von Simon Sahner
Ein braungebrannter Mann, der in einem äußerst knappen orangenen Slip Geld in Plastiktüten vor einer Glastür ablegt, Polizisten in den bieder wirkenden beige-grünen Uniformen der 1980er Jahre, unschlüssig die Hände in die Hüften gestützt, ein engagierter Fotograf im eierschalenfarbenen Sommerjackett im Gespräch mit einem Geiselnehmer, Reporter*innen, die ein Auto umringen, ein ungepflegt wirkender Mann, der mit einer Pistole vor den Kameras gestikuliert, Männer, mit Frisuren zwischen lang und kurz, die Laternenmaste erklimmen, um besser sehen zu können, die Tristesse mittelgroßer und großer westdeutscher Innenstädte, die dröge Weite von erhitzten Autobahnen und dazwischen ein brutales Verbrechen.
Geblieben sind von diesem Verbrechen vor allem Bilder, Bilder, die jetzt in einer Netflix-Dokumentation zu sehen sind und zeigen, was im Sommer 1988 im (Nord-)Westen der BRD geschah. Die beiden Bankräuber Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski hatten damals zunächst in Gladbeck zwei Bankangestellte als Geiseln genommen und später unterstützt durch Rösners Freundin Marion Löblich noch einen Linienbus mit Passagieren in Bremen entführt. Zweieinhalb Tage lang fuhren sie von Presse und Polizei verfolgt durch Westdeutschland – von Gladbeck über Bremen, kurz in die Niederlande, bis nach Köln. Während sich die Polizei auffällig oft im Hintergrund hielt, saß die Presse nicht nur metaphorisch mit im Fluchtwagen. Am Ende, als die Polizei die Flucht schließlich mit Gewalt stoppte, hatten die Täter*innen zwei Geiseln erschossen, ein Polizist war bei der Verfolgungsjagd ums Leben gekommen.
Die Netflix-Dokumentation Gladbeck: Das Geiseldrama zeigt die Ereignisse dieser 54 Stunden allein durch zusammengeschnittene Archivaufnahmen und Fotografien, die damals von der Presse gemacht wurden – kein Kommentar, keine nachgestellte Szene, kein*e Zeitzeug*in begleitet die Bilder. An manchen Stellen droht man für einen Moment zu vergessen, dass es sich um eine Darstellung von Ereignissen handelt, die tatsächlich stattgefunden und Menschenleben gefordert haben – so historisch der Gegenwart enthoben und surreal in seinem Ablauf wirkt das, was dort gezeigt wird. Dieser Eindruck mag vor allem für die Zuschauer*in gelten, die dieses Verbrechen erst in der Rückschau von mehreren Jahrzehnten betrachten kann, für die das Jahr 1988 entweder kurz vor der eigenen Geburt oder noch mitten in der Kindheit liegt. Man fragt sich unwillkürlich: Was ist hier geschehen, und warum sieht das so aus?
Zweifelhafte Hauptfiguren
Nicht zuletzt die Ästhetik der Zeit, die sich durch diese Bilder zieht, lässt das Gezeigte seltsam entrückt wirken. Zwar sind die Archivaufnahmen in ihrer altersbedingten Imperfektion, der teilweise wackeligen Unschärfe und den nicht selten schwer verständlichen Gesprächen ein unübersehbarer Hinweis auf ihre Authentizität, aber der vollständig fehlende Kommentar und die Abwesenheit von Zeitzeug*innengesprächen entheben den Film dem gewohnten Stil einer Dokumentation. Sie entheben ihn dadurch aber auch einer Einordnung im Kontext einer Gegenwart, die eine sichtbare Distanz schafft, von der aus die authentische Historizität der Bilder deutlicher werden könnte.
Durch diese ästhetische und erzählerische Entscheidung legt der Film von Volker Heise den Fokus weniger auf den Ablauf der Ereignisse und ihre Aufarbeitung – beides ist bereits mehrfach in Gänze dargestellt und gezeigt worden – als vielmehr auf die Vermittlung einer Stimmung und auf das Verhalten der Beteiligten. Im Zentrum steht dabei die Presse in Form unzähliger Reporter*innen (zu sehen sind jedoch beinahe ausschließlich Männer) als dritter Akteur zwischen den Geiselnehmer*innen und der Polizei.
In den Blickpunkt rücken dadurch vor allem Männer mit Kameras, Notizblöcken, Fotoapparaten und Mikrofonen: Sie sind die Protagonisten dieses Films, nicht die Geiselnehmer*innen, nicht die Opfer, nicht die meist abwesende Polizei. Es mag auch an der Auswahl und der Zusammenstellung des Materials liegen, aber das über eine Dokumentation sagen zu können, die allein aus den Bildern besteht, die deren Protagonisten selbst erzeugt haben, spricht für sich. Die Aufnahmen, die mehr über die Presseleute vor und hinter der Kamera aussagen als über die Täter*innen, weisen darauf hin, wie schal der heilige Ernst der journalistischen Pflichterfüllung ist, der im Habitus der Reporter*innen und Fotograf*innen mitschwingt. Ihre Aufgabe ist per se die Berichterstattung, ihr Verhalten macht sie vor allem selbst zu Hauptfiguren.
Da ist Peter Meyer, damals Fotograf der Agentur AP, der aus nächster Nähe Hans-Jürgen Rösner fotografiert, ihn posieren lässt, sich angeregt mit ihm unterhält und dann aufgeregt berichtet, was Rösner fordert, dabei immer wieder grinsen muss. Da ist ein Mann mit dunklen Haaren und Schnurrbart im weißen T-Shirt, der Rösner höflich Feuer gibt – “Mach mal die Hand davor”, bittet Rösner, er tut wie geheißen – und sich kurz darauf selbst von dem Geiselnehmer die Zigarette anzünden lässt. Da sind all die Kameramänner und Reporter*innen, die Rösner umringen, ihn sich nicht nur inszenieren lassen, ihn den „Geiselgangster“ nennen, sondern ihn selbst stellenweise dirigieren und ihn vor allem reden lassen.
Der Sog des Ereignisses
Sie lachen und schmunzeln über seine Sprüche, während er mit der Pistole gestikuliert und Sätze sagt, die klingen wie aus Filmen und Romanen gelernt: „Wir ham abgeschlossen mim Leben“, „Lieber tot als wie gar kein Geld“, “Ich bin von Haus aus n Verbrecher, innerlich, für mich gibts kein Arbeiten.” In den Gesichtern der Reporter*innen offenbart sich eine Begeisterung für das in diesem Moment entstehende Material, die beim Betrachten der Bilder kaum zu ertragen ist. Die Nähe der Objektive und Mikrofone zum Körper Rösners, zu seiner Waffe, die spürbare Angst den entscheidenden Moment, das ideale Bild zu verpassen, all das lässt beinahe vergessen, dass in dem Bus, den man in diesen Szenen immer wieder verschwommen im Hintergrund sieht, Geiseln um ihr Leben bangen.
Auch eine journalistische Begeisterung für das Ereignishafte des Geschehens bricht sich hier bahn. Was die Aufnahmen zeigen, ist im Fluss, die Situation ebenso wie die Täter*innen unberechenbar, die Reporter*innen mittendrin statt nur dabei oder wie es die Moderatorin der Regionalsendung buten und binnen Carola Krause ausdrückt: “Das aufsehenerregende Geiseldrama von Gladbeck ist keineswegs zu Ende, besonders nicht für uns, im Gegenteil, denn heute kamen die Gangster nach Bremen.” Der Ton und die Aussage lassen die Täter*innen fast wie eine Attraktion erscheinen, die nun auch die eigene Stadt erreicht hat. Nun ist man selbst an der Reihe, das Geiseldrama ist “besonders nicht für uns”, für die Presse vor Ort, zu Ende.
Die Absurdität der Interviews, die dann in Bremen mit Rösner geführt werden, lässt dabei teilweise in den Hintergrund treten, dass dieser nicht nur bewaffnet ist und sich kurzzeitig eine geladene Waffe in den Mund steckt, sondern auch erklärt, im entführten Bus befänden sich weitere schwere Waffen unbestimmter Art. Als der Satz eines Reporters fällt „Wir sind alle hier so drum rum, und Sie machen so, und der Hahn ist gespannt“, erwartet man beinahe, dass die Gefahr der Lage endlich für alle ins Bewusstsein rückt, dass man sich langsam zurückzieht, dass Reflektion einsetzt – das Gegenteil scheint der Fall zu sein, Lachen begleitet die Feststellung. Die Menge der Journalisten folgt Rösner, Fotografen steigen gar mit in den Bus, fotografieren dort nun auch die anderen Geiselnehmer*innen und die Geiseln. Sie schauen von außen in das Innere das Fahrzeug wie in eine Attraktion. Die Faszination dafür, Teil eines Ereignisses zu sein, wird hier unübersehbar. Die Reporter*innen und Fotografen sind in diesen Momenten nicht Beobachter*innen, sondern Akteure in einem Verbrechen, das sie übertragen, dessen Verlauf sie beeinflussen und mitorganisieren. Insbesondere dem Fotografen Meyer, der mit Rösner verhandelt, und Udo Röbel, dem damaligen Vize-Chefredakteur des Kölner Express, der später in den Fluchtwagen einsteigt und die Geiselnehmer*innen aus Köln lotst, meint man anzumerken, wie sie vom Adrenalin der eigenen Handlungsmacht übermannt werden.
Karikatur des rasenden Reporters
Aus der zeitlichen Entfernung von über dreißig Jahren wirken nicht nur Rösner, Degowski und Löblich in diesen Aufnahmen manchmal wie Darsteller*innen der Verbrecher*innen und Mörder*innen, die sie wirklich waren, sondern auch die Akteure der Presse scheinen wie Menschen, die in diesem Moment eine Karikatur vom rasenden Reporter leben. Sie wirken wie Berichterstatter*innen, die unvorbereitet in einem Kriegsgebiet abgesetzt wurden, die keine Erfahrung mit gefährlichen Situationen haben, die in Rösner, Degowski und Löblich vor allem die Figuren einer Story sehen, die es zu beobachten und voranzutreiben gilt. So wie man als Boulevardreporter*in selbst zur Entourage von Prominenten wird und deren Handeln beeinflusst.
Umso verstörender wird dieses Verhalten, je weiter sich die Geiselnahme entwickelt. Denn spätestens ab dem Moment, als Degowski den 14-jährigen Emanuele di Giorgio erschossen hatte, als aus dem vermeintlich faszinierend-gefährlichen Schauspiel, tödlicher Ernst geworden war, hätte sich etwas ändern müssen. Das erwartet man noch heute beim Betrachten der Aufnahmen, von denen viele schon so oft zu sehen waren. Längst bekannt ist, dass Röbel erst am Tag danach in das Auto der Geiselnehmer*innen stieg, als das Fluchtauto eingekesselt von Reporter*innen mitten in Köln stand. Dort antwortet auch Rösner belustigt auf die Frage eines Reporters, wie der Kaffee geschmeckt habe. All das weiß man schon, so bekannt sind die Aufnahmen Und doch hofft man beinahe, dass das alles nicht passiert, dass der erste Mord dieses Verbrechens doch etwas im Verhalten der Presse verändert hätte.
So beklemmend und auf grausame Art faszinierend sind diese Bilder, dass beizeiten kaum auffällt, wie selten vor allem im mittleren Teil der Dokumentation die Polizei sichtbar wird. Irgendwo unter all den Menschen, die zu sehen sind, die das Auto in Köln umringen, die auf dem Tankstellenparkplatz warten, sind Polizist*innen, aber dennoch scheint in all dem eine staatliche Leerstelle aufzutauchen. Verwundert fragen auch in der Kölner Innenstadt Reporter anwesende Passanten, wo denn die Polizei sei, „Irgendwo dahinten,“ heißt es als Antwort. Die Presse gerät dadurch in einen Zwiespalt aus Berichterstattung, Beteiligung und einer verhängnisvollen Form von Verantwortung: Wo keine Polizei ist, die für Ordnung sorgt, die der Presse Grenzen aufzeigt, die die Lage unter Kontrolle hat, da fühlen sich andere berufen Verantwortung zu übernehmen, zu der sie weder ethisch noch professionell fähig sind. Die Reporter verhandeln mit den Geiselnehmer*innen und fotografieren sie währenddessen. Sie sind die ersten, die Emanuele di Giorgio zu retten versuchen, gleichzeitig werden Bilder von dem toten Jungen gemacht.
Geforderte Zuschauer*innen
Gladbeck. Das Geiseldrama besteht nur aus den Bildern der Presse und den Aufnahmen davon, wie diese Bilder gemacht wurden. Der Film spielt aus diesem Grund auch ein ethisch gefährliches Spiel, denn das Faszinationspotenzial dieses Materials geht von der Rücksichtslosigkeit seiner Entstehung aus. Diese Rücksichtslosigkeit in dieser Form offenzulegen heißt auch, die Faszination dieser Bilder für sich stehen zu lassen und dabei einer Rezeptionsweise Vorschub zu leisten, die sich mehr für das interessiert, was um die Fluchtautos der Geiselnehmer*innen herum geschehen ist, als für die Opfer. Das ist durchaus der Sinn dieses Films und sein berechtigtes Anliegen.
Das bedeutet aber auch, dass die Zuschauer*innen angehalten sind, immer wieder zu reflektieren, was sie gerade sehen und wie es zu diesen Bildern kommen konnte. Die Zuschauer*innen sind Beobachter erster und zweiter Ordnung zugleich. Sie sind gefordert, die Distanzierung zu leisten, die diejenigen, die die Bilder erzeugt haben, nicht geleistet haben. Für einen kurzen Moment blitzt diese geforderte Reflektion auch im Film auf, bezeichnenderweise durch einen Mann, der in der Nähe des Fluchtautos in Köln von der Presse gefilmt wird. Seine Wut über das Verhalten der Reporter*innen und die Situation spiegelt die eigenen Gedanken beim Betrachten der Aufnahmen wider. Der Film setzt diese Form der Rezeption voraus und muss hoffen, dass die Zuschauer*innen sie leisten, offensiv fordern kann er sie nicht. Gelingt diese Perspektive dann kann Heises Dokumentation eine verstörende und beklemmende Studie über eine Form des journalistischen Habitus und über das Zeigen und Berichten von Ereignissen sein.
Was dieser Film nämlich auch zeigt, sind eine Zeit und eine Medienwelt, die noch keine Smartphones mit Kamera kannten. Umso beeindruckender ist einerseits die Fülle an Material, das verwendet werden konnte, andererseits offenbart diese Fülle auch unsere Gewöhnung an die Vielfalt der Bilder unserer Gegenwart. Dass der Film existiert, ist nicht nur ein Menetekel für die Rücksichtslosigkeit der beteiligten Presse, sondern die Besonderheit seiner Form ist auch ein Hinweis darauf, wie historisch neu die Omnipräsenz von fotografischen und filmischen Aufnahmegeräten aller Art ist. Erst wenn diese Erkenntnis hinzukommt, wird das Ausmaß dieses Presseskandals in Gänze sichtbar.
Die eigene Empörung, die durch diese Erkenntnis ausgelöst wird, lässt im zweiten Schritt auch Fragen zum Medienkonsum der Gegenwart zu: Schwere Unfälle, Amokläufe, Attentate, Kriege, all das spielt sich inzwischen nicht nur manchmal in der Nähe von Pressekameras ab, sondern fast immer in der Nähe von Smartphonekameras, von denen aus Bilder und Berichterstattung in Sekundenschnelle die Sozialen Netzwerke erreichen. Als am 8. Juni dieses Jahres in Berlin ein Autofahrer absichtlich in eine Menschenmenge fuhr, tauchten bereits nach wenigen Minuten auf Twitter, Instagram und TikTok Videos von Passant*innen vor Ort auf, teilweise mit haltlosen Vermutungen scheinbar eingeordnet, aufgeregt erklärt oder verunsichert kommentiert. Große Teile des Angriffskrieges in der Ukraine wurden außerhalb des Landes vor allem in den ersten Wochen nicht zuletzt durch eine unübersichtlich große Zahl an privaten Handyaufnahmen wahrgenommen. Kaum ein Ereignis, zu dem es heute nicht zahllose Aufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven unter Sichtbarkeit aller Details gibt. Die Präsenz solcher Bilder und die Gefahr, die von ihnen für die Einordnung von Ereignissen ausgeht, wird durch die Dokumentation noch einmal bewusster. Die Menge an Filmmaterial und die Details, auf die der Film zurückgreifen kann, dürfte es in dieser Form eigentlich nicht geben – das wird durch die Machart von Gladbeck: Das Geiseldrama klar. So nah an diesem Geschehen sollten keine Kamera und kein Mikrofon sein. Dass es den Film in dieser Weise geben kann, ist daher ein Problem, aber das ist nicht die Schuld des Regisseurs Volker Heise.
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