Der König ist tot, es lebe der König? – Toxische Maskulinität in der Kultur Frankreichs

von Barbara Peveling und Cécile Calla

 

Toxische Männlichkeit ist ein globales Phänomen. Doch die Zeiten ändern sich glücklicherweise. In Frankreich aber – so scheint es – hat dieses gesellschaftliche Konzept bisher noch viele Anhänger. Die Abwehr gegen die sich ändernden Zeiten wird im Augenblick mit einem gewaltigen sozialen Feuerwerk abgefackelt.

Gabriel Matzneff, Olivier Duhamel und Richard Berry sind oder waren jahrzehntelang Männer mit wichtigen Positionen, kulturellem Kapital und Charisma in der französischen Gesellschaft. Es handelt sich bei ihnen um erfolgreiche und einflussreiche Männer, die aus einem freigeistigen und progressiven Milieu kommen. Sie alle werden derzeit mit gravierenden Vorwürfen sexueller Gewalt wie Pädophilie, Inzest oder Missbrauch konfrontiert. Diese Vorwürfe stehen in direkter Verbindung zu dem Dogma ihres Milieus, „il est interdit d’interdire“ („es ist verboten zu verbieten“). Es hat seine Wurzeln in der Bewegung von 1968, lässt sich in seinen Ursprüngen aber bereits auf die Philosophie des Libertinage aus dem 17. Jahrhundert zurückführen. Diese Lebensweise, die sich ursprünglich als Befreiung von religiösen Zwängen verstand und in diesem Sinn als Philosophie betrachtet wurde, erreichte ihren Höhepunkt im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Sie wurde in der Literatur durch die „récits libertins“ übertragen. Autoren wie Choderlos de Laclos oder der anrüchige Marquis de Sade sind einige der bekanntesten Vertreter. In ihren Romanen finden sich etliche Szenen von sexualisierter Gewalt, Vergewaltigung, Pädophilie bis hin zu Folter und Mord. Die sexuelle Begierde strukturiert den Alltag, dies meist zum Vorteil des männlichen Geschlechts. Ein Verhalten, das kaum mehr mit Philosophie oder Freiheit verwechselt werden kann. Auch im deutschen Bewusstsein wird die französische Kultur, aus dem Land der Liebe kommend, oft als besonders erotisch stereotypisiert. Doch die Grenzen zwischen Übergriff und erotischer Freizügigkeit sind fließend und aus diesem Grund auch gefährlich.

Albert Camus beschrieb dies sehr richtig in Der Mensch in der Revolte: „In Sades Republik gibt es keine prinzipielle Freiheit, sondern Libertinage […]. Die uneingeschränkte Freiheit des Begehrens, bedeutet die Negation des Anderen und die Auslöschung des Mitleids.“

Bei de Sade gibt es keine Gemeinsamkeit oder Komplizenschaft im Genuss, sondern eine Auslöschungsmaschinerie, eine Negation des Gegenübers. Für den Marquis ist die Natur der einzige Motor der Welt, alles was daraus entsteht, wie Sex, Egoismus, Gewalt, kann durch sie jenseits der Kategorien von Gut und Böse legitimiert werden. Über Generationen wurden seine Texte in Frankreich wie heilige Schriften gelesen. Das wiederentdeckte Manuskript von Die 120 Tage von Sodom, das der Marquis de Sade in La Bastille verfasste und in dem alle vorstellbaren moralischen Grenzen überschritten werden, wurde 2017 von der ehemaligen Kulturministerin Françoise Nyssen zum nationalen Kulturerbe ernannt. Um es vor einem Verkauf ins Ausland zu bewahren, soll es nun vom französischen Staat erworben werden.

Dieses Erbe prägte auch die Jugend der beiden Autorinnen dieses Beitrags. Auf beiden Rheinseiten, in Deutschland und Frankreich, herrschte ein prüder Katholizismus. Cécile glaubte, sie müsse als Jungfrau in die Ehe gehen. Barbara war überzeugt, es sei eine Sünde, sich selbst zu befriedigen. Gleichzeitig existierte eine Atmosphäre der Transgression, der sexuellen Übergriffigkeit, hier wie da, die die Autorinnen vor allem in der Konfrontation mit dem männlichen Geschlecht erlebten. Das fing schon in der Pubertät an: Onkels, die einfach in den Po kniffen, Nachbarn, die plötzlich auf den Hals küssten, der Fotograf, der einem beim Jobben als Model zu weit zwischen die Beine griff. Nicht zuletzt der Student, der Barbara vorschlug, weil sie alleinerziehend war, könnte er sie mal gratis ficken. Cécile schaute mit ihren Eltern im Wohnzimmer den Film Herzflimmern von Louis Malle, der mit einem Inzest zwischen Mutter und Sohn endet, ihre Eltern, weder Hippies noch Linke, sondern bürgerlich und konservativ, fanden das nicht skandalös, im Gegenteil, sie waren eher amüsiert.

Diese erotisierte und übergriffige Welt schien damals in Europa, es waren die 1990er Jahre und die ersten des 21. Jahrhunderts, normal und in Ordnung. In Deutschland wie in Frankreich wurden Formen männlicher sexueller Gewalt legitimiert, die, auch wenn sie in beiden Ländern in unterschiedlicher Weise auftreten, doch miteinander in Verbindung stehen und deren nähere Betrachtung sich lohnt. Während aber in Barbaras deutscher Jugend die französische Tradition der Libertinage, zwar ein begehrtes, aber doch fernes Idol ihrer Elterngeneration war, und sich bemüht wurde, entsprechende Praktiken toxischer Männlichkeit sozial zu verschlüsseln, so herrschte in Céciles Alltag die für Frankreich bekannte sexuelle Offenheit, die heute zweifellos als Übergriff gedeutet würde. Ein Chefredakteur knallte sie gegen eine Wand, ein Interviewpartner versuchte sie ohne Vorwarnung oder Einverständnis zu küssen, journalistische Gespräche führten oft zu einer Einladung zum Abendessen oder zu sexuell konnotierten Botschaften auf dem Handy. Nein zu sagen, so hatte sie früh verinnerlicht, führte eher zu weiterer Erregung des Gegenübers und spielte eigentlich keine Rolle. Sobald die Einladung angenommen war, saß die Beute in der Falle. Der Alltag wurde zu einem Slalom zwischen sexualisierten Übergriffen, die abgewendet werden mussten, ohne Wellen zu schlagen.

Das französische Elitesystem und die Idee des l’entre-soi („unter sich bleiben“) boten dieser Weltordnung den perfekten Rahmen und Schutz. Es war eine kleine Welt, man kannte sich, weil man demselben Milieu entstammte. In der Eliteschule Sciences Po, in der Cécile studierte, wussten alle um die sexuellen Präferenzen und Belästigungen des schillernden, inzwischen verstorbenen, Präsidenten Richard Descoings, der von den Student*innen liebevoll «Richie» genannt wurde. Obwohl dies bekannt war, wurde er in seinem Amt von allen Regierungen jedes Mal aufs neue bestätigt. Die Gesetze der Französischen Republik, die sonst für jeden Sterblichen gelten, scheinen bis heute, an den weißen Tischen, zwischen den hellen Wänden, in den erleuchteten Räumen der vermeintlich aufgeklärten, kultivierten und feinen Gesellschaft von Saint-Germain-des-Prés obsolet zu sein.

Es ist ein zutiefst französischer Widerspruch: Zwar wird Egalität zelebriert, gleichzeitig verhält sich ein Teil der Eliten so, als ob sie über den Gesetzen stünden. Es ist ein aristokratisches Denken, aller Brüderlichkeit zum Trotz. Deswegen konnte auch Dominique Strauss-Kahn lange sein Unwesen in Frankreich treiben, ohne dass irgendjemand ernsthaft dagegen vorgegangen wäre. Sein übergriffiges Verhalten wurde erst in Frage gestellt, als er Frankreichs Grenzen verlies. Sonst wäre aus ihm vielleicht sogar der nächste Staatspräsident Frankreichs geworden.

Die Köpfe, die heute rollen, waren die Helden von gestern. Genauso wie Strauss-Kahn konnte der Autor Gabriel Matzneff lange seine sexuellen Vorlieben ausleben – mit Mädchen unter 16 Jahren in Frankreich und Jungen zwischen 11 und 12 Jahren in den Philippinen – ohne die Pariser Gesellschaft ernsthaft zu schockieren. Sein Buch Les moins de seize ans (Die unter Sechzehnjährigen) erschien 2005 und liest sich heute wie eine Apologie der Pädophilie. Zudem war Gabriel Matzneff 1977 Initiator des heute sogenannten “Pädophilie-Manifests”, das von relevanten Persönlichkeiten des kulturellen und literarischen Feldes, wie Jean-Paul Sartre, Roland Barthes, Simone de Beauvoir, Alain Robbe-Grillet und Jacques Derrida unterschrieben wurde.

Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Auch in Frankreich erwartet man heute, dass die Mächtigen sich an die Gesetze halten. Das offensive Machotum, das im Land von Michel Houellebecq und Victor Hugo, im Vergleich zu Deutschland noch recht verbreitet ist, hat inzwischen an gesellschaftlicher Attraktivität verloren.

Dies zeigte auch die Resonanz der Metoo-Bewegung in Frankreich, die sich wie ein Brand im Herbst 2017 durch viele gesellschaftliche Bereiche zog. #MeToo wurde derart politisiert, dass Präsident Emmanuel Macron Gleichberechtigung zur Priorität seiner Amtszeit erklärte. Die Zeit ist jetzt reif für eine andere Wahrnehmung, manche würden sagen für eine andere Wahrheit.

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, hat Ingeborg Bachmann geschrieben, ihr letztes Buch, Malina ist durchzogen von struktureller männlicher Gewalt, an der das weibliche Ich zerbricht und an der auch die Autorin schließlich zerbrach. Lange haben Frauen in beiden Ländern zu dieser Form der Gewalt geschwiegen. Zu lange. Heute sind sie bereit zu sprechen, weil die Gesellschaft nun endlich offen ist, sie auch zu hören.

Vanessa Springora, Camille Kouchner, Andréa Bescond haben ihre Erlebnisse öffentlich ausgesprochen, sie aufgeschrieben oder in Szene gesetzt. Der Film Les chatouilles (Kitzelspiele) von Andréa Bescond kam 2018 in die Kinos. Er erzählt vom Missbrauch eines 8-jährigen Mädchens durch einen Freund ihrer Eltern. Im selben Jahr, am 3. Juli 2018, wurde #NousToutes gegründet. Das feministische Kollektiv engagiert sich mit Aktionen wie Petitionen und öffentlichen Demonstrationen, bei denen auf die Gewalt gegen Frauen aufmerksam gemacht wird, gegen sexuelle, verbale, physische, ökonomische und soziale Gewalt an Frauen. Der autobiografische Roman Le consentement (Die Einwilligung) von Vanessa Spingora, in dem sie erzählt, wie sie als 14-jährige von dem Autor Gabriel Matzneff missbraucht wurde, erschien 2020. Der Roman La Familia grande von Camille Kouchner, der davon handelt, wie ihr Zwillingsbruder von ihrem Stiefvater als Heranwachsender missbraucht wurde, ist im Januar 2021 erschienen. Dieser Stiefvater ist niemand anderes als der bereits erwähnte Olivier Duhamel, Professor an der Eliteschule Science Po, Schriftsteller und Politiker – ein einflussreicher Mann. Der Präsident von Sciences Po, Frédéric Mion, der bereits seit langem von Olivier Duhamels inzestuösem Missbrauch wusste, musste seinen Platz am 9. Februar 2021 räumen.

In Frankreich ist in den letzten Jahren eine Lawine der Wahrheiten losgetreten worden, die die Gesellschaft zu überrollen droht. Wie bereits bei #MeToo, versucht die französische Regierung verständnisvoll zu antworten. Anfang Februar kündigte sie an, ein Gesetz zu verabschieden, in dem sexuelle Penetration zwischen Minderjährigen unter 15 Jahren und Erwachsenen grundsätzlich als erzwungen (absence de consentement) betrachtet wird.

In Deutschland sind verletzte, weibliche Körper selten Gegenstand politischer Diskussionen an höchster Stelle. Einen einzigen Kommentar über #MeToo ließ die Bundeskanzlerin im Dezember 2017 von ihrem Sprecher auf Twitter veröffentlichen. Bei der Debatte um die Reform des Sexualstrafrechts “nein heißt nein” im Jahr 2016, hat sich die Bundeskanzlerin nie öffentlich eingeschaltet. Und über Femizid wird erst seit wenigen Jahren öffentlich gesprochen. Die französische Freizügigkeit galt in Deutschland zwar eher als fernes Ideal und war niemals Teil des Alltagslebens, sexualisierte Gewalt existierte und existiert versteckter, doch auch hier wurden noch längst nicht alle Wahrheiten ausgesprochen.

In einer früheren Version des Textes wurde auch Michel Foucault als einer der Unterzeichner des Manifestes von Gabriel Matzneff genannt. Tatsächlich hat er dieses Manifest nicht unterzeichnet, jedoch ein anderes zu dem Thema, das am 23. Mai 1977 als „lettre ouvert“ in der Zeitschrift Le Monde erschien. Mehr dazu hier.
(08. April 2021)

Cécile Calla und Barbara Peveling starten ab Juni 2021 den deutsch-französischen Literaturpodcast „Medusa spricht / Méduse parle“, indem grenzüberschreitende Mythen rund um den Körper aus feministischer Perspektive dekonstruiert werden. Der Podcast wird von dem deutsch-französischen Bürgerfond gefördert.

 

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