Erzählerischer Universalismus – “Adas Raum” von Sharon Dodua Otoo

von Maryam Aras 

 

Da ist er nun, Sharon Dodua Otoos erster Roman Adas Raum. ‚Erster Raum‘, wollen meine Finger zunächst tippen und vielleicht ist das auch gar nicht so falsch. Natürlich gibt es schon diverse Räume in Otoos schriftstellerischem Denkgebäude – ihre Novellen die dinge die ich denke während ich höflich lächle, die im besten Sinne wirklich kaum in einem Nebensatz zu beschreiben ist, und Synchronicity, die Geschichte einer Grafikdesignerin, die nach und nach ihre Farbsehkraft verliert und die mit der Lebensweise ihrer Vormütter, selbstständig schwanger zu werden, zu leben und zu sterben, hadert. Und natürlich ihre preisgekrönte Bachmann-Kurzgeschichte von 2016 Herr Gröttrup setzt sich hin – ein Meister*innenstück sprachlicher Präzision und Ironie, in der ein störrisches Frühstücksei das bürgerliche Idyll des pensionierten Raketeningenieurs Helmut Gröttrup aus den Angeln hebt.

Ebenso wichtig sind Otoos zahlreiche öffentliche Reden und Lectures. In ihrer Bachmann-Rede von 2020 etwa, Dürfen Schwarze Blumen malen, argumentiert sie eindringlich für die Agency und Sichtbarkeit Schwarzer Menschen und Schriftsteller*innen im deutschsprachigen Raum. Sie zeigt Kontinuitäten Schwarzer Autorinnenschaft von May Ayim bis Olivia Wenzel auf und verdeutlicht, wie Sprache zum Mittel der Selbstermächtigung marginalisierter Schreibenden werden kann, und wie diese auch ästhetisch ihre Spuren in der deutschen Sprache hinterlassen können.

Das tut Otoo auch in Adas Raum. Allerdings weniger formalistisch. In nur wenigen Situationen werden Figuren klar als weiß dargestellt. Es gibt kein großgeschriebenes Adjektiv Schwarz als Zeichen einer selbstbewussten Schwarzen Identität und Community-Zugehörigkeit. Diese Aspekte erzählt Otoo intrinsisch mit. Das funktioniert ausgesprochen gut, besonders im zweiten Teil des Romans, in dem sie den Raum für eine Vielzahl an Erzählungen Schwarzer und afrodeutscher Identitäten öffnet.

Die Struktur des Romans ist in sogenannten Schleifen angeordnet und mag auf den ersten Blick etwas vertrackt erscheinen. Aber Otoo verfügt über eine große didaktische Feinfühligkeit. Auch wer ihre Kurzgeschichten noch nicht kennt, wird schnell bemerken, wie viel sie von Aufbau und Leser*innenführung versteht.

In der Vorstellungswelt des Romans gibt es einen Ort, von dem alle Wesen kommen und an den alle zurückkehren. Dieser Ort heißt Gbohiiajeŋ in Ga und Asamando in Akan, zwei westafrikanischen Sprachen/Sprachfamilien. Auch das Wesen Ada kommt von dort, aber wir begegnen ihr meist in einer ihrer vier Erscheinungsformen: 1459 ist sie eine junge Mutter, die innerhalb Westafrikas verschleppt wurde und sich nun in der Dorfgemeinschaft von Totope zurecht finden muss. 1848 ist sie die historische Mathematikerin und Adlige Ada Lovelace, die als erste Programmiererin gilt und in ihrer Residenz in Stratford-le-Bow nicht gerade sehnsüchtig auf ihren Gatten William wartet. Die letzte der drei Adas, die wir im ersten Teil des Romans kennenlernen, ist eine polnische Zwangsprostituierte im KZ Dora-Mittelbau bei Nordhausen. Sie und die anderen Prostituierten in der Baracke 37 sind die Opfer eines perfiden Belohnungssystems der Nazis für KZ-Häftlinge. 

Erzählerisch zusammengehalten werden diese drei Existenzen durch ein weiteres Wesen. Dieses Wesen will unbedingt als Mensch geboren werden, muss sich aber zunächst in sächlichen Erscheinungsformen bewähren: 1459 ist Wesen ein Reisigbesen in Totope, 1848 ein löwenkopfförmiger Türklopfer an Lady Adas Haustür und 1945 ein Zimmer in der Baracke 37 im KZ Mittelbau-Dora, Adas Raum. Wesen erzählt uns zugewandt und meistens allwissend von Adas Leben, Leiden und Werden. 

In der ersten Hälfte wechseln sich die Erzählungen der ersten drei Adas ab. Es sind gleichzeitig persönliche und historische Kämpfe, die Otoo erzählt. Ihre Protagonistinnen müssen ihre Wege finden, immer im Kampf gegen verschiedene Macht- und Unterdrückungsmechanismen. An Tiefe gewinnen die Charaktere auch über die prägnanten Beschreibungen ihrer sozialen Umfelder und ihre Interaktionen mit Nebenfiguren. Die erste Ada im Totope des fünfzehnten Jahrhunderts muss den Tod ihres zweiten Babys verwinden. Dabei hilft ihr ihre Schwester im Geiste, Naa Lamiley. 

Otoo erzählt von den verständnislosen Blicken der Dorfgemeinschaft, die so tiefe Trauer um einen so jungen Menschen für unangemessen zu halten scheint. Sie erzählt auch von der Nähe zwischen Ada und Naa Lamiley, die ihrerseits schon ein Kind verloren hat. Die Erinnerungen an Naa Lamileys Baby Kofi und Adas erstes Kind, das nur wenige Augenblicke lebte, verschwimmen miteinander, so wie die Trauer der beiden Frauen. Wie im Vorbeigehen erfahren wir von der Ehe der beiden älteren Frauen Mami Ashitey und Naa Odarkor. Frauenehen waren im vorkolonialen Ghana eine fest etablierte Form des Zusammenlebens, die auch aber nicht unbedingt sexuell-romantischer Natur sein konnten. Ein historisch-erzählerischer Kommentar der Autorin auf die Verfolgung, der die ghanaische LGBTQ-Community heute ausgesetzt ist.

Mit wenigen Worten beschreibt Otoo die zärtliche Verbindung der Zwei. Dann bricht der Kolonialismus über die Gesellschaft von Totope herein. Hier in Person von Guilherme Fernandes Zarco, einem verarmten portugiesischen Kaufmann, der auf der São Cristóvão unter Kommando des „Seefahrers, Entdeckers und Autors“ Diogo Gomes de Sintra angeheuert hat. Der ist allerdings zu verkatert, um selbst bei Totope an Land zu gehen. Die Ankunft des sonnenverbrannten Portugiesen liest sich chaotisch und ziemlich unherrschaftlich. Doch ihre Folgen sind deshalb nicht weniger fatal: Guilherme entdeckt das Armband mit den goldenen Fruchtbarkeitsperlen, das Ada der Leiche ihres Babys mitgeben möchte. Er will es an sich bringen und erschießt Ada. Die Reise des Armbands beginnt und mit ihr die Geschichte des Kolonialismus in Westafrika.

Die historische Ada Lovelace hat bei Otoo ein (fiktionales) Verhältnis mit Charles Dickens. Der ist zwar eine willkommene Abwechslung zu ihrem Ehemann William. Aber auch der Schriftsteller entpuppt sich gegenüber der brillanten Mathematikerin als ein hoffnungsloser Mansplainer. Otoo justiert die Sprache Lady Adas zu der vorigen Ada leicht und schlägt einen elaborierten, spöttischen Tonfall an:

Ich hätte den Streit mit ihm vermeiden können, wenn ich ihm uneingeschränkt recht gegeben hätte. Das pflegte ich meist zu tun, denn es war äußerst strapaziös, gerade in jenen Zeiten, Dispute mit Männern wie Charles zu führen. Männer, die sich eigentlich für »die Guten« hielten, doch – zwischen den Schwarzen auf der einen Seite und den Frauen auf der anderen – nicht mehr wussten, woher die nächste Anfechtung ihrer gottgegebenen Autorität kommen würde und deswegen vorauseilend an allen Fronten kämpften. […] 

Er hielt eine meiner Berechnungen für die »Analytische Maschine« in der Hand. Seine Lesebrille balancierte auf der Spitze seiner Nase. »Hmm.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf eine der Zeilen. Eventuell war es da schon ungeschickt gewesen, nicht auf ihn reagiert zu haben. »Hier hast du einen Fehler gemacht«, sagte er. »Da fehlt ein Komma.« Ich hatte die Stelle angeschaut, ohne meinen Kopf zu bewegen – dann zurück zu ihm. Ich entschied mich für die Antwort: »Danke, mein Schatz.«

Lady Ada ist aber nicht nur benachteiligt von der Zeit und Gesellschaft, in der sie lebt. Sie übt auch Macht aus, und gerade in diesen Details liegt Otoos erzählerische Vielschichtigkeit: Einerseits pflegt Lovelace ein gutes Verhältnis zu ihrer irischen Zofe Lizzie, andererseits ist sie zu sehr befangen in ihrem eigenen Standesdünkel, um Lizzie als gleichberechtigten Menschen wahrzunehmen. Sie macht einen Witz darüber Kartoffeln essen zu wollen, obwohl sie um die Geschichte der Kartoffelfäule in Irland, Lizzies Flucht aus ihrer Heimat und dem Hungertod deren Eltern weiß. Lizzie ist tief verletzt. 

Otoo gelingt es auf beeindruckende Weise zu veranschaulichen, wie Konstruktionen von Macht und Alterität immer wieder neu, immer wieder anders zusammengesetzt sind, und doch universell funktionieren. Im England des neunzehnten Jahrhunderts sind die Benachteiligten nicht nur Frauen, sondern auch die Geflüchteten aus Irland. 1945 bei Nordhausen sind es die Prostituierten, die – streng beobachtet von den Nazi-Herren – den KZ-Häftlingen zu dienen haben. Es sind eben nicht nur „weiße Männer“, die auf der Täterseite stehen, wie Carsten Hueck es nur schwer nachvollziehbar und verkürzt in seiner Rezension in DLF Kultur behauptet. 

Noch deutlicher treten diverse Konstruktionen von Alterität und deren Komplexitäten im letzten Teil des Romans hervor. In Adas Welt 1945 findet die Autorin wieder eine besondere, mal drastische, mal sehr behutsame Sprache für den Schrecken des KZs und den Alltag der Zwangsprostituierten. Mit Adas Freundin Linde ergänzt Otoo die Geschichte einer deutschen Frau, die durch ihre Verlobung mit einem Mann, der einen jüdischen Vater hatte, ins KZ kam. Auch hier ist es die Gemeinschaft, die Halt inmitten des unsagbaren Horrors gibt. Das Armband taucht in Dora durch einen Kapo auf, der es aus den geraubten Besitztümern der KZ-Häftlinge fischt und Linde als Bezahlung für ihre Dienste übergibt. Auch in dieser Schleife ihres Daseins wird Ada schließlich von einem Wilhelm erschossen.

Durch kleine Hinweise deutet Otoo an, dass Adas Gedächtnis über die Jahrhunderte langsam wächst. Das erzählende Wesen diskutiert die Ereignisse mit Gott, die/der/they mal in unterschiedlichen Körpern auftritt, mal eine Brise ist. Aber immer berlinert. Wilhelm, so stellt sich später heraus, ist wie Ada ein Wesen in vielen Erscheinungsformen.

Im zweiten Teil des Romans wird das erzählende Wesen schließlich ein britischer Reisepass. Adas Reisepass. Die vierte Ada ist eigentlich Ghanaerin aus Accra. Ihr Vater hat lange in Europa gelebt und nun soll Ada nach Deutschland, um dort Informatik zu studieren. Die Hoffnungen der ganzen Familie lasten auf ihr. Noch ist Adas Reisepass ein Privileg, aber der Brexit kündigt sich bereits an. In Berlin kann sie zunächst bei ihrer Halbschwester Elle unterkommen. Bis die vor zweieinhalb Jahren plötzlich in Accra auftauchte, wusste Ada nicht mal, dass sie eine Halbschwester hat. Der Vater hatte über sein Leben in Europa und über den frühen Tod von Adas Mutter bei einem Hausbrand in London nie viele Wort verloren. Als Elle in Accra ankommt, rufen die Nachbarskinder ihr Blofono (Weiße) hinterher. In Berlin ist Elle, die eine weiße Mutter hat, Schwarz. Auch für Ada beginnt ihr Dasein in Berlin damit, dass ein weißes Paar sie am Flughafen zu der Passkontrolle für Nicht-EU-Bürger*innen schickt: „In Ghana wurde Ada schleichend zur Frau und bekam es kaum mit. In Deutschland wurde Ada schlagartig zur Schwarzen und spürte es sofort.“

Mit Elle, Ada und Cash, in den Ada sich bald verliebt, schafft Otoo drei grundverschiedene Charaktere: Elle lebt vegan, kauft am liebsten alles bio, ist chaotisch und redet nicht besonders gerne. Ada ist fleißig und anpassungsfähig. Als Cash in das Café kommt, in dem sie jobbt, sieht sie in ihm – er trägt Sandalen mit Strümpfen – sofort einen Deutschen. Ihre weiße Chefin spricht ihn auf Englisch an, als er seine Club Mate mit Karte zahlen möchte. Den Namen „Cash“ behalten sie bei. 

Es sind kleine Situationen wie diese, mit denen Otoo verdeutlicht, wie es sich anfühlt Schwarz im Deutschland der Gegenwart zu sein – oder zu werden. Es gibt auch drastischere Situationen. Sehr lebendig schildert die Autorin die mal explizite, mal stillschweigende Kommunikation zwischen den ungleichen Schwestern über ihre Außenwelt. Alle Teile der Erzählung fließen jetzt ineinander. Ada ist schwanger geworden und die Wohnungssuche wird für sie dadurch nicht leichter. Alltägliche Probleme Schwarzer Menschen. 

Otoos Roman erscheint in dieser Hinsicht  authentisch. Gerade deshalb wird ihr Werk sicher auch zum Lackmustest werden, wie die weiße Mehrheitsgesellschaft mit ihrem unschönen Spiegelbild umgeht, das ihr aus der Erfahrungswelt der sehr verschiedenen Schwarzen Protagonist*innen zurückgeworfen wird. Bisher überwiegen, berechtigterweise, die positiven Kritiken. Es gibt aber auch solche wie die von Hueck, die nicht bereit sind, die Vielschichtigkeit der geschilderten Mechanismen von Macht und Unterdrückung zu erkennen. Katharina Borchardt, SWR-Kritikerin, findet gar, Otoo stelle „Deutsche“ meist „dümmlich oder streng“ dar. „Langweilig“ sei das, sagt die Weltempfänger-Jurorin:

 Und auch die wohlfeile Generalverurteilung der Deutschen als fremdenfeindlich trägt nicht wirklich. Da sagt zum Beispiel Adas deutsche Halbschwester Elle: (S. 216) „Weißt du denn nichts über Deutschland, Ada? Hier wurde doch versucht, alle mehrsprachigen Menschen zu töten.“ […] „Ich weiß gar nicht, warum ich in der Vergangenheitsform spreche“, murmelte sie. „Eigentlich machen sie es immer noch.“ An dieser und an einigen anderen Stellen im Text liegt die – antirassistische, antikoloniale und auch feministische – Botschaft der Autorin zu platt obenauf.

Was an diesem fiktiven Dialog von zwei Schwarzen Frauen in Deutschland langweilig oder unauthentisch sei, bleibt Borchardt schuldig und verlässt sich wohl auf ein beipflichtendes imaginiert weißes Publikum (abgesehen davon, dass hier im Eingangszitat „Deutsche“ gesagt und Weiße gemeint werden).

Teile einer solchen Kritik, gesendet zwei Tage nach dem ersten Jahrestag des Attentats von Hanau sind bedenklich, mindestens. Sie übersehen vor allem, worum es in diesem Teil des Romans geht: darum, einen Raum für verschiedenste Erzählungen Schwarzer Identitäten zu öffnen. Und worum es hier gerade mal nicht geht: um weiße Menschen und ihre Perspektiven. Sie sei gerne politisch, sagt Otoo. Problematisch sei nur, dass wenn sie etwas schreibe, das versuche, der Normalität entgegen zu treten, dies dann als ‘politisch’ gelabelt werde. Wohingegen ‘Neutralität’ als schriftstellerische Position auch politisch sei. ”Neutralität bedeutet, dass man die machtvolleren Positionen in einer Gesellschaft unterstützt.” Ohnehin ist sie auch ihrem weißen Publikum einen großen, einen riesenhaften Schritt entgegengekommen. Ihre fluide Konstruktion der vierfachen Ada, die fünf Jahrhunderte umspannt, nimmt sich der westafrikanischen, der deutschen und britischen Geschichte an. Otoos Erzählung ist von einem Universalismus, der in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seinesgleichen sucht.

 

Photo by Steve Halama on Unsplash

 

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