Geschichte als Waffe – Der französische Wahlkampf und das spanische Mittelalter

von Robert Friedrich 

Die sogenannte „Reconquista“, die mehrere Jahrhunderte andauernde Verdrängung muslimischer Macht von der iberischen Halbinsel, ist als historischer Bezug in spanischen Debatten über Einwanderung und nationale Identität omnipräsent, in Wissenschaft, Medien und Politik. Seit vergangenem Dezember nun dient der Begriff in seiner französischen Entsprechung „Reconquête“ als Namensgeber für die neue Partei des rechtsextremen französischen Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour, der bei der Wahl in diesem Jahr antritt. Der Name ist kein Zufall denn der erfahrene Journalist kennt sich ausreichend mit Geschichte aus, um sich der historischen Bedeutung dieses Begriffs bewusst zu sein.

Sein Geschichtsbild hat der inzwischen zweifach wegen rassistischer Beleidigungen verurteilte Zemmour bereits 2018 in seinem Buch „Le destin français“ („Das französische Schicksal“) ausgebreitet, das einem wilden Ritt durch die französische Geschichte gleicht. Jahrhundertelang sei Frankreich das Zentrum Europas gewesen, werde nun aber zunehmend vom Subjekt zum Objekt der Geschichte. Dabei konstruiert Zemmour das Bild einer heroisch-idealisierten Vergangenheit, die durch politische Eliten, linken Zeitgeist, Gerichte, Wissenschaft, Globalisierung und viele andere Kräfte zerstört wurde und wird. Hugenotten, Aufklärer, Revolutionäre, Feministen und Islamisten, sie alle stehen in seiner Argumentation in derselben Tradition mit dem gemeinsamen Ziel der Zerstörung Frankreichs. 

Zemmour verwendet Geschichte als politische Waffe und verfälscht dabei die historischen Fakten für seine Zwecke, wie der Historiker Laurent Joly in einem Interview mit France24 betonte. Joly ist Autor des Buches „La falsification de l’histoire. Éric Zemmour, l’extrême droite, Vichy et les juifs“ („Die Verfälschung der Geschichte. Éric Zemmour, die extreme Rechte, Vichy und die Juden“, 2022), in dem er sich mit Zemmours Geschichtsbild aus wissenschaftlicher Perspektive befasst. Ebenfalls Anfang dieses Jahres – also mitten im Wahlkampf – ist der schmale Band „Zemmour contre l’histoire“ (“Zemmour gegen die Geschichte”) erschienen, in dem ein Kollektiv aus Historiker*innen die wichtigsten Thesen Zemmours auf den Prüfstand stellt. Seine Perspektive auf die Geschichte charakterisieren sie mit den Worten: „Die Vergangenheit lügen lassen, um in der Gegenwart besser hassen zu können … und so eine hassenswerte Zukunft zu erfinden“. Zemmour dürfte all das ziemlich egal sein, ist für ihn doch die akademische Geschichtswissenschaft ein Teil jener antifranzösischen Eliten, die er zu bekämpfen gedenkt. 

„Reconquista“

Als Vertreter dieser Geschichtswissenschaft mit einem Schwerpunkt zum spanischen Mittelalter, musste ich vor allem bei dem Namen von Zemmours neuer Partei hellhörig werden: „Reconquête“, also „Rückeroberung“. Ein Begriff, der insbesondere im gegenwärtigen Kontext, der historischen Einordnung bedarf. 

Der historische Ausgangspunkt der “Reconquista” liegt am Beginn des 8. Jahrhunderts. Im Jahr 711 überquerte ein muslimisches Heer unter Führung des Berbers Ṭāriq b. Ziyād die Straße von Gibraltar und eroberte in kurzer Zeit große Teile der iberischen Halbinsel und stieß auch in den Süden des heutigen Frankreichs vor. Als Ende dieser muslimischen Expansion gilt die Schlacht von Tours und Poitiers im heutigen Zentralfrankreich im Jahr 732, als ein fränkisches Heer unter Karl Martell die Muslime besiegte. Auch auf der iberischen Halbinsel feierten christliche Heere erste militärische Erfolge. Der Sieg des pseudomythischen Heerführers Pelagius in der Schlacht von Covadonga im Jahr 722 wird heute gern als Auftakt der sogenannten „Reconquista“ gesehen. Gemeinsam mit der Schlacht von Tours und Poitiers ist sie in rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreisen außerdem ein wichtiger Referenzpunkt für eine sogenannte Rettung des Abendlandes vor der vollständigen Islamisierung und damit einer der Momente, die Europa geformt haben sollen. Von beiden Ereignissen wird später noch die Rede sein.

Als „Reconquista“ wird nun die gesamte fast 800-jährige Periode bezeichnet, die 1492 mit der Eroberung von Granada, dem letzten muslimischen Herrschaftsgebiet auf der iberischen Halbinsel, ihren Abschluss fand. In der Geschichtswissenschaft ist der Begriff in den vergangenen Jahrzehnten in Kritik geraten. Bereits 1921 formulierte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883–1955) sein berühmt gewordenes Bonmot: „Wie kann man etwas als Wiedereroberung bezeichnen, was 800 Jahre gedauert hat?“ Und in der Tat kann trotz wiederkehrender Christianisierungsbestrebungen nicht von einem 800 Jahre andauernden Kriegszustand gesprochen werden. Vielmehr gab es immer wieder Phasen, in denen Eroberungen sehr präsent waren und andere, in denen die Territorien weitestgehend stabil blieben.

Darüber hinaus bestand kein einheitlicher Frontverlauf zwischen „den“ Christen und „den“ Muslimen. Vielfach führten die christlichen Reiche untereinander Krieg, oder verbündeten sich mit Muslimen gegen andere Christen. Beispielhaft dafür steht der zum spanischen Nationalhelden gewordene und als Befreier Valencias gefeierte El Cid – dem Amazon gerade eine neue Serie gewidmet hat – mit seinen wechselnden Loyalitäten. Regelmäßig florierten auch die christlich-muslimische Diplomatie und der Austausch in Handel, Kultur und Wissenschaft. Das Bild einer toleranten, multikulturellen Welt, das manchmal vom muslimischen Spanien gezeichnet wird, ist allerdings ebenso falsch, doch das nur am Rande. 

„Reconquista“ als politische Ideologie

Viel wichtiger für die Kritik am Begriff der „Reconquista“ ist allerdings dessen ideologische Bedeutung, die in den heutigen spanischen Debatten sehr präsent ist. Erstmals verwendet wird er auch nicht im Mittelalter, sondern am Ende des 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, als die mittelalterlichen „Befreiungskriege“ gegen die Muslime zu Vorläufern der Befreiung von der napoleonischen Besatzung stilisiert werden. Das 19. Jahrhundert ist dann das Jahrhundert der Nationalbewegungen und der Entstehung der Nationalstaaten. Überall in Europa suchen diese nach Legitimation in der nahen und fernen Vergangenheit und Spanien findet sie in Katholizismus und „Reconquista“. 

Parallel dazu entsteht die akademische Geschichtswissenschaft. In enger Wechselwirkung zwischen Politik und Geschichte wird die „Reconquista“ zugleich zum nationalen Mythos und zum historiographischen Konzept. Die enge Verbindung von Katholizismus und Nationalstaat bietet dabei eine fruchtbare gesellschaftliche Grundlage dafür, die nationale Identität auf dem historischen Kampf gegen Andersgläubige, in diesem Fall Muslime, aufzubauen. Im 19. Jahrhundert entstehen auch bis heute andauernde Traditionen in der populären Festkultur, wie zum Beispiel der regionale Feiertag Valencias (Día de Valencia), der an den Tag der Einnahme der Stadt durch Jakob den Eroberer am 9. Oktober 1238 erinnert. Bis heute werden dort sogenannte „moros-y-christianos“-Feste gefeiert, bei denen der christliche Sieg nachgestellt wird. Diese Feste bilden eine wichtige Grundlage spanischer Identität, auch wenn die Kritik an dieser Form des Erinnerns immer lauter wird.

Größeres realpolitisches Gewicht gewinnt die „Reconquista“ unter Franco. Dessen Staatstreich im Jahr 1936 führt zum Bürgerkrieg und schließlich zu einer fast vier Jahrzehnte andauernden Diktatur. Franco hat dabei die volle Unterstützung der katholischen Kirche, deren Vertreter sich auch nicht scheuen, seinen Staatsstreich als „Kreuzzug“ zu bezeichnen und Franco als „Führer von Gottes Gnaden“ auszurufen. Während die mittelalterliche „Reconquista“ das Land von den Muslimen befreit habe, sei es dem „Reconquistador“ Franco gelungen, andere Feinde wie Kommunisten, Atheisten und Freimaurer aus Spanien zu vertreiben. Der historische Bezug ist dabei nicht nur auf die Person des Diktators beschränkt, sondern wird auch auf andere Symbole, wie die neue Flagge ausgeweitet. Das spanische Wappen hält dort der sogenannte Johannes-Adler, der auch Teil des Wappens der „katholischen Könige“ Ferdinand und Isabella gewesen ist, die mit der Eroberung von Granada 1492 die „Reconquista“ zu ihrem Ende geführt hatten. Franco war es also, der den Prozess des „weaponizing historical knowledge“, wie es der spanische Historiker Alejandro García-Sanjuan nennt, in Bezug auf die „Reconquista“ in Gang setzt.

Nach dem Ende der Franco-Zeit gerät die „Reconquista“ als politische Referenz in Verruf und auch die spanische Geschichtswissenschaft versucht sich an neuen Analysen. Erst in den 1990er Jahren erlebt das Konzept einen neuen Aufschwung in politischen Debatten und unter konservativen Historiker*innen. Dazu braucht es einen neuen Rahmen, der franquistische Nationalkatholizismus hatte ja ausgedient. Diesen Rahmen findet man in Samuel Huntingtons 1993 publizierter These vom „Clash of Civilizations“ („Kampf der Kulturen“). Auf den „Westen“ übertragen bedeutete dies vor allem, dass die künftige Hauptkonfliktlinie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nun vor allem zum Islam verlaufen würde. Entsprechend betonen spanische Konservative nun nicht mehr nur die historische katholische Identität Spaniens, sondern setzen dieser vermehrt das Bild von einem mit den westlich-freiheitlichen Werten inkompatiblem muslimischen Al-Andalus gegenüber. Verstärkt wurde dies durch die Anschläge vom 11. September 2001 und in Spanien insbesondere durch die Madrider Anschläge vom 11. März 2004. 

Zunächst ist es nicht die extreme Rechte, sondern konservative Politiker*innen, die die Idee der „Reconquista“ in diesem Kontext wieder politisch salonfähig machten und für ihre Zwecke nutzen. Am 22. September 2004, ein halbes Jahr nach den Anschlägen in Madrid, hält der ehemalige spanische Ministerpräsident José María Aznar von der konservativen Partido Popular eine Vorlesung in den USA, während der er die Anschläge nicht als Reaktion auf die spanische Teilnahme am Irak-Krieg einordnet. Stattdessen verortet er die Gründe in einer weiter zurückliegenden Vergangenheit: 

„Das Problem, das Spanien mit Al-Qaida und dem islamischen Terrorismus hat, hat nicht mit der Irak-Krise begonnen. In der Tat hat es nichts mit Regierungsentscheidungen zu tun. Man muss nicht weniger als 1.300 Jahre zurückgehen, bis ins frühe achte Jahrhundert, als ein Spanien, das gerade von den Mauren überfallen worden war, sich weigerte, nur ein weiterer Teil der islamischen Welt zu werden, und einen langen Kampf um die Wiedererlangung seiner Identität begann. Dieser „Reconquista“-Prozess war sehr langwierig und dauerte etwa 800 Jahre. Er endete jedoch erfolgreich.“

In den letzten Jahren nun wurde diese neue politische Nutzung der „Reconquista“ von der rechtspopulistischen Partei „Vox“ aufgenommen und zum Kern ihrer antimuslimischen und nationalistischen Arbeit gemacht. Im Jahr 2018 sprach deren Vorsitzender davon, dass die Spanier durch die Erfahrungen der “Reconquista” gegen „muslimische Einwanderung geimpft“ seien. Bereits mehrfach beging die Partei ihren Wahlkampfauftakt in Covadonga, dem Ort, in dem 722 angeblich die „Reconquista“ begann und der so zur Wiege der katholischen spanischen Nation stilisiert werden soll. 

„Weaponizing historical knowledge“

Bereits seit der Renaissance ist das Mittelalter, wie Valentin Groebner in seinem Klassiker „Das Mittelalter hört nicht auf“ gezeigt hat, regelmäßig Gegenstand ganz verschiedener emotional aufgeladener Referenzen. Unter anderem ist es ein wichtiger Identitätsraum für nationale und rechtsextreme Kreise. Während im Nationalsozialismus vor allem die „germanisch-nordische“ Identität von Bedeutung war und der Islam eher als potenzieller Verbündeter im Kampf gegen das Judentum galt, ist seit den 1990er Jahren der Kampf gegen den Islam – Kreuzzüge und Ritterorden – vermehrt im Fokus. 

George W. Bush nannte den Kampf gegen den Terrorismus „Crusade“ und während der Charlottesville-Ausschreitungen verkleideten sich Demonstrierende als Kreuzritter. Auch sieht man in den USA im Phänomen der „religiösen Rechten“ eine enge Verbindung zwischen Nationalismus, anti-muslimischen Rassismus und Religion, wie Annika Brockschmidt kürzlich in ihrem Buch „Amerikas Gotteskrieger“ gezeigt hat. Durch die inzwischen weltweite Vernetzung auch der neuen Rechten ist diese Kreuzzugsrhetorik auch in Europa angekommen. So warb ein AfD-Kreisverband im Landtagswahlkampf 2019 mit dem Slogan „Gott will es“, der in seiner lateinischen Fassung „Deus vult“ als Schlachtruf der Kreuzfahrer Bekanntheit erlangte. Die Liste dieser Beispiele könnten problemlos weitergeführt werden. Nebenbei sei bemerkt, dass in anderer Form Kreuzzug und “Reconquista” auch unter Islamisten wichtige Kampfbegriffe sind. 

Der Rückgriff auf die „Reconquista“ – historisch ein Teil der vielfältigen mittelalterlichen Kreuzzugsbewegungen – zur Legitimation eines Kampfes gegen Muslime war lange auf Spanien beschränkt, hat aber in den letzten Jahren seinen Weg über die Landesgrenzen hinaus gefunden und dort auch heute ganz reale gewaltvolle Konsequenzen: Der norwegische Rechtsterrorist Anders Breivik bezog sich in seinem Pamphlet auf die “Reconquista” als legitimierendes historisches Ereignis. Der neuseeländische Attentäter, der 2019 in Christchurch 50 Menschen erschoss, hatte auf seine Waffen den Namen des pseudo-mythischen asturischen Königs Pelagius, des angeblichen Siegers der Schlacht von Covadonga, geschrieben – und auch jenen Karl Martells. 

Diese internationale Erweiterung der Kreuzzugsrhetorik um die „Reconquista“ bedeutet eine doppelte diskursive Verschiebung. Zum einen ist die Idee auf den ersten Blick harmloser. Während der Kreuzzug meist mit einer bewussten christlichen Aggression verbunden ist, erweckt eine Rückeroberung den Eindruck eines rechtmäßigeren Gewands. Man holt sich nur zurück, was einem ohnehin gehört. Zum anderen geht die Reconquista-Rhetorik aber einen Schritt weiter. Man will sich nicht mehr nur gegen eine drohende Islamisierung verteidigen, sondern die Islamisierung hat schon stattgefunden und Muslime halten das eigene Land besetzt. Damit spiegelt diese rhetorische Erweiterung auch eine andernorts zu beobachtende Entwicklung der Rechten wider. In einer Art Selbstviktimisierung geht es nicht mehr vorrangig darum, sich gegen die Muslime von außen zu verteidigen, sondern darum, sich das eigene Land zurückzuholen, das von Muslimen unterwandert sei. In Deutschland stehen dafür Autoren wie Thilo Sarrazin und ebenso Bewegungen wie Pegida – auch wenn hierzulande der „Reconquista“-Begriff noch keine politische Wirkung entfaltet hat. 

Für Éric Zemmour ist der „Reconquista“-Bezug in seinem Parteinamen nur ein Teil seiner rhetorischen Strategie, die Geschichte für seine politischen Zwecke einzuspannen. Regelmäßig greift er auf verschiedene Elemente einer imaginierten Vergangenheit zurück, um seinen sehr gegenwärtigen politischen Zielen eine vermeintliche historische Legitimität zu verleihen. Für seinen Kampf gegen muslimische Einwanderung ist dies vor allem das Mittelalter, und damit zusammenhängend die „Reconquista“. Zemmours „Reconquête!“ ist ein „Make France great again“ im pseudo-Intellektuellen Gewand und es lohnt, hier noch einmal die Charakterisierung der Autor*innen von „Zemmour gegen die Geschichte“ zu wiederholen: „Die Vergangenheit lügen lassen, um in der Gegenwart besser hassen zu können … und so eine hassenswerte Zukunft zu erfinden“. 

Beitragsbild von Jorge Fernández Salas

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