von Barbara Peveling
In Deutschland verwandelte sich der Wahlkampf im Sommer in eine politische Hexenjagd. Frankreich hingegen wärmte sich für seine bevorstehende Kampagne mit der Präsentation toxischer Männlichkeit auf. In beiden Gesellschaften geht es dabei um die Aufrechterhaltung eines etablierten Systems durch Mimesis und Gewalt.
Die kommenden Tage und Monate in Deutschland und Frankreich sind für Europas Zukunft entscheidend: Hier das Kanzleramt, dort die Position des Präsidenten. Hier die Vorwürfe des Plagiats, die Zweifel an Glaubwürdigkeit, dort die öffentliche Manifestation toxischer Maskulinität.
Anfang Juni kassierte der französische Präsident beim Besuch einer Kleinstadt eine Ohrfeige aus der Menschenmenge. Der Schlag ins Gesicht des Staatsoberhaupts dokumentiert ein Klima der Gewalt, das die französische Gesellschaft schon lange beherrscht. Das Land befindet sich seit den Attentaten 2015 in ständiger Alarmbereitschaft. Dazu gehört die staatliche Sicherheitsmaßnahme, der Plan Vigipirate, mit einem Maschinengewehr ausgerüstete Militärpatrouillen prägen das alltägliche Straßenbild im Hexagon.
Die Ohrfeige erhielt der Präsident von einem jungen Mann. In einem Video hört man ihn rufen: « Montjoie, Saint-Denis, à bas la macronie“ (Montjoie, Saint-Denis, nieder mit der Macronie).
Bei dem ersten Teil handelte es sich, laut Encyclopædia Universalis um den Schlachtruf der Kapetinger. Die Könige des Hauses Capet bedienten sich dieses Ausrufs, um Schutz und Sieg von höheren Mächten zu erbitten, allerdings zieht sich seine Verwendung durch viele Jahrhunderte französischer Geschichte. Heute wird er vor allem mit royalistischen Gruppierungen und rechten Bewegungen in Verbindung gebracht. Macrons Angreifer, der zu vier Monaten Haft verurteilt wurde, berief sich bei seiner Verteidigung auf die Gelbwesten, vor denen hätte er nicht sein Gesicht verlieren wollen, indem er einen Handschlag des Präsidenten akzeptierte. Also verwandelte er die von ihm befürchtete Erniedrigung in eine Ohrfeige mitsamt royalistisch-maskuliner Parole.
Der Schlachtruf ist aber nicht nur eine historische Fußnote mit tagesaktueller politischer Bedeutung, sondern auch einem medialen Diskurs entnommen, denn in Frankreich ist er bekannt aus der Fantasy-Komödie „Die Besucher“. Ein Zeitreisender Ritter, Jean Reno in der Rolle der fiktiven Figur Godefroy de Montmirail, taucht darin überraschend im 20. Jahrhundert auf. Der Film kam 1993 in die Kinos und war so erfolgreich, dass daraus eine ganze Reihe entstand.
Nach dem Kulturanthropologen René Girard haben solche mimetischen Handlungen, also Handlungen, die bereits Bekanntes kopieren, die Absicht, Gewaltausbrüche zu verhindern, um so den herrschenden Status aufrecht zu erhalten. Die Vorwehen des französischen Wahlkampfes bestehen aus einer Mimesis von Handlungen, die medialen und historischen Kontexten entnommener Männlichkeit entspringen, und somit im aktuellen Zeitgeschehen neu und individuell interpretiert werden. Neue (maskuline) Narrative der Macht werden auf der Basis von alten Mustern entwickelt.
Der royalistische Schlachtruf wurde nicht zum ersten Mal im öffentlichen Raum gebraucht, bereits 2018 bewarfen Studenten den Abgeordneten der linksradikalen Partei „La France Insoumise“ (Unbeugsames Frankreich), Éric Coquerel, mit einer Torte aus Rasierschaum und auch sie riefen ihm “Montjoie, Saint-Denis” entgegen. Einer dieser Studenten gehörte der rechtsextremen Gruppierung „Action française“ an.
Auch der Vorsitzende der “France Insoumise”, Jean-Luc Mélenchon, Kandidat für das Präsidentenamt, sah sich kürzlich mit einer medialen Inszenierung männlichen Machtgehabes konfrontiert. Der rechtsextreme Youtuber Papacito manifestierte einen Exzess der Gewalt gegen potentielle Wähler*innen der linken Partei. Ihm folgend präsentierten anschließend weitere Influencer ihre radikalen Einstellungen gegen linke Orientierungen und Feminismus in der Öffentlichkeit.
Nicht nur Corona, sondern auch der bevorstehende Machtwechsel in den führenden europäischen Staaten scheinen einen gesellschaftlichen Backlash auszulösen, der sich nicht zuletzt im Gewand medialer und öffentlichkeitswirksamer Angriffe und Drohungen durch Gesten toxischer und misogyner Männlichkeit zeigt.
Dass es sich dabei um ein Aufflammen von Mustern handelt, die unsere westliche Kultur schon lange prägen und die vor allem dazu dienen, weibliche oder weiblich gelesene Macht zu verhindern, hat die Historikerin Mary Beard 2018 in ihrem Buch „Frauen und Macht. Ein Manifest“ eindrücklich dargestellt: „Wenn es darum geht, Frauen zum Schweigen zu bringen, hat westliche Kultur Jahrtausende praktischer Erfahrung.“
Auch Frauen an der Macht, so Mary Beard, üben mimetische Handlungen männlicher Machterhaltung aus. Weder in Frankreich, noch in Deutschland wurde bisher eine Frau, die ihr körperliches Auftreten nicht einem männlich dominanten Habitus angepasst hat, in das wichtigste Amt im Land gewählt. Mit Angela Merkel verlässt in Deutschland eine Frau die politische Bühne, die sich für ihre politische Karriere den Strukturen männlich codierter Macht unterwarf. Für Mary Beard fehlen in unserer Gesellschaft Vorbilder weiblicher Macht, die sich nicht auf eine Nachahmung von Gesten männlicher Dominanz reduzieren.
In Frankreich können zwar Frauen erfolgreich auf der politischen Bühne mitspielen, auch wenn, oder gerade weil sie ihre Weiblichkeit in Szene setzen, wie Marlène Schiappa und Roselyne Bachelot, die 2018 in den Vagina-Monologen von Eve Ensler mitspielten. Aber auch dort blieb die Tür ins höchste Amt Körpern, die sich über einen weiblich markierten Habitus manifestieren, verschlossen.
Der Fall Annalena Baerbock und die Kritik an ihr zeigen vor allem Eines: feminine Machtstrukturen und eine Verbindung von Macht, sowie ein weiblich gelesener Habitus sind in unseren Gesellschaften nicht etabliert. Baerbock, die beispielsweise offen über ihre Kinder und sich als Mutter spricht, wird vorgeworfen, sie habe keine Erfahrung, sie sei nur als Quotenfrau zur Kandidatin gewählt worden. Die Vorwürfe können auch als eine mimetische Handlung gesehen werden, die vor allem ein Ziel haben: das bestehende System über mimetische Handlungen zu schützen, die Aufrechterhaltung des Patriarchats.
Auch die Vorwürfe des Plagiats gegenüber Annalena Baerbock lassen diese Mechanismen erkennen: Ihre Aussagen wurden kritischer hinterfragt, als die anderer Kandidaten. Während Armin Laschet lange verschont blieb, wurden die Aussagen der Frau im Rennen sehr schnell mit männlichem Machtgehabe in Frage gestellt.
„Wir sind einfach nicht an Frauen an der Macht gewöhnt“, schreibt Jacinda Nandi in der Edition F und wiederholt diesen Satz in ihrem Essay mehrfach. Die Beispiele von Angriffen gegen Hillary Clinton oder auch die Bezeichnung von Angela Merkel als “Mutti” dienen ihr als Belege dafür, dass Macht von Frauen entweder vehement verhindert oder in Begriffe gekleidet wird, die ihre Macht beschränken sollen: “Eine Mutti hat eine Art Macht über die Familie – aber sie hat auch keine Freiheit und keine individuelle Macht zur Verfügung.“
Es ist an der Zeit, neue Narrative der Macht zu schaffen. Es ist an der Zeit, neue Maßstäbe für Führungskräfte zu setzen, die Welt wurde lange genug von weißen männlichen Rittern in Anzug und Krawatte regierte. Es ist an der Zeit, nicht länger darauf zu beharren, dass sich jeder an die Repräsentation alter weißer Männlichkeit anpassen muss, um in der Gesellschaft an Entscheidungen teilzuhaben und sei es am höchsten Amt des Staates.
Deutschland und Frankreich fällt es schwer, Narrative der Macht jenseits dem herkömmlichen maskulinen Modell zuzulassen. Auf der einen Rheinseite tobt die Hexenjagd, auf der anderen dominieren Manifestationen toxischer Männlichkeit den öffentlichen Raum.
Einen Hoffnungsschimmer auf Wandel blitzt jenseits der europäischen Grenzen auf, dort haben sich kürzlich neue Machtformen gebildet. In Chile beispielsweise wurde gerade Elisa Loncón als erste indigene Frau zur Präsidentin gewählt. Es bleibt zu hoffen, dass auch der Westen bald neue körperliche Narrative der Macht schreibt und zulässt.
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