Schlagwort: Spanien

Sezierte Liebe, leeres Land: Ein Blick auf das spanische Buchmesse-Programm

von Mirjam Ziegler

Wer sind die eingeladenen Autor*innen? Was wurde übersetzt – und was (noch) nicht? Mirjam Ziegler hat sich das Literaturprogramm des Gastlandauftritts auf der Frankfurter Buchmesse genauer angesehen und auf einem Festival in Spanien mit Branchenvertreter*innen gesprochen.

Ein Marktplatz mit Obstständen und ein paar terrazas, eine Bodega und die Kirche – normalerweise gibt es nicht viel zu sehen in Barbastro. Als sich im Mai die spanische Literaturwelt hier zum Festival Barbitania traf, füllte sich die aragonesische Kleinstadt für ein paar Tage mit Leben. Neben Festivalgästen und Zuhörer*innen waren außerdem Branchenvertreter*innen angereist, die an der Fachtagung Otra Mirada teilnahmen. Im Hinblick auf den Buchmesseauftritt waren auch mehrere Gäste aus Deutschland eingeladen. Welche Bücher wurden übersetzt oder könnten für einen deutschen Verlag noch interessant sein? Was ist vom Gastlandauftritt zu erwarten? Zwischen Gesprächsrunden und Vorträgen wurde immer wieder spekuliert: Wer ist nach Frankfurt eingeladen? 

Von den anwesenden Autor*innen, so viel war schon durchgesickert, sind Berna González Harbour mit ihrem Prado-Krimi Goyas Ungeheuer und der gebürtige barbastrense Manuel Vilas dabei, von dem im September Was bleibt, ist die Freude erschienen ist – wie schon in Reise nach Ordesa kehrt er darin an Orte seiner Vergangenheit zurück, wieder voller Nostalgie, aber diesmal weniger schwermütig. Genaueres über das Programm wussten selbst die beiden Vertreterinnen der Buchmesse nicht, bis am 9. Juni im Goethe-Institut Madrid das Geheimnis gelüftet wurde.

Das offizielle Literaturprogramm ist erfreulich vielfältig, doch beginnen wir mit dem vorhersehbaren Part. Jeweils ein neuer Roman erscheint von den alten Herren der spanischen Literatur Javier Cercas, der auch nach Frankfurt kommt, Juan Marsé und Javier Marías. Im letzten Roman des kürzlich verstorbenen Marías’ Tomás Nevinson nimmt ein alternder Spion (für Fans: der Ehemann der Protagonistin seines letzten Romans Berta Isla) doch noch einen letzten Auftrag an und verstrickt sich dabei in ein erotisches Abenteuer. Von Juan Marsé wurde ein Roman aus dem Jahr 1990 übersetzt: In Der zweisprachige Liebhaber wird das Ego des Protagonisten schlimm angegriffen, als seine Ehefrau mit einem Schuhputzer fremdgeht. Lediglich Javier Cercas nimmt im zweiten Band seiner Terra Alta-Reihe Bezug auf die Gegenwart: Die Erpressung, im spanischen Original Independencia, spielt auf den katalanischen procès an. Die Bürgermeisterin von Barcelona wird erpresst, die Ermittlungen führen hinter die manierliche Fassade populistischer Politiker. Cercas zeichnet ein brutales Bild einer korrupten „Elite“, die für ihre eigenen Zwecke die Demokratie aufs Spiel setzt.

Literatur in vier Sprachen

Der in Extremadura geborene und in Katalonien aufgewachsene Cercas schreibt auf Spanisch, doch die Auswahl der eingeladenen Autor*innen spiegelt die mehrsprachige Realität Spaniens wider: 25 % schreiben in einer der drei anderen offiziellen Sprachen. Auf Galicisch etwa Manuel Rivas, den man in Deutschland für im Spanischen Bürgerkrieg angesiedelte Geschichten wie Der Bleistift des Zimmermanns kennt, wobei in den letzten Jahren kein weiteres Buch dieses produktiven Autors übersetzt wurde. Auf Baskisch schreibt Bernardo Atxaga, von dem der Unionsverlag gleich zwei Romane neu auflegt: Ein Mann allein ist ein Thriller über einen Aussteiger aus dem Terrorismus, der Jahre später noch davon verfolgt wird. Ganz anders ist Obabakoak oder Das Gänsespiel, in dem er in lockerem Ton über den skurrilen Fantasieort Obaba fabuliert. Anders als Atxaga schreibt der derzeit berühmteste baskische Schriftsteller auf Spanisch – übrigens lebt er seit fast vierzig Jahren in Hannover: Fans von Fernando Aramburu (Patria) können sich auf den Roman Die Mauersegler freuen, dessen vereinsamter Protagonist der Welt nichts mehr abgewinnen kann und beschließt, sich in genau einem Jahr das Leben zu nehmen. Entsprechend besteht der Roman aus 365 kurzen Kapiteln, in denen dieser Entschluss ins Wanken gerät.

Und wo sind die Frauen? Sie machen tatsächlich die Hälfte der fast 200 eingeladenen Autor*innen aus – und konzentrieren sich besonders in Katalonien. Die Grande Dame der katalanischen Literatur ist Carme Riera, eine von sieben Frauen unter den aktuell vierzig Mitgliedern der Akademie der spanischen Sprache RAE. Erzählende Prosa schreibt sie auf Katalanisch, Essays auf Spanisch – das sei die natürliche Funktionsweise ihrer Zweisprachigkeit – und übersetzt sich dann selbst in die andere Sprache. Zwei Sprachen zu haben eröffne wunderbare Möglichkeiten, so die gebürtige Mallorquinerin, die seit ihrer Jugend in Barcelona lebt; auch deshalb sieht sie die Unabhängigkeit Kataloniens als Sackgasse. Sieben ihrer Romane sind auf Deutsch erschienen, der letzte 2007, doch es verwundert, dass gerade der Erzählband fehlt, mit dem sie 1975 bekannt wurde: Te deix, amor, la mar com a penyora, („Ich lasse dir, Liebste*r, das Meer als Pfand“) ist längst ein Klassiker der katalanischen Literatur. Seine klare und doch poetische Sprache hat nichts an Kraft verloren, und Riera war damit eine der ersten, die in Spanien über die Liebe zwischen zwei Frauen schrieb. Zusammengehalten werden die Geschichten durch das Meer, das die Figuren, die oft am Rande der Gesellschaft stehen, beeinflusst oder gar beherrscht. Hier gilt es noch eine jüngere Autorin zu erwähnen: Eva Baltasar ist zwar nicht eingeladen, doch in Barbastro erreichte ihren spanischen Verleger Alejandro Dardik (Club Editor) die Nachricht, dass ihr Roman Permafrost bald auf Deutsch erscheint: Die Erzählerin möchte sich auf niemanden einlassen, ihr unabhängiges Leben nicht aufgeben, und schützt sich durch eine Eisschicht, die keine der Frauen durchbrechen darf, mit denen sie Affären hat. Kühl und scharfsinnig beobachtet sie sich selbst und die anderen – unter dem Eis lässt sich jedoch etwas erahnen, worüber sie nicht spricht. In der spanischen Literatur wird Gefühlen vergleichsweise viel Platz eingeräumt, doch Baltasars Sprache ist bemerkenswert unsentimental.

Liebe in Zeiten der Selbstverwirklichung

Unter den anderen auf Katalanisch schreibenden Autorinnen ist noch Marta Orriols hervorzuheben, die einen genauen Blick für das Alltäglich-Unerträgliche in den Beziehungen von urbanitas hat. In ihrem neuen Roman Sanfte Einführung ins Chaos seziert sie ohne Pathos die widersprüchlichen Gefühle eines Paars Anfang dreißig: Die Perspektive wechselt zwischen Marta und Dani, sie sich füreinander entschieden haben, einschließlich Möbeln, Hund und der Einsicht, dass es mit ihrem Freundeskreis nicht mehr so wie früher ist, wenn am Ende eines gemeinsamen Abends die meisten Bierflaschen noch zu sind. Manche Freund*innen haben schon Kinder, und als Marta schwanger wird, scheint für ihn die Sache klar – aber sie will kein Kind in ihrem Leben. Ebenfalls aus wechselnden Perspektiven erzählt Isaac Rosa in Glückliches Ende die Geschichte eines Paars, allerdings rückwärts: Sie beginnt mit dem Auszug des Partners aus der Wohnung der Familie. Anhand von Erinnerungen, die beim Packen aufkommen, geht es zurück bis an den Anfang der Liebe. Der in Madrid ansässige Rosa hat schon mehrere Romane bei verschiedenen deutschen Verlagen veröffentlicht. Verwunderlich, dass gerade Lugar seguro („Ein sicherer Ort“) noch nicht übersetzt wurde, zumal die Hauptfigur ein listiger Bunkerverkäufer ist. Passt diese komische Dystopie nicht sogar besser zu deutschen Befindlichkeiten als zu spanischen, oder nimmt Rosa die Apokalypse nicht ernst genug?

Um jüngere urbanitas geht es bei der 1992 geborenen Lyrikerin Elvira Sastre. Sie hat in Spanien bereits fünf Gedichtbände publiziert, Rupi Kaur ins Spanische übertragen, und füllt mit ihren musikalischen Lesungen Theatersäle. Von ihr erscheinen auf Deutsch der Lyrikband Eines Tages werde ich mich selbst retten sowie ihr erster Roman Die Tage ohne dich. Darin schafft es ein junger Bildhauer mithilfe der Weisheiten seiner Großmutter, über seine erste große Liebe hinwegzukommen. Sastre beobachtet seine Gefühle genau, wobei es manchmal psychologisch explizit und zuweilen kitschig wird. Aus manchen Beschreibungen ergibt sich kein klares Bild („Plötzlich kreischte sie hysterisch, heulte wie ein Wolf bei Vollmond“). Die Großmutter neigt zu großen Worten und klingt recht pädagogisch. Dennoch könnte Elvira Sastre mit ihren so starken wie verletzlichen Figuren bei ihrer Generation auch im deutschsprachigen Raum einen Nerv treffen.

Realitäten am Rand der Städte

Endende Lieben und städtische Einsamkeit sind nicht die einzigen Motive, wenn es um das Leben in der Großstadt geht. Drei Romane zeigen eine Seite von Barcelona, die den Protagonist*innen wenig Raum für Nabelschau lässt. Najat el Hachmi kam mit acht aus Marokko nach Katalonien und wuchs in einem Viertel „am Rand des Stadtrands“ auf, wo die muslimische Gemeinschaft in so enger Nachbarschaft lebte, dass selbst das gegenüberliegende Küchenfenster soziale Kontrolle bedeutete. In ihrem neuen Roman Am Montag werden sie uns lieben erzählt die junge Protagonistin Naima von ihren kleinen Schritten auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Immer wieder nimmt sie sich vor, ab Montag ein besseres Mädchen zu sein, die Erwartungen ihres Umfelds zu erfüllen – bis sie irgendwann merkt, dass sie sich nicht mehr in dieses Regelkorsett zwängen will. In Romanen entdeckt die Jugendliche andere Lebensformen, zu der sie selbst keinen Zugang hat. Ihre Eltern glauben, sie lese so viel, weil sie eine fleißige Schülerin ist, und ahnen nicht, dass die Bücher sexuelle Fantasien in ihrer Tochter wecken, die sich mit angehaltenem Atem, um ihren kleinen Bruder nicht zu wecken, unter der Decke selbst erkundet. Doch als Naima sich von ihrer Familie unabhängig macht, muss sie gegen Diskriminierung kämpfen – und ihre Herkunft verfolgt sie. Ihre Träume werden mit einer harten Realität konfrontiert. 

Gegen Fremdbestimmung kämpfen auch die vier Frauen in Cristina Morales’ Leichte Sprache, die von den Behörden als geistig behindert eingestuft wurden und in einer betreuten Wohngruppe zusammenleben. Jede rebelliert auf ihre eigene Art gegen die Bevormundung, etwa im Bereich der Sexualität, als ein Gericht einer der Hauptfiguren eine Zwangssterilisierung auferlegt, aber auch in scheinbar banalen Situationen wie einer Tanzstunde, als die wohlmeinende Tanzlehrerin darauf besteht, dass die Erzählerin ihre Socken ausziehen soll. Morales nimmt die Sätze der Bevormundenden auseinander und findet eine Sprache für ihre radikalen Ideen: politisch inkorrekt und grenzüberschreitend (desbordante wie das Motto des Gastlandauftritts), dabei immer wieder voller Humor.

Auch bei Kiko Amat stehen Randfiguren im Mittelpunkt. In Spanien sind seine knallharten wie tragikomischen Romane längst Kult, nun ist Träume aus Beton auf Deutsch erschienen: Nach zwanzig Jahren in der Psychiatrie plant der Protagonist seinen Ausbruch. Nach und nach erfährt man aus Erinnerungen an seine Jugend, wie er zu dem Punkt kam, an dem er im Wahnsinn eine Messerattacke beging. „Normal“ im Kopf zu sein, macht es aus seiner Sicht nur schwerer, die Grausamkeit der Welt zu ertragen. Seine Welt ist Sant Boi de Llobregat, eine Stadt in der Peripherie von Barcelona, wo in den Sechzigern Hochhäuser für die innerspanischen Migrant*innen aus dem Boden gestampft wurden, um das Fabrikpersonal unterzubringen. Aus dieser Stadt kommt Kiko Amat, ihren Namen hat er auf den Handrücken tätowiert.

Familie und Einsamkeit im leeren Landesinneren

Kritik am Großstadtleben der urbanitas übt die ehemalige VICE-Redakteurin Ana Iris Simón (*1991). Letztes Jahr sorgte sie mit einer fulminanten Rede in der Moncloa für Aufregung, in der sie Pedro Sánchez vorwarf, dass alle Maßnahmen zur Bekämpfung der Landflucht und der niedrigen Geburtenrate heuchlerisch seien, solange jungen Eltern keine adäquate finanzielle Unterstützung geboten werde. Viele junge Spanier*innen können an ihren Herkunftsorten keine Arbeit finden, und in der Stadt können sich die meisten auch mit Mitte dreißig nur ein WG-Zimmer leisten. Angestoßen wurden diese Maßnahmen von einer politischen Bewegung, die sich aufgrund der Debatte um Sergio del Molinos Sachbuch Leeres Spanien formierte: Damit gemeint ist ein Gebiet im spanischen Landesinneren außerhalb der großen Städte, das 53 % der Landesfläche ausmacht, wo aber nur noch 15,6 % der Bevölkerung wohnen. Es fehlt an Investitionen, schon über 3000 Dörfer sind komplett verlassen, die Bewohner*innen werden immer älter und ärmer. Von ihrer Kindheit an so einem Ort in der Mancha erzählt Ana Iris Simón in Mitten im Sommer. Liebevoll und konkret beschreibt sie das Leben ihrer Großfamilie in diesem ländlichen Arbeitermilieu – von den Generationen vor ihr über die Neunziger bis heute. Allein die WhatsApp-Gruppe ihrer Familie väterlicherseits hat 33 Mitglieder, es fehlen noch die Kinder und die Ältesten. Wenn sie das Leben im Clan mit ihrem Leben in Madrid vergleicht, spürt man eine Sehnsucht nach Familie und Begrenztheit. Sie kommt mit ihrem Vater zu dem Schluss, dass die wichtigen Dinge im Leben sehr wenige sind, und beneidet ihre Eltern um das Leben, das sie in ihrem Alter führten. Doch die Bedingungen sind heute andere, ein Briefträgerjob reicht nicht, um mit 22 einen Wohnungskredit aufzunehmen. Allerdings fragt sich Simón auch: Können wir wirklich keine Familie gründen oder sind wir einfach nicht bereit, bestimmte Privilegien aufzugeben? Wir wollen in der Stadt leben, reisen, eine interessante Arbeit und andere Dinge, die Geld kosten, das sich schwer verdient. „Wir sind Arme mit iPhone“, konstatiert die Tochter eines Kommunisten. Wenn sie in den letzten Kapiteln von der Gegenwart schreibt, macht Simón sich allerdings über linke Sichtweisen lustig. Mittlerweile hat sie Madrid den Rücken gekehrt und lebt wieder in der Provinz. Zur Buchmesse kommt sie nicht, weil sie im Herbst ihr zweites Kind erwartet.

Ein ganz anderes Bild vom Leben auf dem Dorf zeichnet Sara Mesa in Eine Liebe. Nicht etwa auf der Suche nach romantischem Rückzug oder Gemeinschaft, sondern schlicht aus Geldmangel zieht eine Übersetzerin in ein imaginäres Dorf im spanischen Landesinneren. Ironischerweise fällt ihr die Kommunikation im direkten Kontakt schwer, aber das Landleben ist hart, und als es durch das Dach ihres heruntergekommenen Häuschens regnet, lässt sie sich zunächst aus der Not heraus auf einen Dorfbewohner ein. Es entwickelt sich ein zweideutiges, zunehmend verstörendes Verhältnis. Die Protagonistin wird zur Gefangenen ihrer eigenen Gedanken. Sara Mesas Erzählhaltung ist distanziert, doch so sehr sie sich von Ana Iris Simón unterscheidet: Beide werfen die Frage auf, ob es glücklich macht, sich ganz auf sich selbst zu konzentrieren.

Der ländliche Raum als Sujet war schon lange nicht mehr so beliebt. Im Gegensatz zur kruden Realität einer einsamen Frau vermischen sich in der Romanwelt von Irene Solà (*1990) ganz unterschiedliche Stimmen: Starke Frauen, Kinder, Tiere, dichtende Bauern und Geister kommen in Singe ich, tanzen die Berge zu Wort. Ihre Schicksale sind miteinander und mit den Pyrenäen verflochten, auf tragische oder mystische Weise, in einer Geschichte voller Poesie, düsterer Wolken und Magie. Zur Buchmesse wurde die Gewinnerin des Europäischen Literaturpreis 2020 nicht eingeladen, dafür aber eine andere junge Autorin, die in einem Sachbuch an die Arbeit der Frauen in der andalusischen Provinz erinnert: María Sánchez (*1989) ist Dichterin und Landtierärztin, wie auch ihr Vater und ihr Großvater Tierärzte waren. Die Familie ist seit Generationen eng mit dem Land verbunden, doch welche Rolle spielten die Frauen vor ihr? Diese Leerstelle nahm Sánchez zum Anlass, ihre Lebenskonzepte zu erforschen und in Land der Frauen von ihnen zu erzählen. Noch nicht übersetzt ist einer der tiefgehendsten Romane der ola neorrural, der ebenfalls im „leeren“ Südspanien um Córdoba angesiedelt ist: Die Protagonistin von Olga Merinos La forastera („Die Fremde“) lebt nach Jahren in London wieder im Heimatdorf ihrer Eltern. Nach dem Tod ihrer Mutter ist sie fast vollkommen isoliert, bis auf den Kontakt zu zwei Migranten, auf deren prekäre Schwarzarbeit die Landwirtschaft in diesem einsamen Landstrich angewiesen ist. Die Dorfbewohner*innen nehmen sie nach der langen Zeit im Ausland als Eindringling wahr – erst recht, nachdem sich der reiche Gutsbesitzer erhängt und die Erzählerin ihn findet. Doch die Heldin dieses andalusischen Westerns leistet Widerstand. In einem ruhigen Erzählduktus beschwört Merino Legenden aus anderen Zeiten herauf und zeichnet eine starke Frau, die ihre Freiheit nicht aufgibt.

Zurückhaltung bei den deutschen Verlagen

Bei einem Abendessen in Barbastro wird diskutiert: Warum wurde dieses so eindringliche Buch sogar schon ins Chinesische, aber noch nicht ins Deutsche übersetzt? Olga Merino selbst sagt nur, sie warte noch auf Rückmeldung, international laufe es gut. Verleger Dardik hat die Erfahrung gemacht, dass selbst Romane, die sich in Spanien bestens verkaufen, von deutschen Verlagen abgelehnt würden, wenn darin „härtere“ Themen wie Suizid vorkommen. Das würde auch erklären, warum die Gewinnerin des Premio Nadal Inés Martín Rodrigo zwar nach Frankfurt eingeladen ist, doch Las formas del querer („Die Formen der Liebe“) in der Liste der deutschen Neuerscheinungen noch fehlt. In dem durch Die Buddenbrooks inspirierten Roman erzählt sie, wie sich der Bürgerkrieg über Generationen hinweg auf eine Familie auswirkt. Infolge des Todes von nahen Familienmitgliedern kämpft die Protagonistin mit einer Depression. Martín Rodrigos ehrliche Sprache entwickelt von der ersten Seite an einen Sog, und trotz all der Schwere spürt man, dass etwas verheilt. Für solche Stoffe gäbe es jedoch laut den deutschen Verlagen kein Publikum, so Dardik. Das gelte auch für Romane mit expliziten, insbesondere nicht heterosexuellen Sexszenen. Das sagten sie zumindest. Er will aber nicht recht glauben, dass die deutschen Leser*innen wirklich so verschlossen sind.

Tatsächlich wurden im Verhältnis dazu, wie viele Werke aus kleinen Ländern wie Georgien oder Norwegen im Hinblick auf ihren Gastlandauftritt übersetzt wurden, relativ wenige Bücher aus dem Spanischen übertragen. Auf dem Branchentreffen Otra Mirada erklärt die Generaldirektorin für Bücher und Leseförderung im spanischen Kulturministerium María José Gálvez, Spanien wolle in Frankfurt zeigen, wie sehr sich das Land seit dem ersten Gastlandauftritt 1991 verändert hat. Das Motto „Sprühende Kreativität” soll die Vielfalt repräsentieren, und es wurden über zwei Millionen Euro in Übersetzungen investiert, um die literarische Avantgarde Spaniens international bekanntzumachen. Seit 2019 wurden mehr als 300 Titel übersetzt, von denen 77 Übersetzungsförderung erhielten, und es wurde eine Übersetzungsresidenz ins Leben gerufen.

Cristina Pineda vom Verlag Tres hermanas hat mithilfe der Fördergelder Fragmente übersetzen lassen, jedoch noch keine Rechte nach Deutschland verkauft. Emilio Sánchez von Libros del KO geht es ähnlich: Manche Bücher aus dem Programm des Indie-Verlags wurden ins Russische, Chinesische, Englische und Französische übersetzt, aber nicht ins Deutsche. Er wünscht sich zwar mehr Unterstützung von der spanischen Regierung, doch das Hauptproblem sei das Desinteresse von deutscher Seite. In diesem Punkt sind sich die Verleger*innen einig. Nur: Was ist der Grund dafür?

Ein junges Verlagswesen und nationale Tendenzen

Eine Diskussion auf dem Branchentreffen wirft die Frage auf, ob die deutsche Buchbranche besonders auf die ältere Generation ausgerichtet ist. Buchhändler Ben von Rimscha aus Berlin erklärt, der deutsche Buchhandel habe ein Nachwuchsproblem – auch deshalb, weil der Großteil der Kund*innen über sechzig sei. Das nimmt ein älterer Verleger aus dem Publikum als Einladung, die bekannte Kulturverfallsklage anzustimmen: „Die jungen Leute scrollen nur noch und lesen nicht mehr.“ Antonio Ramírez, der fünf Buchhandlungen in Madrid und Barcelona betreibt, widerspricht vehement. Die Librerías La Central hätten sich in den letzten zehn Jahren mit Publikum zwischen 20 und 25 gefüllt. Trotz Pandemie haben in Barcelona in den letzten drei Jahren fünfzehn neue Buchhandlungen eröffnet. Überhaupt sei die spanische Buchbranche sehr jung, betont die Verlegerin Sandra Ollo (*1977) von Acantilado. So sieht das auch Silvia Sesé (*1964), Lektorin bei einem der wichtigsten spanischen Verlage: Bei Anagrama sei sie eine der wenigen ihrer Generation. Ihr Programm würde laufend erneuert, und man müsse viel kommunizieren, um zu verstehen, wer die Leser*innen sind. Kann es sein, dass es sehr wohl ein Publikum für Literatur aus diesem jungen, progressiven Spanien gibt, aber sich die deutschen Verlage nicht daran wagen? Das kann sie nicht einschätzen, jedenfalls waren sie früher offener, sagt Sesé, die viele Jahre für Bertelsmann gearbeitet hat. Bis vor ein paar Jahren seien die deutschen Leser*innen große Reisende in der Literatur gewesen, es bestand im Vergleich zu Spanien ein starkes Interesse an anderen Kulturen, auch an lateinamerikanischer und afrikanischer Literatur. „Das scheint sich zu verlieren. In Spanien, Italien, Frankreich und den meisten anderen Ländern zeigt sich aktuell das Phänomen, dass die ersten Plätze der Bestsellerlisten von einheimischen Autor*innen belegt sind. Vor ein paar Jahren war das noch nicht so.“ Es werden also nicht nur weniger spanische Bücher übersetzt, sondern überhaupt weniger Übersetzungen gelesen.

Auch Heinrich von Berenberg ist betrübt darüber, dass das Interesse in Deutschland nachgelassen hat. Zur Zeit des lateinamerikanischen Booms habe auch Spanien profitiert, doch mittlerweile hat der Berenberg Verlag nur noch den ibizenkischen Schriftsteller Vicente Valero im Programm. Von ihm brachte er letztes Jahr die europäischen Reiseerzählungen Schachnovellen heraus, im August folgten die Krankenbesuche bei alten Bekannten auf Ibiza. Berenberg selbst ist begeistert von der neuen spanischen Literatur. Er ist ganz angetan von der Stimmung auf dem Festival – und optimistisch, dass die Spanier*innen auch in Frankfurt für Begeisterung sorgen. Sesé, die wiederum begeistert vom deutschen Verlagswesen ist, hofft auf weitere Übersetzungen nach der Buchmesse. Die Vorfreude ist groß. Sie fährt schon seit vielen Jahren nach Frankfurt, doch dieses Jahr ist es etwas Besonderes. „Das wird ein Fest!“

Bibliografie

Kiko Amat, Träume aus Beton (Heyne Hardcore 2022)
Fernando Aramburu, Die Mauersegler (Rowohlt 2022), Patria (Rowohlt 2018)
Bernardo Atxaga, Ein Mann allein; Obabakoak oder Das Gänsespiel (beide Unionsverlag 2022)
Eva Baltasar, Permafrost (Trabanten, in Vorbereitung)
Javier Cercas, Die Erpressung (S. Fischer 2022)
Najat el Hachmi, Am Montag werden sie uns lieben (Orlanda 2022)
Sergio del Molino, Leeres Spanien (Wagenbach 2022)
Berna González Harbour, Goyas Ungeheuer (Pendragon 2022)
Javier Marías, Tomás Nevinson (S. Fischer 2022)
Juan Marsé, Der zweisprachige Liebhaber (Wagenbach 2022)
Inés Martín Rodrigo, Las formas del querer (nicht übersetzt)
Olga Merino, La forastera (nicht übersetzt)
Sara Mesa, Eine Liebe (Wagenbach 2022)
Cristina Morales, Leichte Sprache (Matthes & Seitz 2022)
Marta Orriols, Sanfte Einführung ins Chaos (dtv 2022)
Carme Riera, Te deix, amor, la mar com a penyora (nicht übersetzt)
Manuel Rivas, Der Bleistift des Zimmermanns (Suhrkamp 2000)
Isaac Rosa, Glückliches Ende (Liebeskind 2021); Lugar seguro (nicht übersetzt)
María Sánchez, Land der Frauen (Blessing 2021)
Elvira Sastre, Eines Tages werde ich mich selbst retten; Die Tage ohne dich (beide Thiele 2022)
Ana Iris Simón, Mitten im Sommer (Hoffmann und Campe 2022)
Irene Solà, Singe ich, tanzen die Berge (Trabanten 2022)
Vicente Valero, Krankenbesuche (Berenberg 2022); Schachnovellen (Berenberg 2021)
Manuel Vilas, Was bleibt, ist die Freude (Berlin 2022); Reise nach Ordesa (Berlin 2020)

Das literarische Programm des Gastlandauftritts ist hier zu finden. 

Die Autorin dankt den BIBLIOTEQUES DE BARCELONA für die Unterstützung bei der Recherche. Das Beitragsbild von Davide Pellegrini zeigt die Biblioteca Gabriel García Márquez.

Transparenzhinweis: Mirjam Ziegler istauf Einladung der Frankfurter Buchmesse nach Barbastro gereist, die die Veranstaltungen mitorganisiert hat. Die Reise wurde vom spanischen Kulturministerium gefördert. Das hat keinen Einfluss auf ihre Darstellung.

Geschichte als Waffe. Der französische Wahlkampf und das spanische Mittelalter

von Robert Friedrich 

Die sogenannte „Reconquista“, die mehrere Jahrhunderte andauernde Verdrängung muslimischer Macht von der iberischen Halbinsel, ist als historischer Bezug in spanischen Debatten über Einwanderung und nationale Identität omnipräsent, in Wissenschaft, Medien und Politik. Seit vergangenem Dezember nun dient der Begriff in seiner französischen Entsprechung „Reconquête“ als Namensgeber für die neue Partei des rechtsextremen französischen Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour, der bei der Wahl in diesem Jahr antritt. Der Name ist kein Zufall denn der erfahrene Journalist kennt sich ausreichend mit Geschichte aus, um sich der historischen Bedeutung dieses Begriffs bewusst zu sein.

Sein Geschichtsbild hat der inzwischen zweifach wegen rassistischer Beleidigungen verurteilte Zemmour bereits 2018 in seinem Buch „Le destin français“ („Das französische Schicksal“) ausgebreitet, das einem wilden Ritt durch die französische Geschichte gleicht. Jahrhundertelang sei Frankreich das Zentrum Europas gewesen, werde nun aber zunehmend vom Subjekt zum Objekt der Geschichte. Dabei konstruiert Zemmour das Bild einer heroisch-idealisierten Vergangenheit, die durch politische Eliten, linken Zeitgeist, Gerichte, Wissenschaft, Globalisierung und viele andere Kräfte zerstört wurde und wird. Hugenotten, Aufklärer, Revolutionäre, Feministen und Islamisten, sie alle stehen in seiner Argumentation in derselben Tradition mit dem gemeinsamen Ziel der Zerstörung Frankreichs. 

Zemmour verwendet Geschichte als politische Waffe und verfälscht dabei die historischen Fakten für seine Zwecke, wie der Historiker Laurent Joly in einem Interview mit France24 betonte. Joly ist Autor des Buches „La falsification de l’histoire. Éric Zemmour, l’extrême droite, Vichy et les juifs“ („Die Verfälschung der Geschichte. Éric Zemmour, die extreme Rechte, Vichy und die Juden“, 2022), in dem er sich mit Zemmours Geschichtsbild aus wissenschaftlicher Perspektive befasst. Ebenfalls Anfang dieses Jahres – also mitten im Wahlkampf – ist der schmale Band „Zemmour contre l’histoire“ (“Zemmour gegen die Geschichte”) erschienen, in dem ein Kollektiv aus Historiker*innen die wichtigsten Thesen Zemmours auf den Prüfstand stellt. Seine Perspektive auf die Geschichte charakterisieren sie mit den Worten: „Die Vergangenheit lügen lassen, um in der Gegenwart besser hassen zu können … und so eine hassenswerte Zukunft zu erfinden“. Zemmour dürfte all das ziemlich egal sein, ist für ihn doch die akademische Geschichtswissenschaft ein Teil jener antifranzösischen Eliten, die er zu bekämpfen gedenkt. 

„Reconquista“

Als Vertreter dieser Geschichtswissenschaft mit einem Schwerpunkt zum spanischen Mittelalter, musste ich vor allem bei dem Namen von Zemmours neuer Partei hellhörig werden: „Reconquête“, also „Rückeroberung“. Ein Begriff, der insbesondere im gegenwärtigen Kontext, der historischen Einordnung bedarf. 

Der historische Ausgangspunkt der “Reconquista” liegt am Beginn des 8. Jahrhunderts. Im Jahr 711 überquerte ein muslimisches Heer unter Führung des Berbers Ṭāriq b. Ziyād die Straße von Gibraltar und eroberte in kurzer Zeit große Teile der iberischen Halbinsel und stieß auch in den Süden des heutigen Frankreichs vor. Als Ende dieser muslimischen Expansion gilt die Schlacht von Tours und Poitiers im heutigen Zentralfrankreich im Jahr 732, als ein fränkisches Heer unter Karl Martell die Muslime besiegte. Auch auf der iberischen Halbinsel feierten christliche Heere erste militärische Erfolge. Der Sieg des pseudomythischen Heerführers Pelagius in der Schlacht von Covadonga im Jahr 722 wird heute gern als Auftakt der sogenannten „Reconquista“ gesehen. Gemeinsam mit der Schlacht von Tours und Poitiers ist sie in rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreisen außerdem ein wichtiger Referenzpunkt für eine sogenannte Rettung des Abendlandes vor der vollständigen Islamisierung und damit einer der Momente, die Europa geformt haben sollen. Von beiden Ereignissen wird später noch die Rede sein.

Als „Reconquista“ wird nun die gesamte fast 800-jährige Periode bezeichnet, die 1492 mit der Eroberung von Granada, dem letzten muslimischen Herrschaftsgebiet auf der iberischen Halbinsel, ihren Abschluss fand. In der Geschichtswissenschaft ist der Begriff in den vergangenen Jahrzehnten in Kritik geraten. Bereits 1921 formulierte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883–1955) sein berühmt gewordenes Bonmot: „Wie kann man etwas als Wiedereroberung bezeichnen, was 800 Jahre gedauert hat?“ Und in der Tat kann trotz wiederkehrender Christianisierungsbestrebungen nicht von einem 800 Jahre andauernden Kriegszustand gesprochen werden. Vielmehr gab es immer wieder Phasen, in denen Eroberungen sehr präsent waren und andere, in denen die Territorien weitestgehend stabil blieben.

Darüber hinaus bestand kein einheitlicher Frontverlauf zwischen „den“ Christen und „den“ Muslimen. Vielfach führten die christlichen Reiche untereinander Krieg, oder verbündeten sich mit Muslimen gegen andere Christen. Beispielhaft dafür steht der zum spanischen Nationalhelden gewordene und als Befreier Valencias gefeierte El Cid – dem Amazon gerade eine neue Serie gewidmet hat – mit seinen wechselnden Loyalitäten. Regelmäßig florierten auch die christlich-muslimische Diplomatie und der Austausch in Handel, Kultur und Wissenschaft. Das Bild einer toleranten, multikulturellen Welt, das manchmal vom muslimischen Spanien gezeichnet wird, ist allerdings ebenso falsch, doch das nur am Rande. 

„Reconquista“ als politische Ideologie

Viel wichtiger für die Kritik am Begriff der „Reconquista“ ist allerdings dessen ideologische Bedeutung, die in den heutigen spanischen Debatten sehr präsent ist. Erstmals verwendet wird er auch nicht im Mittelalter, sondern am Ende des 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, als die mittelalterlichen „Befreiungskriege“ gegen die Muslime zu Vorläufern der Befreiung von der napoleonischen Besatzung stilisiert werden. Das 19. Jahrhundert ist dann das Jahrhundert der Nationalbewegungen und der Entstehung der Nationalstaaten. Überall in Europa suchen diese nach Legitimation in der nahen und fernen Vergangenheit und Spanien findet sie in Katholizismus und „Reconquista“. 

Parallel dazu entsteht die akademische Geschichtswissenschaft. In enger Wechselwirkung zwischen Politik und Geschichte wird die „Reconquista“ zugleich zum nationalen Mythos und zum historiographischen Konzept. Die enge Verbindung von Katholizismus und Nationalstaat bietet dabei eine fruchtbare gesellschaftliche Grundlage dafür, die nationale Identität auf dem historischen Kampf gegen Andersgläubige, in diesem Fall Muslime, aufzubauen. Im 19. Jahrhundert entstehen auch bis heute andauernde Traditionen in der populären Festkultur, wie zum Beispiel der regionale Feiertag Valencias (Día de Valencia), der an den Tag der Einnahme der Stadt durch Jakob den Eroberer am 9. Oktober 1238 erinnert. Bis heute werden dort sogenannte „moros-y-christianos“-Feste gefeiert, bei denen der christliche Sieg nachgestellt wird. Diese Feste bilden eine wichtige Grundlage spanischer Identität, auch wenn die Kritik an dieser Form des Erinnerns immer lauter wird.

Größeres realpolitisches Gewicht gewinnt die „Reconquista“ unter Franco. Dessen Staatstreich im Jahr 1936 führt zum Bürgerkrieg und schließlich zu einer fast vier Jahrzehnte andauernden Diktatur. Franco hat dabei die volle Unterstützung der katholischen Kirche, deren Vertreter sich auch nicht scheuen, seinen Staatsstreich als „Kreuzzug“ zu bezeichnen und Franco als „Führer von Gottes Gnaden“ auszurufen. Während die mittelalterliche „Reconquista“ das Land von den Muslimen befreit habe, sei es dem „Reconquistador“ Franco gelungen, andere Feinde wie Kommunisten, Atheisten und Freimaurer aus Spanien zu vertreiben. Der historische Bezug ist dabei nicht nur auf die Person des Diktators beschränkt, sondern wird auch auf andere Symbole, wie die neue Flagge ausgeweitet. Das spanische Wappen hält dort der sogenannte Johannes-Adler, der auch Teil des Wappens der „katholischen Könige“ Ferdinand und Isabella gewesen ist, die mit der Eroberung von Granada 1492 die „Reconquista“ zu ihrem Ende geführt hatten. Franco war es also, der den Prozess des „weaponizing historical knowledge“, wie es der spanische Historiker Alejandro García-Sanjuan nennt, in Bezug auf die „Reconquista“ in Gang setzt.

Nach dem Ende der Franco-Zeit gerät die „Reconquista“ als politische Referenz in Verruf und auch die spanische Geschichtswissenschaft versucht sich an neuen Analysen. Erst in den 1990er Jahren erlebt das Konzept einen neuen Aufschwung in politischen Debatten und unter konservativen Historiker*innen. Dazu braucht es einen neuen Rahmen, der franquistische Nationalkatholizismus hatte ja ausgedient. Diesen Rahmen findet man in Samuel Huntingtons 1993 publizierter These vom „Clash of Civilizations“ („Kampf der Kulturen“). Auf den „Westen“ übertragen bedeutete dies vor allem, dass die künftige Hauptkonfliktlinie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nun vor allem zum Islam verlaufen würde. Entsprechend betonen spanische Konservative nun nicht mehr nur die historische katholische Identität Spaniens, sondern setzen dieser vermehrt das Bild von einem mit den westlich-freiheitlichen Werten inkompatiblem muslimischen Al-Andalus gegenüber. Verstärkt wurde dies durch die Anschläge vom 11. September 2001 und in Spanien insbesondere durch die Madrider Anschläge vom 11. März 2004. 

Zunächst ist es nicht die extreme Rechte, sondern konservative Politiker*innen, die die Idee der „Reconquista“ in diesem Kontext wieder politisch salonfähig machten und für ihre Zwecke nutzen. Am 22. September 2004, ein halbes Jahr nach den Anschlägen in Madrid, hält der ehemalige spanische Ministerpräsident José María Aznar von der konservativen Partido Popular eine Vorlesung in den USA, während der er die Anschläge nicht als Reaktion auf die spanische Teilnahme am Irak-Krieg einordnet. Stattdessen verortet er die Gründe in einer weiter zurückliegenden Vergangenheit: 

„Das Problem, das Spanien mit Al-Qaida und dem islamischen Terrorismus hat, hat nicht mit der Irak-Krise begonnen. In der Tat hat es nichts mit Regierungsentscheidungen zu tun. Man muss nicht weniger als 1.300 Jahre zurückgehen, bis ins frühe achte Jahrhundert, als ein Spanien, das gerade von den Mauren überfallen worden war, sich weigerte, nur ein weiterer Teil der islamischen Welt zu werden, und einen langen Kampf um die Wiedererlangung seiner Identität begann. Dieser „Reconquista“-Prozess war sehr langwierig und dauerte etwa 800 Jahre. Er endete jedoch erfolgreich.“

In den letzten Jahren nun wurde diese neue politische Nutzung der „Reconquista“ von der rechtspopulistischen Partei „Vox“ aufgenommen und zum Kern ihrer antimuslimischen und nationalistischen Arbeit gemacht. Im Jahr 2018 sprach deren Vorsitzender davon, dass die Spanier durch die Erfahrungen der “Reconquista” gegen „muslimische Einwanderung geimpft“ seien. Bereits mehrfach beging die Partei ihren Wahlkampfauftakt in Covadonga, dem Ort, in dem 722 angeblich die „Reconquista“ begann und der so zur Wiege der katholischen spanischen Nation stilisiert werden soll. 

„Weaponizing historical knowledge“

Bereits seit der Renaissance ist das Mittelalter, wie Valentin Groebner in seinem Klassiker „Das Mittelalter hört nicht auf“ gezeigt hat, regelmäßig Gegenstand ganz verschiedener emotional aufgeladener Referenzen. Unter anderem ist es ein wichtiger Identitätsraum für nationale und rechtsextreme Kreise. Während im Nationalsozialismus vor allem die „germanisch-nordische“ Identität von Bedeutung war und der Islam eher als potenzieller Verbündeter im Kampf gegen das Judentum galt, ist seit den 1990er Jahren der Kampf gegen den Islam – Kreuzzüge und Ritterorden – vermehrt im Fokus. 

George W. Bush nannte den Kampf gegen den Terrorismus „Crusade“ und während der Charlottesville-Ausschreitungen verkleideten sich Demonstrierende als Kreuzritter. Auch sieht man in den USA im Phänomen der „religiösen Rechten“ eine enge Verbindung zwischen Nationalismus, anti-muslimischen Rassismus und Religion, wie Annika Brockschmidt kürzlich in ihrem Buch „Amerikas Gotteskrieger“ gezeigt hat. Durch die inzwischen weltweite Vernetzung auch der neuen Rechten ist diese Kreuzzugsrhetorik auch in Europa angekommen. So warb ein AfD-Kreisverband im Landtagswahlkampf 2019 mit dem Slogan „Gott will es“, der in seiner lateinischen Fassung „Deus vult“ als Schlachtruf der Kreuzfahrer Bekanntheit erlangte. Die Liste dieser Beispiele könnten problemlos weitergeführt werden. Nebenbei sei bemerkt, dass in anderer Form Kreuzzug und “Reconquista” auch unter Islamisten wichtige Kampfbegriffe sind. 

Der Rückgriff auf die „Reconquista“ – historisch ein Teil der vielfältigen mittelalterlichen Kreuzzugsbewegungen – zur Legitimation eines Kampfes gegen Muslime war lange auf Spanien beschränkt, hat aber in den letzten Jahren seinen Weg über die Landesgrenzen hinaus gefunden und dort auch heute ganz reale gewaltvolle Konsequenzen: Der norwegische Rechtsterrorist Anders Breivik bezog sich in seinem Pamphlet auf die “Reconquista” als legitimierendes historisches Ereignis. Der neuseeländische Attentäter, der 2019 in Christchurch 50 Menschen erschoss, hatte auf seine Waffen den Namen des pseudo-mythischen asturischen Königs Pelagius, des angeblichen Siegers der Schlacht von Covadonga, geschrieben – und auch jenen Karl Martells. 

Diese internationale Erweiterung der Kreuzzugsrhetorik um die „Reconquista“ bedeutet eine doppelte diskursive Verschiebung. Zum einen ist die Idee auf den ersten Blick harmloser. Während der Kreuzzug meist mit einer bewussten christlichen Aggression verbunden ist, erweckt eine Rückeroberung den Eindruck eines rechtmäßigeren Gewands. Man holt sich nur zurück, was einem ohnehin gehört. Zum anderen geht die Reconquista-Rhetorik aber einen Schritt weiter. Man will sich nicht mehr nur gegen eine drohende Islamisierung verteidigen, sondern die Islamisierung hat schon stattgefunden und Muslime halten das eigene Land besetzt. Damit spiegelt diese rhetorische Erweiterung auch eine andernorts zu beobachtende Entwicklung der Rechten wider. In einer Art Selbstviktimisierung geht es nicht mehr vorrangig darum, sich gegen die Muslime von außen zu verteidigen, sondern darum, sich das eigene Land zurückzuholen, das von Muslimen unterwandert sei. In Deutschland stehen dafür Autoren wie Thilo Sarrazin und ebenso Bewegungen wie Pegida – auch wenn hierzulande der „Reconquista“-Begriff noch keine politische Wirkung entfaltet hat. 

Für Éric Zemmour ist der „Reconquista“-Bezug in seinem Parteinamen nur ein Teil seiner rhetorischen Strategie, die Geschichte für seine politischen Zwecke einzuspannen. Regelmäßig greift er auf verschiedene Elemente einer imaginierten Vergangenheit zurück, um seinen sehr gegenwärtigen politischen Zielen eine vermeintliche historische Legitimität zu verleihen. Für seinen Kampf gegen muslimische Einwanderung ist dies vor allem das Mittelalter, und damit zusammenhängend die „Reconquista“. Zemmours „Reconquête!“ ist ein „Make France great again“ im pseudo-Intellektuellen Gewand und es lohnt, hier noch einmal die Charakterisierung der Autor*innen von „Zemmour gegen die Geschichte“ zu wiederholen: „Die Vergangenheit lügen lassen, um in der Gegenwart besser hassen zu können … und so eine hassenswerte Zukunft zu erfinden“. 

Beitragsbild von Jorge Fernández Salas