der Begriff Slop durchgesetzt. Von Slop, also in etwa jenen Essensresten, die man an Schweine verfüttert, spricht man daher aus zwei guten Gründen: Es ist zum einen Müll im abwertenden Sinne von Trash, weil die verwertbare Interaktion vor jede konkrete Qualität des Inhalts tritt und die beliebigen wie unsinnigen Motive die virtuellen Räume vollmüllen. Der einzige Sinn der KI-generierten Quatschbilder im Internet ergibt sich aus dem Verhältnis von Produktionsaufwand und Ertrag. Mit einem Klick erzeugt, liefern sie möglichst billig Content und Interaktion auf den sozialen Medien, was sich entsprechend monetarisieren lässt. Zum anderen sind es im wahrsten Sinne des Wortes die Abfälle der bisherigen Content-Creation im Internet. Die Bilder recyclen das Bestehende und synthetisieren daraus zugespitzte Klischees. Babys, die Kunstwerke basteln, das Hefezopfpferd, Tiermutationen wie der Shrimp-Jesus – all das sind Modifikationen omnipräsenter Tier- und Babyvideos oder Essenselfies.
Online entstand auch als Reaktion auf die Flut der Unsinnsbilder, die von Bots erstellt und nicht selten auch nur von Bots weiter geteilt werden, die Verschwörungstheorie vom Dead Internet. Dieser zufolge wurde die menschliche Interaktion im Internet bereits voll automatisiert und die Benutzenden an den Endgeräten seien zu digitalen Zombies ähnlich der Menschen im Film Matrix geworden, von der Maschine mit Illusionen versorgt, die darüber hinwegtäuschen sollen, dass so ihre Energie (also hier ihr Content und ihre Interaktion) geerntet wird. Die Wirklichkeit funktioniert jedoch ganz ohne Verschwörung, nämlich als Entfaltung jener instrumentellen Rationalität, die der Digitalisierung gewissermaßen Naturgrundlage ist. Im Slop und dem billigen KI-Kitsch kommt jene Verwertungslogik zu sich selbst, die wir in der analogen Welt noch annähernd als Widerspruch zwischen Warenform und Inhalt zu identifizieren glaubten. Daher ist auch das Buch eine solche Projektionsfläche analoger Kultur, ganz egal wie generisch seine Inhalte geworden sind, die sich schon längst jener Verwertungslogik eines Buchmarkts anpassen mussten, um überhaupt zur Existenz zu kommen. Die Kultur war schon dead, als sie Industrie wurde.
Vom Marketing zum Faschismus
Von hier aus ist es schwer, den Verlockungen des Kulturpessimismus zu widerstehen. War Mitte der 2000er das Internet noch ein besserer Ort mit authentischem Content und demokratischer Freiheit? War das Kino in den 90ern nicht wenigstens noch kapitalismuskritisch? War der Bildungsroman nicht so viel wertvoller als das Comicbuch? Was in solcher Nostalgie aus dem Blick gerät, ist nicht nur, dass diese Logik ebenso wie die von ihr verklärten Phänomene selbst bereits jener Tendenz angehören, die in der digitalisierten Kulturindustrie nur konsequenter entfaltet vorliegt. Die Niedergangserzählung vom Sterben der Kultur verklärt auch, welche Kräfte diese destruktive Entfaltung eigentlich antreiben.
Denn die instrumentelle Vernunft im Allgemeinen und ihre digitale Zuspitzung im Besonderen sind keine Entfremdung der Menschen, die von finsteren Machenschaften und Profitgier aufgezwungen werden. Sie haben reale Verheißungen. Wir müssen dazu nicht verführt und betrogen werden, es ist eine Zerstörung, die wir wollen. So wie der Traum des Graham Burnett vom unmittelbaren Allwissen in der Befreiung vom Lesen steckt, so verknüpft das Leipziger Stadtmarkting die Slop-Bilder mit dem Versprechen unmittelbarer Produktion. Dem Faschismus ist all das nicht fremd, weil er diesen Wunsch nach Unmittelbarkeit als Hass auf die Vermittlung mobilisieren kann, auf die korrupte Elite mit ihrer Herrschaft der Gesetze, Märkte und des Geldes. Die Ohnmacht gegenüber den abstrakten und universell vermittelten Herrschaftsbeziehungen will er mit einer gewaltsamen Ordnung des Unmittelbar-Konkreten ausmerzen.
Selbst der nachvollziehbarste Wunsch nach Erleichterung und Verbesserung geht in Ideologie über, wenn er seine gesellschaftliche Grundlage nicht kennt. Höchstwahrscheinlich ächzt der KI-begeisterte Geisteswissenschaftler seit 30 Jahren unter dem enormen Performancedruck der Universitäten, unter dem er nicht nur generische Journal-Artikel und Sammelbandbeiträge zur Erhaltung seiner Karriere verfassen muss, sondern die abertausenden Texte seiner academic peers auch noch lesen muss. Das Stadtmarketing wirbt mit billigstem KI-Kitsch für die eigene Metropole aus der Notwendigkeit des Austeritätsüberlebenskampfs der hochverschuldeten Kommunen heraus. Die Lösungen, die eine Künstliche Intelligenz hier zu versprechen vermag, sind mit dem Elend verbunden, aus denen die Probleme erst hervorgingen. Und dieses bleibt so weiter bestehen.
Das ist schon der ganze Trick der Ideologie, jenem Schleier der vermeintlich über der Wirklichkeit liegt. Aber an diese Wirklichkeit lässt sich nicht unvermittelt herankommen – kein Befreiungsschlag, kein Erleuchtungsmoment und keine rote Pille. Die einzige Chance, der destruktiven Dynamik nicht selbst zu erliegen, die bis in unser intimstes Denken reicht, liegt in der kritischen Reflexion der Vermittlung. Es steht daher schon eine Menge auf dem Spiel. Welche Formen der Selbstreflexion es nach der digitalen Revolution geben kann, wäre eine wichtige Frage, die sich nicht mit einem Fetisch für das Buch und seine bürgerliche Bildungsromantik überspringen lässt. Nazis waren damals auch jene Bildungsbürger, die noch viel mehr gelesen als Radio gehört haben. Aber es gab damals auch die Bemühungen, zu begreifen, wie all das miteinander wirklich zusammenhängt, die bis heute – noch! – als Bücher zugänglich sind.
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