von Maximilian John
Warum sammelt Mario im Spiel Super Mario Bros. (1985) und fast allen 2D-Nachfolgern Münzen und keine Früchte? 2010 beantwortete Shigeru Miyamoto, kreativer Kopf hinter vielen Nintendo-Serien wie Mario, The Legend of Zelda oder Pikmin, die Frage in einem Interview mit dem mittlerweile verstorbenen Nintendochef Saturo Iwata. Zwar waren Früchte als Sammelobjekt im Gespräch, doch Miyamoto befürchtete, dass Spieler*innen verwirrt werden könnten und versuchen würden, diese Früchte zu meiden: „Als wir dann über etwas nachdachten, das jede*r sehen würde und denkt ‘Ich will das haben’, kamen wir drauf, ‘Ja, es muss Geld sein.’“
Es handelte sich also in erster Linie nicht um eine ästhetische Entscheidung. Die Fragestellung war vielmehr: Wie kann Spieler*innen vermittelt werden, dass es sich um ein Objekt handelt, das nicht gemieden, sondern aktiv eingesammelt werden soll? Geld, mit seiner weltweit fast durchgehend positiven Konnotation, wenn es um eigenen persönlichen Wohlstand geht, löst dieses Problem. Indem die semiotische Qualität von Münzen als begehrenswerter Gegenstand genutzt wird, kann eines der wichtigsten Spielelemente der Mario-Spiele instinktiv vermittelt und anschließend selbst erschlossen werden – jede Münze erhöht den Highscore, 100 Münzen bescheren ein zusätzliches Leben. Die Vermittlung geschieht organisch und das Element muss nicht gesondert erklärt werden.
Aus einem ähnlichen Grund nutzte der Egoshooter Doom (1993) zunächst Verbandskästen mit roten Kreuzen als Item, mit dem die Spielfigur ihre Lebenspunkte wieder auffüllen kann (aufgrund eines Rechtsanspruchs des Roten Kreuzes wurden diese in späteren Versionen des Spiels durch Pillen oder grüne Kreuze ersetzt). In beiden Beispielen wird ein Gegenstand aus der Realität mit einer bestimmten Konnotation in die Spielwelt übertragen und lässt so einen Schluss über seine Funktion in dieser Spielwelt zu.
Diese Beispiele sind in ihren simplen Ausführungen brillant und langfristig einflussreich. Allerdings lässt sich das Prinzip nicht immer auf alle Elemente einer Spielsituation übertragen, nicht einmal innerhalb der bereits erwähnten Spiele. Da sind etwa in Super Mario Bros. die (mittlerweile ikonisch gewordenen) Pilze, die Mario entweder größer werden lassen oder ein zusätzliches Leben bescheren. Aus dem Item Pilz ist nicht direkt ersichtlich, ob es ein Powerup, also ein Objekt, das eingesammelt werden sollte, oder eine Gefahr darstellt – insbesondere in späteren Spielen, in denen der Pilz dem giftigen Fliegenpilz in der Farbgebung sehr ähnlich sieht.
Während des Spielens bilden sich allerdings neue Assoziationen. Der anfangs noch zweideutige Pilz wird im Laufe des Spiels zum positiven Item, da das Einsammeln in jedem Fall einen Vorteil im Spielverlauf beschert. Diese positive Assoziation lässt sich anschließend auf spätere Teile der Reihe übertragen: Fast 30 Jahre später funktioniert der Pilz in New Super Mario Bros. 2 (2012) genauso wie im ersten Spiel. Auch bei anderen Elementen, etwa dem Hüpfen auf Gegner um diese zu besiegen, ist das der Fall. Erlernte Spielstrategien lassen sich von einem Spiel auf ein anderes übertragen.
Zugegebenermaßen handelt es sich bei New Super Mario Bros. um ein Spiel, das sehr stark und explizit an die älteren Teile der Reihe angelegt ist. Dass sich erlernte Assoziationen und Spielstrategien also fast vollständig übertragen lassen, ist nicht verwunderlich. Diese Art von angelernter Assoziation gibt es aber nicht nur innerhalb einer Reihe, sondern über ganze Genres oder sogar das ganze Medium hinweg. Im Laufe der Videospielgeschichte haben sich einige solcher übergreifender Assoziationen gebildet.
Es ist eines der größten Klischees in Videospielen, dass Fässer explodieren. Ganz egal ob im bereits erwähnten Doom, das die die explodierenden Fässer popularisierte, knapp zehn Jahre später im Thirdperson-Actionspiel Resident Evil 4 (2004) oder nochmal über zehn Jahre später im Mobilegame Crashy Cats (2017): Fässer, die umgeworfen, beschossen oder in irgendeiner Art und Weise beschädigt werden, explodieren und richten in der Umgebung Schaden an. Dieser Umstand ist so sehr in die DNA von Videospielen eingeschrieben, dass es zu Irritationen führen kann, wenn Fässer bei Beschuss nicht explodieren. Dabei reicht es schon, wenn ein Fass nicht sofort explodiert, sondern wie etwa in Half-Life 2 erst mit Verzögerung oder in der Hitman-World-of-Assassination-Trilogie zunächst mit einem Schraubenzieher beschädigt werden muss.
Der Vorteil dieser Klischees bzw. erlernter Assoziationen ist, dass Videospieler*innen mit einer gewissen Erfahrung bei neuen Spielen nicht alles von Neuem lernen müssen, sondern ein intuitives Wissen, um die Gegebenheiten der Spielwelt von vornherein mitbringen und somit einige Elemente schon von Beginn an verstehen. Der Einsatz funktioniert also ähnlich wie die Münzen in Super Mario Bros.: Es gibt eine Assoziation, die es erlaubt, das Spielelement organisch zu vermitteln.
Zudem erleichtert der Einsatz den Spieleinstieg. Ähnlich wie bei genormten Tastenbelegungen in bestimmten Genres (bei Shootern etwa ist die Taste zum Schießen die linke Maustaste oder die hintere rechte Schultertaste am Controller) müssen Spieler*innen sich nicht umgewöhnen, sondern können sich leichter auf die genuin neuen (oder zumindest auf die neue Kombination bekannter) Spielelemente eines Spiels konzentrieren oder gleich mit einem Gefühl der Spielbeherrschung in das Spiel starten.
Darüber hinaus kann eine Erwartung allerdings auch bewusst gebrochen werden, wie etwa in Super Mario Bros. 2 (in Europa und den USA Jahre später als Super Mario Bros. The Lost Levels erschienen). Das Spiel richtet sich explizit an Spieler*innen, die das erste Spiel bereits abgeschlossen haben, also mit der Funktionsweise der Pilze vertraut sind. Als eines der wenigen neuen Items gibt es einen Pilz, der Spieler*innen bei Berührung ein Leben kostet, diesen Pilz einzusammeln hat also eindeutig negative Konsequenzen. Durch die andere Farbgebung ist zumindest der Unterschied direkt ersichtlich. Was allerdings nicht ersichtlich ist, ist die Auswirkung des giftigen Pilzes. Da Pilze im ersten Spiel nur als Power-Up aufgetreten sind, liegt allerdings die Erwartung nah, dass diese neue Art von Pilz ebenfalls eine positive Auswirkung hat. Das Spiel stellt den Spieler*innen eine Falle, die nur durch die Vorkenntnis zuschnappen kann.
All diesen Vorteilen und Chancen steht allerdings ein erheblicher Nachteil entgegen: Der Einsatz etablierter Elemente erhöht (zumindest potentiell) die Einstiegshürde für Spieler*innen, die weniger Erfahrung mit dem Medium Videospiel haben. Explodierende Fässer sind relativ schnell erklärt. Viele Videospiele geben sich aber nicht mehr die Mühe, dieses Spielelement extra zu erklären. Und so gibt es viele (meist kleinere) Aspekte, die für Menschen mit mehr Videospielerfahrung selbstverständlich sind, in der Summe aber eben den Zugang zum Medium erschweren.
Diese Art, Spielelemente mittels (antrainierter) Assoziationen zu leiten ist allerdings nur ein Werkzeug unter vielen, Spieler*innen in eine vom Entwickler*innenteam bestimmte Richtung zu stoßen. Manche Methoden funktionieren auf einer viel intuitiveren Ebene statt. Besonders deutlich wird dies bei der Spieler*innenführung.
In vielen Spielen ist die Richtung, die die Spielfigur einschlagen muss, eindeutig bestimmt. Jedoch unterscheiden sich die Spiele sehr stark in dem Aspekt, wie sie diese Richtung vermitteln. In den meisten 2D-Super-Mario-Leveln müssen die Spieler*innen ein Ziel am rechten Ende des Levels erreichen. Die Vermittlung dieser Struktur ist dabei so radikal wie aus heutiger Sicht unelegant: Es ist der Spielfigur schlicht nicht möglich, den Bildschirmrand auf der linken Seite zu verlassen. Es existiert eine unsichtbare Wand, die nicht überwunden werden kann. Im ersten Super Mario Bros. und dem direkten Vorgänger bewegte sich diese Wand zudem mit: Ein bereits überwundener Levelabschnitt, der nicht mehr auf dem Bildschirm zu sehen war, kann nicht erneut betreten werden.
Diese unsichtbaren Wände waren über lange Zeit ein fester Bestandteil der Videospiellandschaft, häufig in noch uneleganteren Umsetzungen: Statt am Rand des Bildschirms befanden sich diese Wände häufig an physikalisch vollkommen unsinnigen Orten. Im besten Fall blieb die Spielfigur an einem Gegenstand hängen, den sie in der echten Welt leicht umgehen könnte. Im schlechtesten Fall befand sich diese Wand mitten in der Landschaft und es gab keinen Anhaltspunkt, warum die Spielfigur sich nicht weiter bewegen konnte.
Relativ schnell entwickelte sich der Trend, diese unsichtbaren Wände durch natürliche Grenzen der Spielwelt zu ersetzen. In den frühen The-Legend-of-Zelda-Spielen etwa sind um die Spielwelt herum unüberwindbare Berge. Doch auch diese Methode war nicht unbedingt immer elegant: In vielen Shootern der 00er Jahre war es fast schon klischeehaft, wie oft sich Spieler*innen durch Gänge voller abgeschlossener Türen schießen mussten. Die Grenzen, die aus der Spiellogik heraus eigentlich überwindbar sein müssten, waren nur minimal weniger immersionsbrechend als unsichtbare Wände. Allerdings gab es auch durchaus positive Beispiele, wie etwa Bioshock Infinite (2013). Die Welt dieses Spiels ist eine fliegende Stadt. Die Grenzen der Spielwelt waren innerhalb der Spiellogik schlüssig.
Es ist allerdings nicht in jedem Spiel möglich diese Art von natürlichen Grenzen zu schaffen. Eine weitere Möglichkeit, um den Bruch der Immersion zu umgehen, ist es Spieler*innen intuitiver zu führen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Parcour-Spiel Mirror’s Edge (2008). Der Handlungsort ist eine Großstadt, durch die sich die Protagonistin Faith durch akrobatische Manöver bewegen muss. Die Level sind nicht besonders ausladend, sie sind sogar ziemlich eng. Aber sie wirken auf den ersten Blick nicht so. Die Level wirken (zumindest an den meisten Stellen) wie eine natürlich gebaute Stadt, obwohl es eindeutige Grenzen gibt.
Das Spiel hätte leicht zu einem Trial-and-Error-Spiel werden können, in dem Spieler*innen von den vielen scheinbar möglichen Wegen den einen möglichen Weg finden müssen. Mirror’s Edge nutzt allerdings einen grafischen Trick: In der zum Großteil weiß und grau gehaltenen Stadt erscheinen rote, also grafisch abgehobene, Elemente, die Spieler*innen den Weg weisen. Durch die Andersartigkeit wird die Aufmerksamkeit der Spieler*innen auf diese Elemente gelenkt. So findet schnell eine Assoziation zwischen roter Farbe und Fortkommen im Level statt.
Das Problem an diesem Ansatz ist, dass diese rote Farbe durchgehend darauf hinweist, wie artifiziell das Level ist. Bei Mirror’s Edge wird der Effekt etwas abgeschwächt, in dem die rote Farbe sehr stark in die markante Ästhetik des Spiels eingebunden ist. Bei weniger markanten Ästhetiken, etwa bei Spielen, die eine möglichst realitätsnahe grafische Darstellung anstreben, ist es schwieriger. Doch auch hier haben sich Praktiken entwickelt, um Spieler*innen intuitiv zu führen, in dem die Aufmerksamkeit in eine Richtung gelenkt wird, etwa in Form von Explosionen, besonders markanten Strukturen oder aber schlicht der Position von Gegner*innen.
Das bisher beschriebene gilt vor allem für Spiele mit einer gekapselten Spielstruktur mit in sich geschlossenen Abschnitten. In offeneren Spielen ist die Führung der Spieler*innen deutlich komplizierter und aufwändiger und ist selten besonders intuitiv gelungen. Viele Spiele nutzen Markierungen oder Wegweiser. Zwar gibt es durchaus Spiele, wie etwa Ghosts of Tsushima oder The Legend of Zelda: Breath of the Wild, die diese Navigation in die Logik ihrer Spielwelt einbauen, es bleiben allerdings Overlays, die sich über das eigentliche Spiel legen. Für unerfahrene Spieler*innen funktioniert dies allerdings deutlich besser, als etwa die kryptischen Beschreibungen in der Urfassung von World of Warcraft (2004), die teilweise schon eine tiefe Kenntnis des Spiels voraussetzten, um sich in der Spielwelt bewegen zu können.
Neben den hier beschriebenen oberflächlichen Ansätzen gibt es noch viel mehr Methoden, Spieler*innen in eine bestimmte Richtung zu stoßen – sei es innerhalb der Spielwelt oder in bestimmten Spielelementen. Alle diese Elemente verbindet, dass sie Spieler*innen den Einstieg oder das Fortkommen im Spiel erleichtern, ohne dabei den Spielfluss und die Immersion zu unterbrechen.
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