Ein bürgerliches Trauerspiel – Über Familienbilder und Abtreibungsverbot

von Isa Hoffinger

Die Literatur und das Leben sind voller familiärer Konflikte: Brudermorde, Inzeste, Seitensprünge. Dennoch glauben viele Menschen an das Märchen von der heilen Familie. Auch einige Argumente von Abtreibungsgegnern in der aktuellen Debatte basieren darauf. Warum hält sich dieser Mythos so hartnäckig?

Murphy Brown war schuld. Zumindest aus der Sicht von James Danforth Quayle. Im Frühsommer 1992 schimpfte der damalige US-Vizepräsident über die Hauptfigur der gleichnamigen Sitcom: „Es hilft uns nicht, wenn Murphy Brown, eine Figur, die repräsentativ für die intelligenten und gute bezahlten Frauen der Gegenwart ist, zur Primetime über die Relevanz von Vätern spottet, indem sie ein Kind alleine zur Welt bringt und das als Frage des Lebensstils bezeichnet.”

Wie die Soziologin Christine Zimmermann zeigt, gehörte Murphy Brown zu den beliebtesten und langlebigsten US-Serien. 247 Folgen wurden von 1988 bis 1998 ausgestrahlt. Die Protagonistin war eine zuweilen recht sture, aber erfolgreiche Reporterin. Ihr Vergehen bestand, so sah das offenbar der Republikaner und spätere Trump-Unterstützer James Danforth Quayle, in ihrem Versuch, ihre Berufstätigkeit mit ihrer Mutterrolle zu vereinbaren.

Interessant ist, wie stark Quayles wütender Kommentar damals verfing. Nach seiner Aussage vor dem Commonwealth Club of California gab es eine öffentliche Debatte über die angebliche Krise der Familie, schlimmer noch, über den moralischen Verfall der ganzen Gesellschaft. Wer glaubt, das seien die 1990-er gewesen und heute, dreißig Jahre später, sei alles akzeptiert, Alleinerziehende, LGBT-Eltern, Reproduktionsmedizin, täuscht sich.

Von der Pille zu Roe vs. Wade

Inzwischen pochen Biolog*innen wieder auf die Zweigeschlechtlichkeit, was Vorurteile gleichgeschlechtlichen Paaren gegenüber verstärkt und Abtreibungsgegner behaupten neuerdings abermals, Schwangerschaftsabbrüche verstießen gegen das natürlichste aller Gefühle: Die biologisch begründete Mutterliebe, die die französische Feministin Elisabeth Badinter im Jahr 1980 schon als Mythos entlarvte. Warum nur wird das Rad der Zeit gerade derartig zurückgedreht?

Fast immer, wenn es gesellschaftliche Spannungen gibt, wird die Familie dafür verantwortlich gemacht. Dass Ursachen für Unzufriedenheiten aller Art in der Familie verortet werden, liegt auch daran, dass die Entstehung der Kleinfamilie von Beginn an mit hohen Erwartungen an Glück, Erfolg, Selbstverwirklichung verknüpft war. Scheitern persönliche Träume oder die Ambitionen bestimmter Gruppen, sind nicht etwa die eigenen Ansprüche zu hoch und ist nicht etwa die Politik schlecht. Nein, die Familie ist dann „in der Krise“. Vom Zerfall der moralischen Institution Familie sprechen darum auch die Verfechter*innen der neuen Abtreibungsverbote so gerne.

Gewalt in der Ehe war bis 1997 straffrei

Dass der Aufschrei gegen die Entscheidung des Supreme Court in den USA im Moment unüberhörbar ist, ist mehr als verständlich. Für das Recht, über ihren Berufswunsch, ihr Leben und ihren Körper selbst zu bestimmen, mussten Frauen hart kämpfen. Noch bis 1997 galt etwa in Deutschland nur der erzwungene außereheliche Geschlechtsverkehr als Straftat. Nötigte ein Ehemann dagegen seine eigene Frau zum Sex, hatte er juristisch nichts zu befürchten. Wie viele ungewollte Schwangerschaften Folgen von Vergewaltigungen waren und sind, wissen wir nicht.

In den 1960er und 1970er Jahren verursachten zwar zuerst die Anti-Babypille und später dann die höchstrichterliche Entscheidung zur Abtreibung im Fall Roe vs. Wade in den Vereinigten Staaten einen nachweisbaren Rückgang von Schwangerschaften, aber weder die Pille noch die Richter konnten sexuelle Gewalt aus der Welt schaffen. Warum so selten über Vergewaltigungen durch Angehörige gesprochen wird und die Dunkelziffer bis heute so hoch ist, hat auch mit einem Familienleitbild zu tun, das seit seiner Entstehung absolut unrealistisch war.

Die weibliche Tugend als Waffe im Kampf um den Aufstieg

Die Familie ist eine der ursprünglichsten Formen menschlicher Gemeinschaft. Konstitutiv für diese Sozialform ist, soziologisch gesehen, die Zusammengehörigkeit von mindestens zwei Generationen, die in einer Eltern-Kind-Beziehung zueinander stehen. Ob es nur einen Elternteil gibt, der im Haushalt mit dem Nachwuchs zusammenlebt oder zwei, das spielt, zumindest für die familiensoziologische Definition, glücklicherweise heute keine Rolle mehr. Die Tatsache, dass es heterosexuellen menschlichen Sex gibt, hat zu der Annahme geführt, dass die Familie eine Naturkonstante sei. In Wirklichkeit ist sie eine historisch determinierte Lebensform, deren Entwicklung eng mit dem Wandel sozioökonomischer Verhältnisse verknüpft ist.

Diverse Vergesellschaftungsprozesse haben sich an familialen Strukturen orientiert. Dies wird an der Übertragung von Verwandtschaftsbegriffen auf andere soziale Systeme deutlich. So beeinflusste das Bruderschafts-Modell einige kollektive Organisationsformen, von den frühmittelalterlichen Kaufleute- und Handwerkergilden bis zur Arbeiterbewegung um 1900. Umgekehrt haben wirtschaftliche und politische Prozesse zur Herausbildung spezieller Familientypen geführt und sogar die Binnenstruktur bestehender Familienformen verändert, wie eine Entwicklung im 17. Jahrhundert zeigt: Mit der Inanspruchnahme der Landesvater-Position durch den absolutistischen Herrscher lässt sich, das zeigen familiensoziologische und sozialhistorische Studien, auch eine Zunahme an väterlicher Autorität in der Familie nachweisen. Die Familie war damals ein Abbild gesellschaftlicher Strukturen. Sie war schon immer eine variable Sozialform und keineswegs eine natürliche, stabile oder gar gottgewollte Form des Zusammenlebens.

Pro-Life-Anhänger, Geistliche und Republikaner rekurrieren nichtsdestotrotz unbeirrbar auf ein überholtes Familienleitbild, das im 17. Jahrhundert entstand. Damals entwickelte sich das bürgerliche Familienmodell, ein ideologisches Konstrukt, zu dem auch die sogenannten Geschlechtscharaktere gehörten, die die Historikerin Karin Hausen erforscht hat. Frauen sollten angeblich von Natur aus sanft und ruhig sein, Männer tatkräftig und mutig. Das ließ eine Rollenteilung plausibel erscheinen. Hinter diesem Familienmodell, das der Frau die innerhäusliche Sphäre und dem Mann die außerhäusliche Sphäre zuwies, standen zum einen reale Erfordernisse der damaligen Zeit: Es gab nach und nach weniger sogenannte große Haushaltsfamilien als Produktionsgemeinschaften, etwa in der Landwirtschaft. Die Erwerbsarbeit fand also nicht mehr zuhause statt und wurde von der Privatsphäre getrennt. Aber auch politische Ziele des sogenannten höheren Bürgerstandes, einer Gruppe, die sich aus Gelehrten, Künstlern, Kaufleuten, Unternehmern, höheren Beamten zusammensetzte, steckten hinter der Entstehung dieses Familienmodells.

Der Ursprung des Amerikanischen Traums

Seit dem 17. Jahrhundert wird die sogenannte Kernfamilie mit maximal zwei Generationen als Keimzelle der Gesellschaft betrachtet. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Noch im Jahr 2013 setzte der Schweizer Rotary Club einen Ausspruch des Berner Dichters Jeremias Gotthelf als Motto auf seine Webseite: „Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland“. Jeremias Gotthelf hieß in Wirklichkeit Albert Bitzius, war im Hauptberuf Pfarrer und lebte von 1797 bis 1854.

Die Grundlage des bürgerlichen Selbstverständnisses war im 18. Jahrhundert das Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit, das sich auch heute noch im Amerikanischen Traum spiegelt. Die gesellschaftliche Position sollte, im Gegensatz zur Ständegesellschaft, kein Geburtsrecht mehr sein, sondern das Ergebnis persönlicher Fähigkeiten, die zu erwerben prinzipiell jedermann möglich sein sollte. Dieser Gedanke impliziert ein bestimmtes Menschenbild, demzufolge alle Menschen autonome, selbstverantwortliche Individuen sind. In diesem Zusammenhang ist neben der Französischen Revolution der Einfluss der philosophischen Anthropologie von Bedeutung, die sich seit dem Humanismus und der Reformation entwickelte. Sie erhielt von Kant und Hegel entscheidende Impulse, etwa durch Hegels Theorie über die Konstitution des Selbstbewusstseins durch den Kampf um Anerkennung, die als prototypische soziologische Subjekttheorie bezeichnet wird. Sasa Josifovic hat dazu eine lesenswerte Arbeit vorgelegt.

Jeder ist seines Glückes Schmied

Das neue Leistungsprinzip setzte Werte voraus, die in der Familie ausgebildet werden sollten. Darum wurde die Familie auch so wichtig. Mit ihrer Hilfe sollten die Bürgerskinder Tugenden entwickeln und Kenntnisse erwerben, die im Wettstreit mit dem Adel von Vorteil waren: Selbstbeherrschung, Fleiß, Arbeitsethos. Eine wichtige Rolle spielte der Wert der Innerlichkeit, der durch den Protestantismus verbreitet wurde und der auch von den Evangelikalen in den USA heute noch gepredigt wird. Erst die Konzentration auf das durch den Protestantismus vermittelte Bewusstsein von Sündhaftigkeit ließ das Gewissen zu einer mächtigen Kontrollinstanz werden. Nicht nur das Scheitern beruflicher Ambitionen, auch das Abdriften in einen lasterhaften Lebenswandel konnte so der Familie zugerechnet werden.

Die bürgerlichen Familien mit ihren tugendhaften Töchtern wurden in der Literatur wie im Leben zu Sinnbildern einer neuen Sittlichkeit, die im Gegensatz zu den sexuellen und materiellen Ausschweifungen des Adels standen. Das machte die Bürger moralisch wertvoller und den Adel minderwertiger. Wurde eine Bürgerstochter von einem Adeligen verführt, bedeutete das also nicht nur persönliches Leid, sondern auch einen Rückschritt im Kampf um Gleichberechtigung der Bürger. Lessings „Emilia Galotti“ thematisiert das beispielsweise.

Die Ehe- und Familienlüge

Um 1900 und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kam es zu einem rasanten Wandel der Lebensbedingungen in einer Welt, die seit dem Siegeszug der Industriellen Revolution immer komplexer wurde. Die Modernisierung rief Emotionen des Unbehagens hervor. Hinzu kam, dass das Individuum aufgrund von Rationalisierung und Technisierung die Möglichkeit der Selbstvergewisserung verlor. Sein Kapital war nicht mehr die eigene Leistung, sondern mittlerweile eher der Einsatz von Maschinen. Während Angehörige des Großbürgertums, also etwa Fabrikbesitzer, die Gewinner der Industrialisierung waren, verarmte die Arbeiterschaft. Das sogenannte Kleinbürgertum resignierte. Die Schere zwischen Arm und Reich begann zwar nicht erst zu jener Zeit, auseinanderzugehen, aber die Enttäuschung vieler Kleinbürger, den Aufstieg trotz aller Anstrengungen nicht schaffen zu können, mündete in einen Rückzug ins Private, und der Frust war so stark, da die Hoffnungen auf das Vorwärtskommen durch eigene Kraft vorher so groß waren. Statt überkommene Moralvorstellungen einfach über Bord zu werfen und sich einzugestehen, dass das Familienmodell nur ein unerreichbares Ideal gewesen war, klammerte man sich daran wie Ertrinkende an einen Rettungsring. 

Der Institution Familie gelang es um 1900 in Europa kaum noch, Werte zu vermitteln, die die Welt durch konkrete Sinnzuweisungen erfahrbar machen konnten. In der Literatur spiegelt sich das in Gerhart Hauptmanns Familiendramen oder im expressionistischen Schauspiel, etwa in „Vatermord“ von Arnolt Bronnen. Die Kinder begannen, zu rebellieren. Sie warfen der Familie eine Verlogenheit vor, die nur vor dem Hintergrund zu verstehen ist, dass die Familie zuvor so enorm aufgewertet worden war. Zeitgenossen sprachen nun erstmals von einer „Krise der Familie“, die sich in der Literatur manifestiere. Im Grunde ist das auch der Zustand, in dem sich die moderne Familie bis heute befindet. 

Die Verlierer des Digitalkapitalismus

Der Prozess einer beschleunigten Veränderung ist auch jetzt, seit den Nullerjahren, wieder zu beobachten. In den USA hat der Digitalkapitalismus zu viel Unsicherheit bei Menschen geführt, die im Handwerk oder im klassischen Dienstleistungssektor beschäftigt sind. Ein Job reicht vielen nicht mehr zum Überleben. Durch die Pandemie wurde die Wirtschaft zusätzlich geschwächt. Und scheinbar ist es nun, auch vor dem Hintergrund der verlorenen Wahl von Trump, wieder einmal oder immer noch die intakte Familie, die für Ordnung sorgen und alles ins Lot bringen soll, was politisch schieflief.

Auf Kosten von Mädchen und Frauen gehen Republikaner auf Stimmenfang, fällen Richter*innen nun wieder Urteile. Nicht nur in den USA, auch in Polen. Institutionen, etwa Gerichte, brechen nicht nur, und das ist das Tragische, den moralischen Stab über Frauen, die ungeplant oder ungewollt schwanger sind, sondern sie sorgen darüber hinaus dafür, dass Frauen, auch wenn sie Opfer von Vergewaltigungen sind, doppelt bestraft werden. Mit der eigenen Scham und mit dem Gefängnis.

Photo von Roman Kraft auf Unsplash

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