Ein moralisches Komplettversagen – Über die Rezeption von Leni Riefenstahl

von Christina Dongowski

 

In den deutschsprachigen Feuilletons wird alle paar Jahre neu verhandelt, wie inakzeptabel es ist, sich mehr oder weniger affirmativ zu Nazi-Ästhetik, ihren Vertreter:innen und ihrem xten Aufguss zu verhalten. 2020 waren es die Juden-Witzchen von Lisa Eckart, ein im Retro-Ufa-Look auftretendes österreichisches Humor-Sternchen, die zum Gipfel ironischer Meta-Diskurse und ästhetischer Provokation hochgeschrieben wurden. Für diese Debatte hätte die Veröffentlichung der neuen Leni Riefenstahl-Biographie der Dokumentarfilmerin und Autorin Nina Gladitz im Herbst 2020 ein wichtiger Beitrag sein können. Gladitz macht die Funktion etlicher, scheinbar rein ästhetischer Argumente für die Verwischung und Normalisierung von Täterschaft im Kulturbetrieb der Nazi-Zeit und danach explizit zu einem der zentralen Themen des Buches. Diskutiert wurde die Biographie in den Feuilletons so aber nicht. Die Reaktion auf das Buch war trotzdem in gewissem Sinne einschlägig, hat es doch zu erstaunlichen (sozial)medialen Erkenntnisschüben geführt: Die Lieblingsregisseurin Adolf Hitlers und Regisseurin der wichtigsten und erfolgreichsten NSDAP-Propagandafilme war eine Nazi-Täterin. No shit, Sherlock! könnte man meinen. Bloß gehört die schlichte Erkenntnis, dass Leute, die freiwillig Nazi-Kunst machen, auch Nazis sind, eben noch immer nicht zu den Basics deutscher Debatten. Genauso wenig verbreitet ist das Wissen, dass man Menschen in Lager sperren und sie dort ermorden (lassen) und gleichzeitig Künstler:innen oder unglaublich belesen und gebildet sein kann. Mit dem Kunst-Bonus kommt der Persilschein. Immer noch.

Nina Gladitz ist Leni Riefenstahl schon sehr lange auf der Spur – und das ganz wortwörtlich: Seit den 1980er Jahren deckt sie Fakten über deren Vergangenheit als Größe der Nazi-Filmpolitik und -industrie wieder auf, die Riefenstahl in ihrem langen Nachleben als Propagandistin in eigener Sache unbedingt verschwinden lassen wollte. Riefenstahl versuchte, sich Gladitz und die Wahrheit über die eigene Bösartigkeit mit juristischen Mitteln vom Hals zu halten. Sie verklagte Gladitz und warf ihr vor, diese behaupte fälschlich, Riefenstahl habe für ihr letztes zwischen 1941 und 1944 gedrehtes Filmprojekt Tiefland Zwangsarbeiter:innen, die als Sinti und Roma verfolgt wurden, als Komparserie eingesetzt und nach Verwendung bei den Dreharbeiten sei es ihr egal gewesen, dass die Menschen nach Auschwitz deportiert wurden, wo fast alle ermordet wurden. Das Gericht wies 1984 Riefenstahls Klage, abgesehen von zwei inkriminierten Behauptungen, in zweiter Instanz endgültig ab. (Hinweis: In der ersten Version des Textes fehlte der Hinweis, dass das Urteil in zweiter Instanz ergangen ist.) An dem Ergebnis von Gladitz’ Recherchen zu Riefenstahls Dreharbeiten gab und gibt es nichts zu rütteln: Mit ihrem Monumentalfilm-Traumprojekt Tiefland war Riefenstahl integraler Bestandteil der deutschen Mordmaschinerie, die bis kurz vor Kriegsende erstaunlich reibungslos lief. Und das auch nicht „unbewusst“ oder aus politischer Naivität. Riefenstahl forderte die Menschen eigens bei den für die Zuteilung zuständigen Stellen an, wählte die optisch passenden persönlich im Lager aus, und ließ ihre engen Beziehungen zu Hitler und anderen Führungskräften des Regierungsapparates spielen, um schnell und billig an ihr „Menschenmaterial“ zu kommen.

Für die Karriere Riefenstahls als Lieblingskulturnazi des BRD- und später gesamtdeutschen Feuilletons war das Bekanntwerden ihres persönlichen Beitrags zum Porajmos, nun auch gerichtsfest, komplett folgenlos. Ihre 1987 bei Knaus erschienenen Memoiren wurden ein Bestseller und sind eine Meisterleistung des Herumdoktorns an der eigenen und der kollektiven Erinnerung und an der historischen Wahrheit. Auch international: Liberale und konservative französische, amerikanische und britische Kulturbetriebsmitglieder konnten ihre Faszination für den Faschismus und für seine elitäre, alles Gewöhnliche, Normale, Alltägliche, Kleinteilige, Hinfällige und Diffuse verachtende und ausmerzende Ästhetik ausleben. In verschämt-intellektuellen Essays wurde über die doch irgendwie Avantgarde-gewesen-seiende Riefenstahlsche Kamera- und Schnitttechnik geschrieben und sich dafür auf Walter Benjamin und Susan Sontag berufen. In Grafik, Photographie und Kunst wurde sich Riefenstahls Ästhetik bis hin zu konkreten Bildfindungen für die eigenen werblichen oder popkulturellen Bemühungen einfach direkt angeeignet. Peter Savilles Cover für Flesh + Blood von Roxy Music, bereits 1980 erschienen, kann wenigstens für sich in Anspruch nehmen, ein echtes Zeichen der Zeit gewesen zu sein: Der Canary in the Coal Mine, der anzeigt, dass die queeren, gender-fluiden, kollektiv-ekstatischen 70er vorbei sind und ab jetzt das Kraft durch Freude-gestählte, sich permanent selbst-optimierende Individuum der kapitalistische Leistungsgesellschaft gefragt sein wird. Die Endmoränen dieser Verpoppung der Ästhetik für einen Staat von Massenmörder:innen lassen sich in der Klamauk-Version der Blut-Boden-Brauchtum-Sitte-Ästhetik bewundern, mit denen heute Rammstein und andere Maskulinitäts-Performance-Künstler und Deutsch-Humor-Künstler:innen Fans und Feuilleton regalieren. Aber, natürlich!, „ironisch“!

Ironie als Instrument, um faschistische, rassistische und antisemitische Formensprache, Symbole und Zeichenkomplexe wieder in der eigenen Kunst-, Literatur- oder Kritik-Produktion verwenden zu können, ohne dafür soziale, ökonomische oder rechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen – dieser diskursive Power Move wurde in den 1980ern entwickelt und etabliert. (Erneut, denn auch die Nazis selbst waren darin bereits versiert.) Leni Riefenstahl und die filmhistorische Bedeutung und ästhetische Qualität, die ihren Filmen zugeschrieben wird, haben dafür in der BRD eine entscheidende Rolle gespielt. Lehnte man die Heimholung Riefenstahls in den hoch- und populär-kulturellen deutschen Kanon mit ethischen Argumenten, wie dem Hinweis auf ihre aktive Arbeit für die Nazis, ab, wurde entgegengehalten, es fehle an ästhetischer Beurteilungskompetenz und an der nötigen Bildung, Uneigentlichkeit zu erkennen. Mit der Schuld und Verantwortung Riefenstahls im Prinzip leugnenden Formulierung  “ihrer bedauerlichen Verstrickung mit den Nazis“ wurde Riefenstahl in den Kanon durchgewunken. Man könne doch schließlich an den aktuellen Aneignungen der Riefenstahlschen Ästhetik deutlich ablesen, dass das ironisch gemeint sei, weil ja niemand heutzutage ernsthaft die Nazis für tolle Typen hielte und sich das Dritte Reich zurückwünsche. Bloß war das schon um 1990 politisch naiv oder sehr dumm gedacht.

Die Denkfigur, dass Ironie, Künstlichkeit oder überhaupt Formen des Uneigentlichen die Kraft hätten, Macht und Schrecken ihres Ursprungs zu bannen oder gar in sein Gegenteil zu verwandeln, ist natürlich keine Erfindung der 1980er und 90er Jahre. Genauso wenig wie die Idee, Kunst müsse ‚provozieren’ oder Grenzen überschreiten, um wirklich wichtig zu sein. Heute tritt einem diese Vorstellung vor allem bei Künstler:innen und Autor:innen entgegen, die sich die Schrecken der Menschheit für die eigene Kunst und deren Positionierung in der öffentlichen Wahrnehmung zunutze machen, aber darauf bestehen, die Gesellschaft sei dafür zuständig, dass man von irgendwelchen Konsequenzen unbehelligt zu bleiben habe und eigentlich sogar mit einem Platz im Kanon oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk belohnt gehöre. Erfunden haben die Feuilleton- und Pop-Schreiber der 1980er und 90er Jahre mit ihrer Begeisterung für Riefenstahl diesen doppelten Deflektorschild gegen die Zumutungen, Teil gesellschaftlicher Zusammenhänge sein zu müssen, zwar nicht. Dieser Kinderglaube an die machtlose Macht (aka Autonomie) der Kunst ist die Basis europäischer Kunsttheorien seit 1800. Für seine Re-Installation nach den Geländegewinnen, die eine politisch und sozial bewusste Literatur und Kunst in den 60ern und 70ern gemacht hatten, waren die Riefenstahl-Debatten im Feuilleton zentral.

Nina Gladitz hat sich davon nicht beirren lassen, im Gegenteil: Die Beflissenheit, mit der die Nazistaatsfunktionärin Riefenstahl vergessen wurde, um die Filmkünstlerin kanonisieren zu können, hat sie angespornt weiter zu machen. Im Oktober dieses Jahres, 17 Jahre nach Riefenstahls Tod mit 101 Jahren, ist bei Orell Füssli das Ergebnis dieser Recherchen erschienen: Leni Riefenstahl. Karriere einer Täterin. Es ist die Biographie einer Frau, die filmkünstlerisch eher mittelmäßig begabt ist, dafür aber ein meisterliches Gespür dafür hat, an welche Männer-Seilschaften sie sich hängen muss, um es bis ganz nach oben zu schaffen – und die dabei absolut keine Probleme hat, aktiver Teil der nationalsozialistischen Elite zu werden. Riefenstahl tritt bedenkenlos alte Kameraden aus ihren Positionen und nutzt dafür virtuos die Möglichkeiten, die ihr die mörderische Kulturpolitik zwischen 1933 und 1945 schafft. Alles für ihr Ziel, als die große deutsche Filmkünstlerin anerkannt zu werden. Einer nach dem anderen müssen die Männer, bei deren Projekten Riefenstahl beteiligt war, das Feld räumen – durch Emigration oder Rückzug aus dem Filmgeschäft. Und wer sich nicht halbwegs freiwillig zurückzieht, den treibt Riefenstahl bewusst in die Verfolgungsmaschinerie oder nutzt diese als Drohpotenzial, um ihre Mitarbeiter auf Linie, vor allem aber zum Abtreten ihrer Urheberschaft zu bringen. Riefenstahl wird so zur alleinigen Autorin eines Werkes, für das sie einige der zentralen ästhetischen und künstlerischen Entscheidungen überhaupt nicht selbst getroffen hat. Ihrem bundesrepublikanischen Nachruhm kommt dabei zugute, dass sie steinalt wird: Riefenstahl überlebt praktisch alle Menschen, deren Wissen ihr hätte Schaden können, und behält so sehr lange die alleinige Autorschaft über ihre zusammengelogene Biographie als Film-Genie. Ihr diese Herrschaft zu entreißen und dem „Ja, das war halt damals so.“-Schulterzucken von Heute seine ethische Stumpfheit auszutreiben, ist Gladitz’ Ziel.

Gladitz gibt den Opfern Riefenstahls ihre Geschichte zurück. Neben den in Auschwitz ermordeten Sinti und Roma, die Riefenstahl brauchte, um ihrem antisemitischen Melodrama Tiefland südländischen Flair zu verleihen, nimmt die Geschichte von Willy Zielke deswegen großen Raum ein. Zielke war Kameramann, Cutter und Second Unit-Direktor für die legendäre Einstiegssequenz des Olympia-Films (der „Prolog“). Vermutlich stammen die meisten der originellen filmischen Ideen tatsächlich von Zielke, wie der Pygmalion-Effekt von der Skulptur eines olympischen Siegers der Antike zum lebendigen Körper eines modernen Olympia-Teilnehmers. Riefenstahl sorgte dafür, dass Zielke alle Rechte daran verlor und ihr alle seine Materialien dazu aushändigen musste. Sein psychisch bereits angeschlagener Zustand verschlechterte sich, er erlitt einen Zusammenbruch. So geriet er in das mörderische NS-Psychiatrie-System. Er wird zwangssterilisiert. Riefenstahl rettet ihn vor der Aktion T4 – um ihn, so Gladitz’ Darstellung, als ihren persönlichen Kamera- und Schnitt-Sklaven zu halten, dessen außergewöhnliche Kreativität und technisches Können sie dafür nutzt, aus dem filmischen (und finanziellen) Debakel, zu dem sich die Dreharbeiten zu Tiefland entwickeln, doch noch einen präsentablen Film zu machen. 1945, als auch für Riefenstahl die Tausendjahre des neuen deutschen Kulturreiches zuende gehen, gelang es Zielke mit Hilfe einer Freundin seiner Peinigerin zu entfliehen, die ihn wohl verhungern lassen wollte. (Hinweis: In der ersten Version des Textes wurden die Umstände von Zielkes Flucht nicht korrekt dargestellt. Auf Hinweis von Nina Gablitz hat die Autorin vor allem die Rolle Riefenstahls bei Zielkes Flucht klar gestellt.) Er schafft es, sich bis nach Hause in den Harz durchzuschlagen. Seine Entmündigung wird aufgehoben. Zielke stirbt 1989, die meiste Zeit seines Lebens als Bundesbürger von Sozialleistungen abhängig. Kurz vor seinem Tod erhielt er endlich eine Opfer-Entschädigung: 5.000 DM. Von dem Geld und der künstlerischen Reputation, die Riefenstahl durch seine Arbeit erlangte, hat er keinen Pfennig gesehen.

Gladitz macht keinen Hehl daraus, was sie von der Riefenstahl-Rezeption der letzten 30 Jahre in Bild, Film und Text hält: ein komplettes moralisches Versagen vor der Aufgabe, diese Frau und ihr Werk historisch, ethisch und ästhetisch adäquat zu verstehen und zu beurteilen. Und das alles für den Frisson, sich selbst auch einmal ein wenig in der sulfurisch-schimmernden Aura eines dämonischen Genies zeigen zu dürfen. (Da nimmt man sogar in Kauf, dass das Genie eine Frau ist. Für die feministische Verklärung Riefenstahls, wie sie Alice Schwarzer betrieben hat, hat Gladitz nur Verachtung übrig.) Dass der moralische Furor, mit dem Gladitz’ schreibt, den meisten Verfasser:innen ein wenig peinlich oder gar unheimlich ist, merkt man gerade auch den wohlwollenden und positiven Rezensionen der Biographie an. Man schätzt ihre detektivische Arbeit in den Archiven, stellt Gladitz Verschränkung von philologischem, ästhetischem und ethischem Urteil aber unter den Verdacht der Distanzlosigkeit und des Obsessiven. Als wäre nicht genau das die eigentliche Leistung von Gladitz: So nah an Riefenstahls Genie-Performance heranzutreten, dass man nicht mehr umhin kommt, darin die Toten und das Lager zu sehen. Und nicht mehr zu vergessen. Schon gar nicht für einen schalen Witz und ein bisschen Medienpräsenz.

 

Photo by Felix Mooneeram on Unsplash

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