Fun ist ein Stahlband – Über das Spiel „Factorio“

von Matthias Warkus

Eines der Computerspiele, das in den ersten Wellen der Pandemie eine große Konjunktur erlebte (neben etwa Animal Crossing: New Horizons und Stardew Valley), ist Factorio. Das mag am Release der Version 1.0 im August 2020 liegen (nach vielen Jahren Early Access und Alpha-Versionen), aber auch am unbestreitbaren Zeittotschlagwert. Wenn man den Statistiken glauben darf, hat die durchschnittliche Spieler*in über 176 Stunden mit Factorio verbracht. (Zum Vergleich: Der Shooter Far Cry 5 bringt es auf gerade einmal 39 Stunden.)

Factorio ist – das sage ich als jemand, der seit dem Frühjahr 2020 gut 280 Stunden damit verbracht hat – gleichzeitig sehr befriedigend und sehr bedrückend. Ich vermute, diese zwiespältige Erfahrung habe nicht nur ich gemacht, und daher habe ich einmal versucht, aufzuschreiben, was genau sie ausmacht.

Dabei lässt es sich leider nicht vermeiden, eingehend Details der Spielmechanik zu diskutieren.* Factorio ist in gewisser Weise ein Aufbaustrategiespiel, aber es ist völlig anders als andere Aufbaustrategiespiele. Wenn wir an so etwas wie Sim City oder seinen spirituellen Nachfolger Cities: Skylines denken, dann ist das, was das Spiel charakterisiert, eine »Götterperspektive« (»God’s Eye View«). Ich kann als Spieler alles, was ich bisher erschaffen und entdeckt habe, in der Vogelperspektive überblicken, überall hinscrollen und dort Straßen, Leitungen oder Baugebiete platzieren.

In Factorio kann ich nicht überall hinscrollen, sondern ich muss eine kleine, namenlose Spielfigur (»The Engineer«) über die Karte bewegen. Aktionen in der Welt wie manuelles Abbauen von Ressourcen, Platzieren oder Wegnehmen von Gebäuden sind nur jeweils in einem bestimmten Umkreis der Figur möglich. Die Figur selbst kann auch »zu Fuß« Herstellungsprozesse ausführen, wie zum Beispiel aus Eisen Zahnräder oder aus Kupfer und Holz einen Strommasten herstellen.

Das Spiel beginnt damit, dass man von Hand, sozusagen mit nichts als einem Hämmerchen, erste Ressourcen abbaut, einen Ofen platziert und damit aus Kohle und Erz Eisen herstellt. Sehr bald gibt es dann Förderbänder, Greifarme und Maschinen, die Abbau, Transport und Produktion automatisieren. Aus verschiedenen Produkten lassen sich zudem »Wissenschaftspakete« zusammenstellen, die in ein Forschungslabor eingespeist werden und die Erforschung neuer Produkte und Gebäude in einem recht komplexen Technologiebaum ermöglichen. Ziel des Spiels ist es (ganz klassisch – man kennt das z.B. von Civilization), eine Rakete zu bauen und zu starten.

Elon Musk ist das Produkt einer Generation, die schon im Grundschulalter zu viele Strategiespiele gespielt hat, bei denen man »die Rakete abschießen« muss, um zu gewinnen

— Überdimensionales Leuchtkreuz (@derwahremawa) August 4, 2020

Für Dynamik sorgen auf dem Weg dahin insektenartige, nestbauende Aliens, die von der Umweltverschmutzung, die die Fabriken der Spieler*in erzeugen, angezogen werden und immer größer und stärker mutieren. Was immer man baut, muss man irgendwann gegen sie verteidigen.

Was Factorio zu Factorio macht, ist dabei zweierlei.

Erstens gibt es einen quantitativen Unterschied zu herkömmlicher Aufbaustrategie, nämlich die nackte Anzahl der erforschbaren Objekte und der schiere Aufwand, der betrieben werden muss, um neue Produkte herzustellen. Um die nötigen Mengen an Ressourcen heranzuschaffen, ist es in der Regel notwendig, Eisenbahnstrecken mit automatisierten Ver- und Entladebahnhöfen oder aber lange Überland-Förderbandstrecken und Pipelines zu bauen. Mit jedem Fortschritt steigt zudem der Bedarf an Vorprodukten wie Eisenplatten, so dass es notwendig wird, ganze Batterien an Erzbohrern und Hochöfen zu betreiben. In der Folge stellen sich immer neue logistische Probleme: Förderbänder und Greifarme haben beispielsweise einen begrenzten Durchsatz. Grundsätzlich hat man nie genug Eisen und Elektronikbauteile, und während der ständigen ungeheuren Steigerung der Produktion, die das Spiel im Wesentlichen ausmacht, wird man immer mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert, wechseln die logistischen Flaschenhälse ständig die Plätze. Dies liegt unter anderem daran, dass die Mengen in den »Rezepten«, nach denen Produkte hergestellt werden, und die Laufzeiten, die die Maschinen dafür benötigen, in krummen Verhältnissen zueinander stehen, die Optimierungsaufgaben also durch das Spieldesign selbst erschwert werden.

Zweitens gibt es einen qualitativen Unterschied, der eben damit zu tun hat, dass die Spieler*in nicht sofort allmächtig ist. In Factorio muss die Allmacht errungen werden. Erst mit der Entdeckung des Radars und durch den Bau von hinreichend vielen Radarstationen wird es möglich, auch abseits der Spielfigur in Echtzeit einen scharfen Blick auf die Karte zu bekommen. Dann entdeckt man irgendwann Drohnen, die Bau- und Wartungsaufgaben verrichten können, und zwar entweder aus dem »Rucksack« der Spieler*in oder aus speziellen Stationsgebäuden heraus. Dies ermöglicht es dann, überall (und nicht bloß im Umkreis der Spielfigur) »Geistergebäude« anzulegen, die über »Blaupausen« auch modulweise vervielfältigt werden können. Die so geplanten Bauwerke werden dann von Drohnen platziert, zerstörte Gebäude automatisch ersetzt und (wenn gewünscht) Bauwerke mit Leistungssteigerungen versehen, soweit die entsprechenden Objekte in der Produktion verfügbar sind. Die »Götterperspektive« ist also keine Prämisse des Spiels, sondern wird erst im Spiel verfügbar, ist im Spiel technisch vermittelt und kann darin genauso wieder verlorengehen.

Zugleich steigen die militärischen Fähigkeiten der Spielfigur ins Unermessliche: Zu Anfang nur mit einer Pistole ausgestattet, ist man im späten Spiel in einem motorisierten und gepanzerten Exoskelett mit einem Energieschild unterwegs, wird von automatischen Lasern auf der Schulter und einem Energieentladungs-System verteidigt, zieht ein Gefolge von schwebenden Kampfrobotern an sich und schießt mit Raketen- und Flammenwerfern. Die ultimative Steigerung der eigenen Kampfkraft besteht dann passenderweise wieder in einer Fähigkeit, die auch in der »God’s Eye View« funktioniert: Schwere Artillerie-Geschütztürme können in riesigem Umkreis auf beliebige Ziele schießen, die sich über die Radarkarte gegebenenfalls völlig unabhängig von der Position der Spielfigur auswählen lassen.

Das späte Spiel von Factorio gleicht daher einer pubertären Machtfantasie wie aus einem Military-Science-Fiction-Roman: Man verwaltet den vollautomatischen Aufbau riesiger Felder von Maschinen und Kraftwerken, vernetzt durch Förderbänder, Greifarme, automatisierte Eisenbahnen und Transportdrohnen, verteidigt durch Lasergeschütztürme, Betonmauern und Minenfelder, die von Drohnen gewartet werden. Dabei lässt man präventiv Artilleriegeschütze auf Alien-Nester am anderen Ende der Welt schießen, und unternimmt, wenn es notwendig ist, mit einem Panzer einen Ausfall, umflackert von Lasern und umschwebt von Kampfrobotern. Dies alles geschieht am Ende eines (wie oben beschrieben) quantitativ und zeitlich enorm aufwändigen technologischen Aufstiegs und fühlt sich daher derartig »wohlverdient« an, dass man vergessen kann, dass nichts an alledem irgendwie »realistisch« ist, sondern alles an arbiträren Parametern hängt: Die Spielfigur kann in ihrer »Tasche« bereits vor jedem Upgrade theoretisch gleichzeitig 1000 Strommasten, 400 Atomreaktoren und 100 Güterzuglokomotiven umhertragen. Förderbänder benötigen im Gegensatz zu Greifarmen weder Treibstoff noch Strom, Pumpen jedoch schon – außer Gewässerpumpen, die Wasser aus Seen ansaugen, die funktionieren ohne. Rohre lassen sich nur im rechten Winkel verlegen, Straßenbeläge auch in 45°-Winkeln, Eisenbahnen in weiten Bögen. Ein Förderband wird aus einem einzelnen Zahnrad und einer Eisenplatte hergestellt. Fahrzeuge fahren mit Holz genauso gut wie mit Kohle oder Festbrennstoff aus Erdöl.

Factorio – Mein anderer Panzer fährt mit Holz

— Überdimensionales Leuchtkreuz (@derwahremawa) April 12, 2020

In seiner Industrial-Ästhetik kostümiert das Spiel letztlich nur eine abstrakte Zahlenpuzzelei. Der Umgang mit logistischen Aufgaben ist auch völlig fern von jedem Realismus: Der Zielzustand, den man nolens volens immer anstrebt, ist, Förderbänder auf ihrer gesamten Länge voller Produkte zu halten, so dass die Maschinen an der Quelle immer nur neue Objekte auflegen können, wenn am Ende welche abgenommen werden. Hier ist nichts »just in time«. Das Arrangieren von Maschinen und vollständig befüllten Förderbändern erinnert am Ende am ehesten noch an das Verdrahten von Schaltkreisen.

Und man tut es allein. Die Vorstellung, Factorio wäre eine vereinfachte Modelleisenbahnversion des Kapitalismus, wie man sie von 90er-Jahre-Spielen wie Transport Tycoon, Der Industriegigant oder Simutrans kennt, vielleicht mit einem militärischeren Akzent, ist falsch. Es gibt bei Factorio keine anderen Menschen, keine Tauschverhältnisse, keine Waren und kein Geld. Es gibt nichts als endlose Ödnis, in die hinein die Fabrik endlos expandiert, und die namenlose, gesichtslose Spielfigur in Helm und Panzerrüstung, die sie beaufsichtigt, ausbaut und repariert. Die einzelnen Vorkommen von Eisen-, Kupfer- und Uranerz, Holz, Stein, Kohle und Öl sind zwar begrenzt, aber da die Karte de facto unendlich groß ist, gibt es immer einen Standort für die nächste Mine und das nächste Ölfeld. Der Mensch auf der Erde ist auf sich selbst und das Zusammenleben mit seinen Mitmenschen zurückgeworfen durch die Kugelgestalt seines Planeten (vgl. Kant, Zum Ewigen Frieden II,3); »The Engineer« in Factorio ist nichts als allein. Der Abschuss der Rakete beendet das Spiel nicht, wenn man nicht möchte. Die Fabrik ist in die Leere hinein eskalierender Selbstzweck, Wille zur Macht; mit Ernst Jünger gesprochen: organische Konstruktion.

Dass Factorio letztlich eine solipsistische Eskalation ist, die nicht Mittel ist, sondern Zweck, und die alles andere Lebende (d.i. die Aliens) ohne bösen Willen, sondern aus rein technischen Gründen hinwegfegt, wird flankiert von einer ganzen Reihe ästhetischer Entscheidungen, die den Willen erkennen lassen, Schönheit und Abgeschlossenheit bewusst zu vermeiden. So ist die grafische Ästhetik absichtlich »gritty« und improvisiert gezeichnet, so dass sich nie die Perfektion und »Cleanness« einstellt, mit denen Aufbaustrategiespiele ihre Spieler*innen in späten Spielphasen tendenziell belohnen (man denke etwa an die Arkologien in Sim City 2000). In Kombination mit dem Dieselpunk-Charakter der dargestellten Technik und der starken Thematisierung von Militärischem fühlt sich bei Factorio daher alles, was man tut, ein wenig an, als täte man es »im Feld«. (Beide Lesarten dieses Ausdrucks, Experimentierfeld und Gefechtsfeld, passen.)

Factorio ist ein Puzzle, in dem ein einzelner menschlicher Wille einen schwindelerregenden Machtaufstieg von der Handarbeiter*in zur allmächtigen, schwer bewaffneten Techno-Imperator*in bewerkstelligt, getrieben von Stahl, Petrochemie, massenproduzierter Munition und glühenden Wiederaufbereitungsanlagen; über Berge toter Rieseninsekten, verdorrte Wälder, eingeebnete Felsklippen und zugeschüttete Meere hinweg. Dieser Machtaufstieg ist zugleich geradezu libidinös und völlig sinnlos.

Die Frage, die sich mit alledem aufdrängt, ist natürlich: Ist Factorio damit ein faschistisches Spiel? Ich würde sagen: trotz allem – nein. Wenn wir etwa die vierzehn Elemente des Urfaschismus nach Umberto Eco als Leitlinie nehmen, finden wir im Spiel nichts wieder, was man damit verbinden könnte: Es gibt keine anderen Menschen, kein Volk, keinen Staat, keine Geschichte, daher auch keine Tradition, keine Geschlossenheit des kollektiven Willens, keinen Konformismus, keine Frustration, keine Einstellung zum Feind, keine Verschwörungen, keine Erziehung, keinen Populismus und keine Sprachpolitik. Eine Zurückweisung der Moderne oder von reflektiertem Denken zugunsten von Spontaneität lässt sich genauso wenig auffinden. Die geradezu existenzialistische, hohle Selbstzweckhaftigkeit des Spielablaufs schlägt sich zudem darin nieder, dass die Spielfigur keinen Namen trägt, das Spiel die Spieler*in nie direkt anspricht und vor allem auch darin, dass die Musik eine Stimmung von dystopischer Verlassenheit verbreitet. Factorio ist zugleich hyperaktiv und völlig desolat, zugleich der Mythos des technischen 20. Jahrhunderts und seine Destruktion. Dazu, dass es so unheimlich viel Spaß macht, dabei mitzumachen, mag sich jede*r Spieler*in selbst das eine oder andere denken.


*Ich diskutiere hier und im Folgenden das unmodifizierte Single-Player-Grundspiel. In Factorio kann nahezu alles gemoddet werden, aber was das im Einzelnen bedeutet und welche Kultur sich damit verbindet, wäre einen gesonderten Beitrag wert.

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner