von Isabella Caldart
Das erste Mal, dass Andrea Elliott Dasani sieht, läuft sie zusammen mit ihren Geschwistern im Gänsemarsch ihrer Mutter hinterher. Elliott ist Journalistin bei der New York Times und hat sich in den Kopf gesetzt, eine Investigativ-Reportage zu schreiben. Eins von fünf Kindern in den USA lebt unterhalb der Armutsgrenze, in New York City sind sogar 22.000 Kinder wohnungslos, und dieser erschreckenden Statistik möchte sie ein Gesicht geben, um sie so greifbarer zu machen. Also stellt sich Andrea Elliott auf der Suche nach geeigneten Protagonist*innen vor das berüchtigte Auburn Shelter in Brooklyn.
Die Notunterkunft für Obdachlose, eine von 152 Familienunterkünften in der Stadt, mit dem offiziellen Namen Auburn Family Reception Center liegt in einer heutzutage eigentlich sehr guten Lage in Fort Greene, in Sprungweite zum gleichnamigen Park. In den 1980er und 1990er Jahren gab es im Viertel eine kulturelle Schwarze Bewegung, die mit der Harlem Renaissance in den 1920ern vergleichbar ist. Chris Rock wohnte dort, Erykah Badu und Spike Lees erster Spielfilm „Nola Darling“ (1986, Vorlage für die gleichnamige Netflix-Serie von 2017 bis 2019) spielt in Fort Greene. Genau sieben Minuten zu Fuß vom Auburn Shelter entfernt befindet sich ein Weinladen, der Flaschen im hochpreisigen Segment verkauft, und auch sonst dominieren inzwischen teure Town Houses – immer mehr reiche Weiße ziehen ins Viertel.
Zusammengehörigkeit als Familie
Im hermetisch abgeriegelten Auburn Shelter jedoch haben Presse und Öffentlichkeit (obwohl durch öffentliche Gelder finanziert) keinen Zugang. Das hat gute Gründe: Ungeziefer rennt durch das Gebäude, die Heizung funktioniert nicht, wer nachts auf die Toilette geht, riskiert (sexualisierte) Gewalt und für mehrere hundert Bewohner*innen stehen nur zwei Mikrowellen zur Verfügung. „Fort Greene Shelter: Eins der schlimmsten in ganz New York, sagen einige“ lautet die Überschrift eines Artikels aus dem Jahr 2011 im The Brooklyn Ink, der übrigens auch erzählt, welcher globale Promi dort einst geboren wurde, als es noch das Cumberland Hospital war: Michael Jordan.
Auch Andrea Elliott weiß um den Ruf des Auburn, weswegen sie versucht, sich irgendwie Zutritt zu verschaffen und die Missstände aufzuzeigen. Und dann entdeckt sie Dasani. „Ich werde nie den ersten Moment vergessen, in dem ich Dasani und ihre Familie sah“, sagte Elliott in einem Interview mit dem Fernsehprogramm PBS NewsHour. „Sie verließen die Unterkunft in einer Reihe, mit Chanel, ihrer Mutter, an der Spitze. Sie strahlten einfach diese Zusammengehörigkeit als Familie aus, diese Stärke, diese Einheit.“ Nicht nur das Familienband, auch Dasani beeindruckt sie nachhaltig. „Dasani strotzte vor Energie. Sie war frühreif, wagemutig, abenteuerlustig. Bereits mit elf Jahren konnte sie ihre tief empfundene Meinung bewegend artikulieren“, beschreibt sie das Mädchen später in ihrem Buch Kind im Schatten. „Aufmerksam beobachtete sie ihr eigenes Leben – selbst bei Erwachsenen ein seltenes Merkmal. All diese Eigenschaften sind nicht nur bewundernswert; für die journalistische Arbeit sind sie geradezu maßgeblich.“
Also nimmt die Journalistin Kontakt mit der Familie auf, zeigt alte Artikel von sich und erläutert ihr Vorhaben: die Familie so echt und nah wie möglich zu porträtieren. Ein Jahr lang begleitet Elliott Dasani, Chanel und ihre Familie und veröffentlicht im Dezember 2013 eine fünfteilige Serie auf den Titelseiten der New York Times. Doch der Autorin ist bewusst: Dasanis Geschichte ist noch nicht auserzählt.
Zu zehnt in einem Zimmer
Am Ende sind es acht Jahre, die Andrea Elliott mit der Familie verbringt. 2021 dann erscheint schließlich ihr Buch, es ist Elliotts erstes. Im Jahr darauf wird es mit dem Pulitzer-Preis als bestes Sachbuch ausgezeichnet, jetzt ist es (von Elsbeth Ranke übersetzt) endlich auf Deutsch erschienen. Allein der Umfang gibt einen Hinweis darauf, wie groß Elliotts Unterfangen war, die Familie und ihre Situation angemessen darzustellen: Kind im Schatten umfasst 750 Seiten, 70 davon sind Anhang und Quellen, und neben hunderten Stunden von Interviews hat die Autorin auch 14.000 Seiten offizielle Dokumente durchforstet.
Treffender noch als der deutsche ist übrigens der Originaltitel Invisible Child, denn Dasani und ihre Familie sind auf gewisse Weise in der Tat unsichtbar. Dasani ist elf, als sie zum ersten Mal zu Andrea Elliott sagt, sie sei „unsichtbar“. „Damit artikulierte Dasani nicht einfach nur ihre persönliche Erfahrung. Sie beschrieb eine öffentliche Beziehung: zwischen ihr und ihrer Stadt, zwischen den Wohnungslosen und denen, die ein Dach über dem Kopf haben, zwischen Schwarzer Benachteiligung und weißen Privilegien. Ihre Kindheit war geprägt vom Aufeinandertreffen dieser beiden Welten– dieser beiden Gruppen von Menschen – den Sichtbaren und den Unsichtbaren.“
Unsichtbar ist auch die ganze Arbeit, die die elfjährige Dasani verrichtet. Im Auburn wohnt die zehnköpfige Familie in nur einem einzigen Zimmer, Kakerlaken flitzen die Wände hoch, die Wände sind schimmelig, ein Eimer fungiert nachts als Klo. Den Zustand ihrer Unterkunft dokumentiert die Familie mit Kameras, die sie von Elliott bekommen haben. Für ihre Geschwister ist Dasani als Zweitälteste (Stiefbruder Khaliq ist wenige Tage älter) wie eine Ersatzmutter und für sie da, wo ihre Eltern versagen. Täglich steht sie in aller Frühe auf, um das Baby zu wickeln, die Kleinen anzuziehen und für die Schule fertigzumachen, wo sie sie auch hinbringt und dabei oft selbst Unterricht verpasst. Ihre noch jungen Eltern, Chanel und Dasanis Ziehvater Supreme, haben nicht nur mit der Armut und Obdachlosigkeit zu kämpfen, sondern auch mit ihrer Drogenabhängigkeit. Bei all den Fehlern, die sie bei der Erziehung machen, wird aber auch schnell deutlich: Chanel und Supreme lieben ihre Kinder.
Und die journalistische Ethik?
Es ist ein sehr nahes Porträt dieser Familie, das Andrea Elliott zeichnet. Voller Empathie und Respekt, aber auch außerordentlich ehrlich, wenn es um ihre Fehler geht. Ihre Rolle als teilnehmende Beobachterin bringt sie nicht selten in eine Zwickmühle. Denn sie will so sehr am Rande stehen und so wenig teilnehmen wie möglich, aber das funktioniert natürlich nicht immer. Gemäß ihrem journalistischen Berufsethos weigert sie sich etwa, der Familie Bargeld zu geben. Aber, wie sie zugibt, knickt sie manchmal doch ein, und sie kauft auch Essen, kutschiert die Familie durch die Gegend oder lässt sich wegen ihrer „White girl“-Stimme von Chanel benutzen, um „beim Stromanbieter[n] anrufen oder bei irgendeinem städtischen Beamten, der ihr Ärger macht – sofern ich über das Gespräch nichts schreibe“.
Und dann ist da noch die Frage, wie sie damit umgehen soll, dass Dasani noch so jung ist. „Würde sie es irgendwann bereuen? Worin bestand meine ethische Verpflichtung einem Kind gegenüber, im Vergleich zu einem Erwachsenen, der aufgrund seiner Lebenserfahrung in der Lage ist, wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen? Und was war, wenn ich Zeugin von Dingen wurde, bei denen ich eingreifen wollte und damit aus meiner Rolle als Journalistin herausfiel?“ In der Tat gibt es einige Szenen, in denen sich Dasani wirklich irrational benimmt, ausrastet, sich mit Mitschülerinnen prügelt und dergleichen. Das sind Momente, bei denen man sich auch als Leser*in um die eigene Rolle fragt: Ist das voyeuristisch?
Zum Glück bleibt Elliott ihrer Empathie und größtmöglicher Wahrheit verhaftet, und zum Glück ist Dasani eine einnehmende Person, was sich auch allein schon durch das geschriebene Wort überträgt. Kein Mensch ist fehlerfrei, und am wenigsten einer in dieser enormen, tagtäglichen Drucksituation und Armut wie Dasani. Zum Ende des Buchs ist sie volljährig und kann selbst ihre Zustimmung dafür geben. Dennoch: Andrea Elliott hat Einfluss auf diese Familie, eine komplett nüchterne, neutrale Beschreibung ist nicht möglich. „Ich arbeite also nicht mehr an einer klassischen Reportage, sondern praktiziere eher ‚Immersion‘ […]: Ich bin in ihrem Haus.“ Objektivität, das ist ganz eindeutig, ist einfach unmöglich; strittig auch, ob es grundsätzlich so etwas wie eine objektive Sichtweise überhaupt gibt.
Wie groß dieser Einfluss ist, das lässt sich nur erahnen. Mit 13 Jahren kommt Dasani schließlich auf die Milton Hershey School in Pennsylvania, ein (religiöses) Internat, das der Schokoladenmogul 1909 gegründet hatte, um sehr armen Kindern – damals nur weiße Jungs – Zukunftsmöglichkeiten zu ermöglichen. Die Hershey School gibt diesen Kindern nicht nur eine allumfassende Schulbildung, sondern auch Essen, Kleidung und vor allem Stabilität im Leben. Hätte Dasani das Stipendium auch erhalten, hätte es nicht diese Artikelreihe über sie gegeben? „Ich glaube, sie wurde aufgrund ihrer eigenen Verdienste angenommen“, betont Elliott in einem Interview mit dem Guardian.
Panorama der Armut
Es ist durchaus auch möglich, dass sie damit Recht hat. Die fünfteilige Serie in der New York Times stößt auf viel Resonanz, Dasani wird auf der Straße wiedererkannt. Und sie wird in Gracie Mansion, den Amtssitz des Bürgermeisters, an der Upper East Side eingeladen, um am 1. Januar 2014 an der Amtseinführung von Bill de Blasio teilzunehmen. Wenige Wochen danach ist Dasani aber wieder vergessen. „Egal, wie einflussreich ihr Auftritt in der Times war“, formuliert es Andrea Elliott, „einen sehr viel größeren Einfluss auf Dasanis Leben hatte nach wie vor die Armut“. Und diese Armut ist ein Erbe von Jahrhunderten.
Zu den Stärken von Kind im Schatten gehört auch, dass Andrea Elliott ein breites Panorama aufmacht und weit über das Schicksal der Familie hinausgeht. Sie legt dar, dass gerade Brooklyn auf dem Rücken von versklavten Menschen aufgebaut wurde (noch heute weisen die Namen vieler Straßen und Ecken wie Boerum Hill, Wyckoff Street oder Ditmas Park auf die damaligen Sklavenhalter hin), die ab 1626 erst von den Niederländern, dann den Briten nach New York City verschleppt wurden – teilweise stellten sie ein Drittel der Einwohner*innen Brooklyns. Auch durch Dasanis Familie zieht sich der strukturelle und systemische Rassismus der Gesellschaft. Ihr Großvater kämpfte als Schwarzer GI gegen die Nazis. Zurück in den USA blieben ihm die Stipendien und großzügige Darlehen für Bildung oder Häuser des GI Bill verwehrt. Das Gesetz war nur für Weiße gedacht – und trug stark zur Bildung der weißen Suburbs im gesamten Land bei.
Beinahe die Hälfte der Bewohner*innen von New York City lebt nahe oder sogar unterhalb der Armutsgrenze. Für die Menschen eine fragile Situation – ein einziges Ereignis kann da alles verändern. Miss Hester, eine Lehrerin Dasanis, landet trotz ihres festen Jobs auf der Straße, als ihr Haus in Bedford-Stuyvesant verkauft wird und der Vermieter sie aus der Wohnung schmeißt. Sie muss mit ihrer zu dem Zeitpunkt 15 Jahre alten Tochter zu einer Aufnahmestelle in der Bronx, um in einer städtischen Notunterkunft zu leben. Bei diesen Schicksalen mag es verwundern, dass die Stadt eins der besten Welfare-Systeme der Vereinigten Staaten hat. „Grundlage dafür war eine Änderung an der New Yorker Verfassung während der Weltwirtschaftskrise, der zufolge ‚Hilfe, Fürsorge und Unterstützung der Bedürftigen als öffentliche Belange zu betrachten und vom Staat zu leisten‘ sind.“
Ein absurdes System
Trotzdem versagt dieses System bei Chanel und Supreme immer wieder. In Kind im Schatten wird auch ihr Kampf mit und gegen die Institutionen, Jugendamt, Sozialamt und dergleichen, dokumentiert. Ein paar Jahre später wohnen sie in einer Wohnung in Staten Island. Chanel hat sich temporär aus dem Staub gemacht und lebt auf der Straße, Supreme muss sich um die Kinder alleine kümmern. Das Problem: Die Hilfeleistungen laufen noch über Chanel und kommen deswegen nicht bei den Kindern an. Immer wieder telefoniert er, schreibt E-Mails, geht zum Sozialamt und bittet wiederholt um Hilfe. Erst im Oktober bekommt er rückwirkend bis Juni 3812 US-Dollar Lebensmittelhilfe. Die Monate, in denen die Kinder Hunger litten, macht das nicht wieder gut. Die Stelle gehört zu den entrüstendsten im ganzen Buch.
Schließlich wird die Familie, während Dasani auf der Hershey School ist, doch auseinandergerissen, die Kinder werden auf verschiedene Pflegefamilien verteilt. Elliotts Beschreibungen zeigen die komplette Absurdität des Systems. Monatelang hatte Supreme Alarm geschlagen wegen der fehlenden Lebensmittelmarken, dem abgestellten Strom und Gas; der Familie dabei zu helfen und sie somit intakt zu halten, hätte ein Bruchteil von dem gekostet, was die Stadt jetzt die Unterbringung von Dasanis sieben Geschwistern kostet: 33.000 US-Dollar im Monat. Wie traumatisch das zerstörte Familienband für die Kinder ist, wird sich in ihren Biografien später noch zeigen.
„Es ist ein Kreislauf“, sagt Chanel an einer Stelle zu Dasani. „Es ist schon einmal passiert. Es fängt bloß wieder von vorne an.“ Diesen Kreislauf der Armut zeichnet Kind im Schatten auf eine mitreißende Art und Weise nach. Doch trotz der vielen Rückschläge, die die Familie erleiden muss, ist das Buch nicht nur tragisch. Allerdings ist es auch keine Geschichte, in der am Ende die Armut besiegt wird, es ist kein klassischer American Dream – Dasani etwa, so viel sei verraten, wird auf der Hershey School nicht glücklich werden. Aber es ist eine Geschichte über Familienzusammenhalt und über kleine Siege, die man dem vielen Elend abtrotzt. Vor allem ist es ein Buch, das gekonnt aufzeigt, woher die Armut gerade in Schwarzen Communitys in den USA kommt und wieso die Ungleichheit heute noch so groß ist. Damit gibt es vielleicht einige Anstöße, das System endlich zu verändern. Denn das ist das primäre Gefühl, was am Ende der Lektüre bleibt, ist: Wut auf das System.