von Sabina Zollner
In dem Science-Fiction-Roman “Die Gabe” dreht die Autorin bestehende Geschlechterverhältnisse um. Ist das eine originelle Science Fiction Geschichte oder dreht sich das feministische Science Fiction-Genre seit Margaret Atwoods „Report der Magd“ im Kreis?
“Man hat euch gesagt, dass die Männer über die Frauen herrschen wie Jesus über die Kirche. Doch ich sage euch, dass die Frau über den Mann herrscht wie Maria über ihren kleinen Sohn, nämlich mit Liebe und Zuneigung”, hört man Mother Eve sagen. Eve ist eigentlich Allie, ein Adoptivkind, auf der Flucht vor ihrem Stiefvater und Anführerin eines neuen matriarchalen Imperiums, das versucht das Patriarchat zu zerstören. In einer ehemaligen christlichen Gemeinde in einer Kleinstadt in Amerika versucht sie ihre Gemeinschaft aufzubauen. Sie ist eine Jesus-ähnliche Figur, heilt Frauen mit ihrer magischen Kraft von körperlichen Leiden und hat eine innere Stimme, die ihr den Weg der Revolution weist.
Der Science-Fiction-Roman “Die Gabe”, 2016 von der Londoner Autorin Naomi Alderman veröffentlicht, ist ein satirisches Gedankenexperiment, in dem Frauen weltweit die Macht an sich reißen. Der Grund für die Machtergreifung: junge, weibliche Teenager entwickeln einen Strang an ihrem Rücken, mit dem sie elektrische Schocks verleihen können. Eine kurze Berührung kann ein kleines Kribbeln, oder aber den Tod bedeuten. Die neue Gabe können sie auch an ältere Frauen weitergeben. So kommt es zu Aufständen von Frauen in Delhi und Riad, im Kaukasus führt die Revolution zu einem Bürgerkrieg. Eine Gruppe von Männerrechtlern versucht dort gegen ein diktatorisches Frauen-Regime zu kämpfen.
Es überrascht nicht, dass Margaret Atwood Alderman als Mentorin bei ihrem Roman zur Seite stand. Denn “Die Gabe” wirkt fast wie das umgekehrte Szenario in “Der Report der Magd”. In dem Roman von Margaret Atwood, der 1985 erschien, gründet sich in den USA ein reaktionäres, misogynes Regime aus christlichen Fanatikern, in dem Frauen keinerlei Rechte mehr haben und lediglich als Gebärmaschinen und Haushälterinnen dienen. In “Die Gabe” wird dieses Szenario umgedreht: Hier sind es die Frauen, die die Macht ergreifen. Ein kleiner, feiner Unterschied, ist, dass es in Atwoods “Report der Magd” keine fantastischen Elemente, wie etwa den elektronischen Strang, gibt. Die beiden Science Fiction Romane sind sich also sehr ähnlich. Doch was sagen Erzählungen wie diese über unsere Gegenwart aus? Ein Erklärungsversuch.
“Die Gabe” liest sich wie ein Gedankenexperiment. Dieses ist relativ simpel und geht der Frage nach, was wäre, wenn Frauen das stärkere Geschlecht wären? Würde die Welt zu einer besseren werden? So passt das Buch in eine Genrevorstellung von Science Fiction, die eine Art Simulation von Gesellschaft darstellt, wie sie der Soziologe Jan Fuhre beschreibt. Diese Art der Erzählung geschieht zwar in der Zukunft, lässt einen aber trotzdem über die Gegenwart nachdenken. Denn die Antwort auf die Frage, ob Frauen die besseren Menschen sind, ist auch für die Gegenwart relevant. So gibt es beispielsweise eine Strömung innerhalb der Internationalen Beziehungen, welche die gesamte Weltpolitik aus einer feministischen Perspektive in Frage stellt: Gäbe es Kriege, wenn Frauen an der Macht wären? Wären sie friedlichere Machthaberinnen? Sind nicht alle fatalen Entscheidungen der Geschichte von Männern (ausgenommen Margaret Thatcher) getroffen worden? Im Buch von Naomi Alderman ist die Antwort auf diese Fragen ernüchternd. Frauen sind genauso machtgeil, brutal und gewalttätig wie Männer. So müssen bereits nach fünf Tagen der Ausbreitung der Gabe, Mädchen und Jungen in Schulen getrennt werden. Denn die Mädchen fangen an Jungs auf dem Schulhof mit ihrer neuen Gabe anzugreifen.
Science Fiction spielt zwar immer gedanklich in einer räumlichen und zeitlichen Distanz, indem sie von einer fernen Parallelwelt, einem anderen Universum oder einer Welt, die uns als unvorstellbar gilt, erzählen. Doch der Rezeptionsraum von Science Fiction ist immer in der Gegenwart, je nach Kontext liefern SF-Erzählungen somit Erkenntnis durch Extrapolation, wie Dietmar Dath beschreibt. Extrapolation ist ein gedanklicher Vorgang, mit dem durch die Vorstellung einer Zukunft und einer alternativen Realität, Erkenntnisse für die Gegenwart gewonnen werden können. Denn die Geschichte entsteht in einem spezifischen soziokulturellen Kontext und kann deshalb auch wieder in einem anderen Kontext wiederbelebt werden.
Das erklärt auch, warum “Der Report der Magd” in den vergangenen Jahren ein Art Revival erlebt hat. Und seit 2017 von dem amerikanischen Streaming-Anbieter Hulu als Serie mit inzwischen vier Staffeln produziert wird. Denn durch die Wahl Trumps entstand ein neues, misogynes Klima in dem die Dystopie Gileads gedanklich nicht mehr allzu weit entfernt lag. Und nicht nur in Amerika, auch in anderen Teilen der Welt herrschen Zustände für Frauen, die von Atwood Horrorszenario gar nicht allzu weit entfernt liegen.
Man könnte “Die Gabe”, das 2016 und somit knapp 35 Jahre nach Atwood Report der Magd, zum ersten Mal erschienen ist, als natürliche Fortsetzung des Genres bezeichnen. Während “Der Report der Magd” mit dem Gedanken spielt, was wäre, wenn alle Rechte der Frauen wieder verloren gehen würden, geht es bei Alderman eher darum, was es bedeuten würde, wenn Frauen an der Macht sind. Daraus könnte man für unsere Gegenwart deuten, dass wir, zumindest in Europa, einen gewissen, gesellschaftlichen Fortschritt erreicht haben, Frauen haben grundlegende Rechte, nun setzen wir unser eher mit identitätspolitischen Fragestellungen des Geschlechts auseinander, also etwa der Frage, inwieweit Geschlechterkategorien wie “männlich” und “weiblich” lediglich sozial konstruiert sind und nicht unbedingt die gesellschaftliche Realität widerspiegeln.
Somit ist “Die Gabe” ein natürliches Produkt seiner Zeit, weil es sich mehr mit der Frage nach der sozialen Konstruktion “Frau” auseinandersetzt als mit deren konkreten Rechten. Denn in “Die Gabe” entsteht eben keine feministische Utopie. Frauen machen die Welt nicht zu einer besseren, sondern sie lassen sich genauso von Macht korrumpieren wie Männer.
Alderman beleuchtet das Thema zwar aus einem anderen Blickwinkel, es ist aber noch immer keine wirklich neue Auseinandersetzung. Denn die Autorin denkt noch immer in den binären Geschlechterkategorien “männlich” und “weiblich”. Zwar dreht sie die Machtstrukturen um, in dem Frauen plötzlich das körperlich “überlegene” Geschlecht sind, doch sie denkt eben noch immer in dieser binären Ordnung. Und auch die Moral der Geschichte, dass Frauen nicht die besseren Menschen sind, ist keine besonders originelle. Gibt es da nicht spannendere Fragen, die feministische Science Fiction beantworten könnte. Soll Science Fiction nicht Welten fernab unserer Vorstellungen zu erschaffen? Kann die von Dath beschriebene Extrapolation nicht nur so funktionieren?
Atwoods und Aldermans Erzählungen sind beide dystopisch, es sind Welten, in denen man nicht leben will. Sie blicken beide pessimistisch in die Zukunft. Doch wäre eine utopische, feministische Science Fiction Geschichte nicht origineller? Würde das nicht mehr zu einem Erkenntnisgewinn beitragen? Vielleicht ist “Die Gabe” damit ein weiteres Symptom der vorherrschenden Retro-Sucht, die der mittlerweile verstorbene Kulturwissenschaftler Mark Fisher etabliert hat. Dieser behauptet, dass wir in einer Zeit der Zukunftslosigkeit leben, in der wir uns keine alternative Realität vorstellen können. Für ihn können wir uns eher ein Ende der Welt vorstellen, als ein Ende des Kapitalismus. Doch der materielle Druck Geld zu verdienen und über die Runden zu kommen, verhindert Kreativität. Folglich ist auch die Science Fiction bei einer Ideenlosigkeit angekommen, der niemand entkommen kann. In “Die Gabe” entsteht am Ende ein totalitärer Frauenstaat, in dem Genozide an Männern verübt werden. Diese apokalyptische Vorausschau reflektiert vielleicht jene Zukunftslosigkeit der Kulturproduktion. Die These würde auch die Kritik an Naomi Aldermans Buch unterstreichen. Vielleicht leidet auch sie an Retrosucht und orientierte sich deshalb mit der Handlung so stark an Atwoods Roman und schuf so lediglich eine Kopie einer bereits vorhandenen, erzählerischen Wirklichkeit.
Aber auch das Revival der Erzählung von Margaret Atwood als Hulu-Serie lässt sich mit Mark Fishers These der Retrosucht in Verbindung bringen. Denn die dystopischen Szenarien, die Atwood in ihrem Buch beschreibt, sind noch immer relevant. Eine Naturkatastrophe kann auch uns bevorstehen und wer weiß, wer, wenn die Welt aus den Fugen gerät, die Macht ergreift. Man kann sich also fragen: Ist es Margaret Atwoods Buch, das so zeitlos ist, dass es noch 35 Jahre später begeistert. Oder ist der Rest der Kulturproduktion so ideen- und zukunftslos, dass sie keine Alternative bietet?
Beitragsbild von Sebastian Kanczok