Dunkel der Wald, wallend das Blut – Der Baron, der mich liebte

von Eva-Sophie Lohmeier

Ein Mann steht unter Genieverdacht. Glaubt man den aktuellen Porträts und Rezensionen, so ist Nelio Biedermann, 22 Jahre alt, Schweizer, „ein junger Mann, der bereits in jungen Jahren für Furore sorgt“ (SRF), „ein wirklich großer Schriftsteller“ (Daniel Kehlmann), „mit einer Reife, die selten ist – vor allem in diesem Alter“ (Blick), „ein junger Schriftsteller, der seinen Figuren Rätsel zugesteht, die er womöglich selbst nicht einmal begreift, doch die letztlich den Zauber von großer Literatur ausmachen“ (FAZ), „ein junger Zauberer“ (Die Zeit). Ähnlich große Worte werden über seinen zweiten Roman Lázár verloren, der bereits vor Erscheinen in etwa zwanzig Sprachen übersetzt wurde.

Und Nelio Biedermann hat sich Großes vorgenommen. Er breitet mit reichlich erzählerischer Freiheit die Geschichte seiner Familie aus, die ungarischem Adel entstammt, bis die jüngsten Sprosse in den fünfziger Jahren in die Schweiz flohen und seitdem ein weitgehend mittelständisches Dasein fristen. Nur die Großmutter, so erzählt Biedermann in zahlreichen Interviews, habe zwischen dunklen Möbeln und Familienporträts mit Familiensilber getafelt und von der Kindheit im Schloss, vom Kindermädchen und der Flucht erzählt. Mit einem Großonkel sei er schließlich in Ungarn durch die verfallenen ehemaligen Besitztümer der Familie gereist, um dort zu recherchieren. 

Von den Mühen der Recherche ist im Roman allerdings nichts zu spüren, denn Biedermann erfindet die Familiengeschichte als Märchen neu und spickt sie mit zahlreichen literarischen Anspielungen. Besonders subtil geraten sie nicht, wenn man Zuckmayer im Zug trifft, der Benediktinerpater Proust verehrt, die Enkelin Virginia Woolf liest und Onkel Imre über E.T.A. Hoffmanns Nachtstücken dem Wahnsinn anheimfällt. Und es handelt sich eben um den üblichen Kanon.

Dass er sich in diesen eingelesen hat, ist offensichtlich. Dass er nun hofft, sich in ihn einzuschreiben, leider auch. Denn so schön es ist, wenn in einem Buch auch sprachlich ein bisschen was passiert, was über bloße Mitteilung hinausgeht – in Lázár passiert ein bisschen viel, und ein bisschen viel auf einmal. Und man weiß nicht recht, ob man Biedermann für die ganze Mühe bewundern oder bedauern soll. 

Der erste Satz bereits setzt den Ton: „Am Rand des dunklen Waldes lag noch der Schnee des verendeten Jahrhunderts, als Lajos von Lázár, das durchsichtige Kind mit den wasserblauen Augen, zum ersten Mal den Mann erblickt, den es bis über seinen Tod hinaus für seinen Vater halten wird.“ Und der erste Satz bereits versemmelt sich mit einem unklaren Bezug. Ein Einzelfall ist das nicht. Es geht dann so weiter, dass der Tag das letzte Licht schluckt, der vermeintliche Vater das Unterholz absucht, am Fenster steht, dann also doch nur mit den Augen sucht, die Rinde der Bäume anschaut, die er interessanterweise im letzten Licht noch erkennt, sich ein Riss in ihm auftut, der sich beim Blinzeln wieder schließt, während seine Frau ein transparentes Kind auf die Welt gebracht hat, unter dessen Haut man die Organe sieht, was sich irgendwann zu verwachsen scheint, denn irgendwann spielt das einfach keine Rolle mehr. Und das ist nur die erste Seite.

Im Waldschloss passiert, was eben so in Schlössern passiert. Man diniert, treue Diener dienen, Ländereien liegen herum und werden verwaltet, die Frau Mária hat etwas mit dem Stallknecht, man wird melancholisch oder wahnsinnig oder und bringt sich um, während ab und zu ein wenig Weltgeschichte hineinsickert. Die Figuren bestehen vor allem aus körperlichen Merkmalen und sexuellen Neurosen. Irgendwann nimmt sich der vermeintliche Vater eine Geliebte aus dem Arbeiterviertel. Das wird im Roman so beschrieben: 

„In der Straße roch es nach toten Blättern und Urin, und aus jedem dritten Fenster der rußigen Arbeiterhäuser blickte ein altes, faltiges Gesicht. Sándor spürte die stumpfen Blicke in seinem Rücken und war sich, während er unter den Platanen, deren Stämme wie kranke, von Geschwülsten überzogene Körper aussahen, auf die Frau zuging, so bewusst wie nie, was seine handgemachten Budapester, seine maßgeschneiderten Hosen, sein algerischer Kamelhaarmantel und sein Wiener Hut gekostet hatten.“

Es ist ein wenig trostlos und schmuddelig dort, trotzdem ist sich der Baron „nicht zu schade, sein Gesicht in ihrem nur selten gewaschenen Schoß zu versenken“. Über diese Frau aus dem Arbeiterviertel erfährt man nahezu nichts. Sie hat nur die eine Funktion, ihm außerehelich zu Diensten zu sein. „Márias Körper war zu einem Symbol, zur Tempelruine einer längst erloschenen Religion geworden, während Frau Virágs Körper Stätte eines blühenden Glaubens war, dem Sándor regelmäßig huldigte, indem er in ihren feuchten Schoß stieß, mit seiner Zunge den Schmutz von ihren Fußsohlen leckte, seine Nase in ihre Achselhöhlen grub und ihren Hintern auf seinem Gesicht platzierte. Unter diesem konnte er alles vergessen: Die schlechte Getreideernte, die nationalen Bestrebungen der Balkanländer, den bedrohlichen Atem Russlands, den großen Kaiser, der klein und alt über sein zerbröckelndes Reich herrschte, seinen Bruder, seine Frau, ja sogar seinen schwächlichen blassen Sohn.“ 

Wenn Frauen in einem Buch als schmutzige Schöße und Tempelruinen gekennzeichnet sind, dann darf man sich eventuell doch einmal fragen, wie weit man im 21. Jahrhundert mit diesem Stil so kommt. Dagegen liest sich Arthur Schnitzler geradezu herzerfrischend. 

Fast interessanter als das, was hier erzählt wird, ist das, was nicht erzählt wird. Ungarn ist gegenwärtig kein politisch luftleerer Raum, sondern wird vom nationalistischen Rechtspopulisten Viktor Orbán regiert, der sich gern auf die alte Größe des Reiches vor dem Friedensvertrag von Trianon im Jahr 1920 beruft, als das Land aufgeteilt wurde. Orbáns Geschichtspolitik betreibt einen regelrechten Trianon-Trauerkult mit Denkmälern und Gedenktagen um eine verloren geglaubte nationale Einheit. Später verbündete sich Ungarn mit Hitlerdeutschland, um die Gebiete zurückzubekommen, was kurzzeitig gelang. 

Bei Biedermann liest sich das so: „Für Lajos war das Ende des Kaiserreichs die einzig logische Folge; den Verfall des Vaters hatte er stets als dessen Verkörperung angesehen. Dennoch erschütterte ihn das Auseinanderbrechen der ihm bekannten Welt. Es kam ihm vor, als würde alles in sich zusammenfallen, als würde die Mitte nicht mehr halten [Yeats!, oder wahlweise: Didion!], als wäre er Teil einer Welt, die es nicht mehr gab.“ Was in der Gegenwart politisch aufgeladen wird und was sich Rechtspopulisten zunutze machen, wird in diesem Buch privatistisch und literarisch überpinselt. 

Lajos wird darob ohnmächtig, man schickt ihn auf Kur. Er lebt in interessanten Zeiten, leider erfährt man nur so wenig davon. Dafür umso mehr darüber, wie er sich mittels Psychoanalyse von seinen Männlichkeitsverlustängsten kurieren lässt, unter denen er nach einer Misshandlung in der Jugendzeit leidet, und deshalb nur ein paar Seiten nach dem neu gewonnenen ehelichen Glück gleich mit dem Dienstmädchen Bertha ins Bett muss. 

„Der Schriftsteller fürchtet sich vor nichts mehr als vor dem Glück, was nur verständlich ist, denn Schreiben ist Konservieren, Festhalten, Ordnen, das Glück aber meidet die Sprache, entzieht sich den Wörtern, versteckt sich in der Vergänglichkeit und zerfällt, wenn man es zu erklären versucht. Da aber weder Lilly noch Lajos Schriftsteller waren, lebten sie in ihrem Glück wie Tiere, die keinen Gedanken an die Zukunft verschwenden und sich nicht nach Erklärungen sehnen.“ Deshalb ist nun Schluss mit der Eheharmonie, und Bertha wird eilends herbeigeschrieben, um angesichts des Penis zwischen des Dienstherren Beinen und seinem dunklen Blick „Neugier und Erregung“ zu empfinden. Die Tochter verguckt sich später im Zwangsarbeitsdienst auf dem Reisfeld in einen knackigen Landburschen mit Augen, so dunkel wie schwarze Oliven, weshalb es bald hinter der Scheune zur Sache geht. Nein, wirklich keine der Frauen in dem Buch hat eine halbwegs realistisch beschriebene Sexualität. Dass Menschen, die keine Schriftsteller sind, im Glück dahinleben wie Tiere, ist auch eine recht steile These dieser Erzählerpersona.

Überhaupt, die Sexszenen. Man weiß wirklich nicht, wo man anfangen soll. Klappt man das Buch zu, hat man ein wenig Angst, von all den Penissen zu träumen, die sich permanent aufrichten, von den Kerzen, mit denen sich befriedigt wird, von dem Geblase und Gevögel im Nebenzimmer, das alle permanent ganz wuschig macht. Der junge Lajos kann sich nicht einmal an Bord der Titanic träumen, ohne dass er „die Hügel seines Mutterlands verblassen, den väterlichen Leuchtturm schrumpfen“ sieht. Holy Freud, send help. 

Was sich anfangs noch halbwegs kurios und drollig unbeholfen liest, wird angesichts von Vergewaltigungen dann endgültig ärgerlich. Gewalt an Frauen als Plot Point ist ja immer ein gern genommenes, aber faules Mittel, um Verschärfung und Dringlichkeit herzustellen, ohne gleich Figuren umbringen zu müssen. Hier wird ein Dienstmädchen den Russen geopfert, von der man dann praktischerweise nicht mehr viel hört. Und die Vergewaltigung seiner Schwester lässt den Enkel später durch das Budapest des Volksaufstands irren, ohne dass er sich zu sehr beteiligen muss, was den Autor um die lästige Pflicht bringt, dieses historische Ereignis und seine Implikationen zu detailliert beschreiben zu müssen. 

So paradieren sie an einem vorbei, die Personen, die Penisse, die Jahre; Tauben fallen in dunkler Vorahnung tot vom Himmel, Juden verschwinden, Schlösser, Familienmitglieder kommen abhanden. Was genau, so fragt man sich, und wovon wird hier eigentlich erzählt? Für einen richtig saftigen Historienschinken sind 320 Seiten zu wenig. Von einer Familie? Dafür fehlt eine echte Einfühlung in die Figuren, ein paar Charaktermerkmale jenseits ihrer mittelinteressanten Begierden. Man muss sich ja nicht gleich zutiefst mit ihnen identifizieren. Ein wenig Interesse würde schon reichen. Werden die Zeitläufte erzählt? Eher nicht, sie bilden nur eine impressionistisch hingepinselte Kulisse. Hier ein Kaiser, da ein Hitler, nur Stalin bekommt eine Sprechrolle, zum Glück ohne Penis, dafür mit Buch (Gogol). Warum, weiß niemand. 

Am ehesten wird hier wohl von der Belesenheit eines jungen Autors erzählt, der sich im üblichen Kanon auch wirklich ganz gut auskennt und eine Menge Anspielungen einfügt, in denen beflissene Rezensenten ihr jüngeres Selbst und ihre Belesenheit gespiegelt sehen. Wie die Hymnen auf ein Buch voller schiefer Bilder, prätentiöser Sprache und halbverdauter Lektüre zustande kommen, ist wohl außerdem auch mit einer Faszination für die Familiengeschichte des Autors zu erklären. Die meisten Autoren haben leider weniger schillernde Adelshintergründe, andere sind Frauen, daher stellt sie niemand unter Genieverdacht.

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Foto von Robert Kozma

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