von Simon Sahner
Der Sommer 2006 war ein guter Sommer – zumindest, wenn ich versuche, mich in den jungen Mann hineinzuversetzen, der ich damals war. Es gibt ein Foto von mir, wie ich mit einem abwesenden Grinsen auf dem Bismarckplatz in Heidelberg sitzend an einem Laternenpfahl lehne, in einer Hand eine Deutschlandfahne, auf den Backen verwischte Flaggen und auf dem Boden neben mir eine Bierflasche. Meine Haare sind lang und mein Gesicht irgendwo zwischen Bartflaum und Akne. Ich bin fast 17 Jahre alt, sehr verliebt in A. und beim Achtelfinale Deutschland gegen Schweden haben wir das erste mal rumgeknutscht. Vor einer halben Stunde hat Jens Lehmann den entscheidenen Elfmeter gegen Argentinien gehalten.
Vergangene Woche ging es in der ARD-Talkshow “hart aber fair” um die Frage, ob es wieder ein märchenhafter Fußball-Sommer wie 2006 werden könnte, mit allem, was dazu gehört. Ich kann die Frage beantworten: Nein. Zum Glück nicht.
Man kann es ja irgendwie verstehen, aus der Perspektive des Jahres 2024 erscheint der Sommer 2006 vielen wie ein sepiagesättigter Wonnesommer aus fernen Zeiten. Es gab zumindest offiziell keinen Krieg in Europa; die AfD war noch lange nicht gegründet; die Gesellschaft stritt sich nicht um das Gendern und alles, was damit zusammenhängt; Klimaschutz war vor allem die Sache einiger Umweltbewegter und heiße Sommertage schienen wie ein Versprechen und nicht wie eine Bedrohung; die Finanzkrise war noch zwei Jahre entfernt und seit einem Jahr war zum ersten Mal eine Frau Regierungsoberhaupt der Bundesrepublik. Es ist daher kein Wunder, dass Deutschland im WM-Sommer 2006 aus heutiger Sicht für manche wie ein einiges, offenes und in sich zufriedenes, stolzes Land erscheint.
Die Sache mit der Nostalgie
Dass das alles genauso wahr wie falsch ist, muss jedem klar sein, der die heutige Lage in Deutschland, Europa und der Welt nicht nur im Kontext der letzten vier oder fünf Jahre betrachtet. Der nostalgische Blick auf den WM-Sommer 2006 funktioniert nur dann, wenn man Scheuklappen trägt, denn die Gründe für die Krisen und Kriege des Jahres 2024 liegen auch im Sommer 2006. Oder zumindest eben grundsätzlich in der ach so goldenen Vergangenheit. Eigentlich ist es eine Binsenweisheit, dass Nostalgie immer ein Gefühl ist, mit dem man sich selbst belügt, weil die anscheinend schlechte Gegenwart ja irgendwo herkommen muss. Denn, um beim Fußball zu bleiben, dass zum Beispiel der deutsche Nationalspieler Mesut Özil bei der EM 2012 und insbesondere vor der WM 2018 rassistischen Anfeindungen ausgesetzt war, lag vermutlich nicht daran, dass Deutschland 2006 einen gesunden Nationalstolz entwickelt hatte und dann auf einmal wieder rassistisch geworden war. Auch im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2006 berichtete die ARD unter dem Titel “Zu Gast bei Feinden – Rassismus in deutschen Fußballstadien” von rassistischen Gesängen und kam zu dem Schluss: “Es gibt sehr viele [rassistische Stadionbesucher], und sie lassen sich nur schwer erfassen und aussperren.”
Die Fernsehbilder und Fotostrecken, mit denen derzeit die Berichte über das “Sommermärchen” und die Hoffnung auf eine ähnliche Stimmung unterlegt werden, zeigen vor allem feiernde Menschenmassen aus der Vogelperspektive, so als wollte man gar nicht so genau sehen, was in dem ganzen Tumult eigentlich passierte. Würde man genau hinschauen, würde man auch in den taumelnd feiernden Menschenmengen von 2006 Nationalismus, rassistische Weltbilder und homophobe Anfeindungen finden. Der Vorsitzende des Vereins “Gesicht Zeigen” erklärte nach dem vermeintlichen Sommermärchen 2006, es habe nur mit Glück keine Toten bei rassistischen Übergriffen während des Turniers gegeben.
„Uns macht das Angst“
Die omnipräsenten Deutschlandfahnen und der vermeintlich unproblematische Nationalstolz des Sommers 2006 sind nicht zu trennen vom Einzug der AfD in den Bundestag ungefähr 11 Jahre später. Und längst nicht allen war der sogenannte “Party-Patriotismus” geheuer. Das wird auch in der aktuellen ARD-Dokumentation “Einigkeit und Recht und Vielfalt – Die Nationalmannschaft” deutlich. Darin sieht man zwar, dass es nicht nur weiße Deutsche waren, die 2006 Stolz auf Deutschland empfanden und feierten, aber darin erzählt auch der Soziologieprofessor Aladin El-Mafaalani von jüdischen Freund*innen, die im Angesicht des scheinbar unproblematischen Nationalstolzes in Deutschland sagten: “Uns macht das Angst.” Oder um es mit den Worten zu sagen, die eine Figur des Romans “Zwischen den Dörfern auf hundert” von Lars Werner für die WM 2006 übrig hat: “Irgendetwas verändert sich. Und es verändert sich gegen uns.”
Natürlich geht es denjenigen, die sich eine Stimmung wie 2006 erhoffen, nicht allein um ein friedliches Feiern der Europameisterschaft, sondern um mehr. Der Volkssport Fußball habe – so die Erzählung, die sich in den letzten 20 Jahren etabliert hat – 2006 das Land geeint, und was erscheint dieser Tage drängender als Einigkeit? Recht und Freiheit lassen sich zumindest institutionell gut festschreiben, Einigkeit lässt sich nicht erzwingen, vor allem nicht für alle. Auch damals nicht. Das zeigt nicht zuletzt die Dokumentation der ARD. Die Tatsache, dass die bundesdeutsche Gesellschaft heute weit weniger einig scheint als vor 18 Jahren nach der Weltmeisterschaft, ist daher eine gute Entwicklung.
Das gilt vor allem, wenn es um den Umgang mit Rechtsextremismus geht. Denn dass 2006 nicht in der gleichen Weise gegen Rechtsextremismus protestiert wurde wie heute, hatte nicht damit zu tun, dass von ihm weniger Gefahr ausging. Im Gegenteil, 2006 war die rechtsextreme Terrorgruppe NSU aktiv und es gibt inzwischen zumindest mehrfach geäußerte Hinweise darauf, dass bei den Ermittlungen einer Spur in die rechte Szene im Frühjahr 2006 auch deshalb nicht nachgegangen wurde, weil man das Bild der “Welt zu Gast bei Freunden” im Vorfeld der Weltmeisterschaft nicht beschädigen wollte. Dass 2024 kein Motto der Welt mehr die Tatsache verdrängen kann, dass Rechtsextremismus von mehreren Millionen Menschen deutschlandweit mindestens nicht abgelehnt, wenn nicht gar aktiv befürwortet wird, ist demnach eine gute und bitter nötige Entwicklung. Solche gesesellschaftlichen Tendenzen lassen sich nicht durch grundsätzliche Einigkeit bekämpfen. Auch dass zum Beispiel heute im Unterschied zu 2006 ein gesellschaftlicher Dissens über den Umgang mit Geschlechtsidentitäten herrscht und ein fast absurder Streit darüber, ob man nun inklusiv Gendern sollte oder nicht, hat nichts damit zu tun, dass vor fast 20 Jahren das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und der grundsätzliche Blick auf Identitäten unproblematisch gewesen wäre. Im Gegenteil, es war einfach öffentlich deutlich weniger ein Thema, ob man grundsätzlich alle Geschlechter sichtbar machen sollte und welche das sein könnten.
Dass es im Sommer 2023 eine ausufernde Debatte über Heizungen (!) gab, die teilweise für einen immensen Aufschwung einer mindestens in Teilen rechtsextremen Partei gesorgt hat, liegt auch darin begründet, dass die Bekämpfung der Klimakrise jahrzehntelang gesellschaftlich nicht präsent genug war. Und dass im Februar 2022 das von Putin geführte Russland die Ukraine angriff, hat zwar nichts mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 zu tun, aber zumindest damit, dass damals Putin zumindest offiziell von vielen als Staatsoberhaupt und Öllieferant geschätzt wurde. Das ist ein Grund dafür, dass es heute ganz offiziell einen Krieg in Europa und eine heftige Debatte über den Umgang damit in Deutschland gibt.
Sich ein Sommermärchen wie 2006 zu wünschen, bedeutet also auch, dass man für ein paar Wochen die Sorgen, Debatten und Krisen vergessen möchte, die einen derzeit auf Schritt und Tritt begleiten. Das ist verständlich, aber illusorisch und es wäre auch falsch, denn das würde bedeuten, dass für vier Wochen die Entwicklungen seit 2006 vergessen werden, die diese Themen auf die gesamtgesellschaftliche Tagesordnung gehievt haben. Nur zu sehr dürften sich viele Politiker*innen wünschen, dass für vier Wochen und darüber hinaus die Brisanz der Klimakatastrophe, die Auseinandersetzung mit Rassismus und dem Umgang mit Geflüchteten und anderes in den Hintergrund gerät.
Kein gesunder Patriotismus
Da die Fußball-WM 2006 aber auch grundsätzlich mit einer fröhlichen Feier des Deutschseins verbunden ist, ist ein Wunsch nach dieser Stimmung unvermeidlich auch ein Wunsch nach einem ungezwungenen Umgang mit der nationalen Identität. In Zeiten, in denen bundesweit rassistische Partygesänge angestimmt werden, eine rechtsextreme Partei in einigen Bundesländern stärkste Kraft ist und in manchen Kreisen Umvolkungsfantasien diskutiert werden, kann es aber keine gesunde Feier von Patriotismus und Nationalstolz geben. Eine Deutschlandfahne zu schwenken und laut “Deutschland!” zu rufen, dürfte daher zurecht bei vielen Unbehagen auslösen, auch wenn sie es mit der deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer halten.
Und genau da sind wir an einem schwierigen Punkt und ich bin wieder bei dem jungen Mann, der damals nicht einmal halb so alt war wie ich heute, und vier Wochen lang im Teenagersommertaumel zwischen Parties, erster großer Liebe und Fußballfest lebte. Damals hatte ich kein schlechtes Gefühl dabei. Ich erinnere mich, dass in meinem Umfeld darüber gesprochen wurde, dass das eine – Nationalstolz, der mir auch damals fremd war – und die demonstrative Begeisterung für die deutsche Fußballnationalmannschaft nicht zwingend miteinander zu tun haben. Aber schon damals empfanden viele die schwarz-rot-goldene Party als unangenehm oder sogar bedrohlich.
Und dass die grundsätzliche Behauptung, Nationalismus und sportlicher Party-Patriotismus seien voneinander zu trennen, nicht haltbar ist, haben schon vor zehn Jahren im Kontext der Fußball-WM 2014 Studien ergeben: “Es ist ein schmaler Grat zwischen Party-Patriotismus und gefährlichem Nationalismus.” Wie unübersichtlich dieses diskursive Geflecht aus Fußballbegeisterung, Fantum, Patriotismus und Nationalismus am Ende ist, zeigt auch ein vermeintlich unbedeutender Moment im Podcast “Wir Weltmeister. Auf der Suche nach 2014”, der sich mit der Frage auseinandersetzt, was aus den Weltmeisterspielern von damals wurde und wie die deutsche Nationalmannschaft wieder so erfolgreich werden kann. Auf die zweite Frage antwortet der ehemalige Abwehrspieler Per Mertesacker an einer Stelle: “Vaterlandsliebe gehört bestimmt auch dazu.” Vaterlandsliebe? Muss man als Fußballer das Land, für das man antritt, als “Vaterland” begreifen und muss man es “lieben”, um erfolgreich zu sein?
Wenn man diese Ansicht zu Ende denkt, dann müsste der Bundestrainer Julian Nagelsmann seine Spieler nicht nur nach fußballerischem Können und ihrer Persönlichkeit auswählen, sondern auch nach ihrer Gesinnung. Man muss diese Aussage von Mertesacker nicht zu hoch hängen, aber sie steht für eine verbreitete Perspektive auf die deutsche Fußballnationalmannschaft der Männer, die ein grundsätzliches Problem darstellt: Die Spieler sollen ihr Land repräsentieren, sie sollen für ihr Land spielen. Von den Spielern wird gefordert wieder deutsche Tugenden an den Tag zu legen. Das dringt vor allem in dem Podcast über die WM 2014 durch, wenn es um die Frage geht, was man bräuchte, um wieder erfolgreich zu sein. Natürlich will kaum jemand die deutschen Fußballrüpel der 1980er und 1990er Jahre zurück, aber es klingt allerorten durch, dass man sich wieder auf Leidenschaft und Kampf besinnen müsste, man sei schließlich nicht die Spanier.
Das Märchen
In all dem schwingt mit, dass die deutsche Nationalmannschaft bitte genau das zu sein habe: deutsch. Und das meint in diesem Fall nicht nur einen deutschen Pass zu haben. Dass einem Fünftel der deutschen Bevölkerung diese Mannschaft derzeit nicht “deutsch” genug ist, zeigte eine Umfrage, die für die Dokumentation der ARD erhoben wurde. Demnach wünschen sich 21 Prozent der Befragten, dass die Nationalmannschaft wieder weißer sein sollte und 17 Prozent finden es schade, dass der Kapitän der Mannschaft Ilkay Gündogan türkische Wurzeln hat. Was bedeutet das? Gehört dieses Fünftel der Menschen in Deutschland nicht zu dem Land, das die deutsche Nationalmannschaft repräsentiert?
Wenn doch, dann müssen manche Spieler für ungefähr 12 Millionen Menschen spielen, die sie als Nationalspieler und wahrscheinlich auch als Mitbürger ablehnen. Das funktioniert alles nicht und führt am Ende zu der Erkenntnis, dass die deutsche Fußballnationalmannschaft schlicht und ergreifend aus den Fußballspielern mit deutschem Pass besteht, die in ihrer Sportart am besten sind und als Mannschaft zusammen am besten funktionieren. Und zu der Erkenntnis, dass die deutsche Nationalmannschaft für jede*n etwas anderes darstellt, dass sie aber ganz sicher nicht das Land repräsentiert und das ist – das zeigt die Umfrage leider sehr deutlich – gut so.
Öffentlich dominiert seit 2006 die Erzählung, damals sei das Land für vier Wochen in einem Rausch zusammengekommen und vereint gewesen. Das ist genau das, als was es seitdem bezeichnet wird: ein Märchen. Sich jetzt zu wünschen, 2024 solle werden wie 2006, ist der Wunsch danach, dass ein Märchen wahr wird – das ist verständlich. Aber es drängt sich der Eindruck auf, dass das nicht möglich ist und das ist wahrscheinlich gut so. Ich werde jedenfalls keine Deutschlandflagge auf der Wange tragen, keine Fahne schwenken und bei jedem laut gebrüllten “Deutschland!” zusammenzucken. Für mich wird 2024 also nicht wie 2006 und ich bin sehr froh darüber.
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