Ein schönes Wort: Verlustzusammenhang. Im Juni 2017 schickte die Literaturzeitschrift Volltext ihren Fragebogen „Zum Geschäft der Literaturkritik heute“ an Andreas Breitenstein. Auf die Frage nach den größten Herausforderungen antwortete er u. a.: „Der Geltungsverlust des literarischen Feldes und damit verbunden die Verschlechterung der sozio-ökonomischen Situation (Platz, Honorare, Publikum, Aufmerksamkeit). Eine panische literarische Überproduktion. Ein sich aus dem ganzen Verlustzusammenhang ergebender systemischer Konformismus.“
Breitensteins Antwort lässt sich als Diagnose einer umfänglichen Verunsicherung lesen, die sich im alltäglichen Literaturgeschäft vor allem als Funktionskampf niederschlägt. Für was steht das literarische Buch? Was soll es leisten? Wer hat die Zuweisungsmacht über die Kriterien, die an die Rezeption von Büchern angelegt werden? Welche Einwände der Literaturkritik sind legitim? Und welche sind snobistisch, übertrieben, pedantisch, sprich: unangemessen?
Vielleicht hilft es, ein Dreieck mit den drei Modi ästhetisch, ethisch und ätherisch aufzuspannen, um die Fragen ansatzweise zu beantworten. Innerhalb dieses Kraftfeldes nimmt jedes Buch eine Position ein, es greift sich seine Anteile an den drei Kategorien ab, zugleich werden ihm bestimmte Attribute zugewiesen. Das eine Buch will eher eine Stimmungsmaschine sein, einen ätherischen Ort anbieten, an dem die Leserschaft sich zurückziehen kann, eingelullt vom Atmosphärischen, das das Ätherische auf eine leichte und angenehme Weise zur Verfügung stellt, beschwingt von einem Text, der eine Distanz zum Lärm der Welt schafft: noise canceling literature. Ein anderes Buch definiert sich über seinen gesellschaftspolitischen Ort, es will eingreifen, hinterfragen, den Finger in Wunden legen. Hierfür vertraut es auf das Medium Buch als aufklärerischen Apparat, es will eine kritische ethische Ressource sein, um eine Debatte anzustoßen. Zusätzlich gibt es Bücher, die sich primär als ästhetische Dokumente verstehen, sie reflektieren artistische Traditionen, loten die Möglichkeiten aus, wie in der jeweiligen Gegenwart ein gelungener, „atmender“ Text aussehen kann. Um soziale Einflussnahme oder stimmungsgeladene Dienstleistung scheren sie sich weniger – ihr Ziel ist eine Reflexion über das Schöne, der Rest ist Beiwerk.
Alle gegen alle
Wie sehr dieses Koordinatensystem gerade strapaziert wird und wie sehr die einzelnen Kategorien auf dem Prüfstand stehen, hat sich in den letzten Debatten gezeigt. Einer der Effekte, der sich aus der Idee des Verlustzusammenhangs ergibt, besteht nämlich in der zunehmend diffusen Frontbildung innerhalb eines ohnehin schon agonal strukturierten Feldes. Alle Beteiligten berufen sich trotzig auf den Stolz ihres Metiers und diskreditieren das jeweilige Gegenüber ob seines unsachgemäßen Verhaltens.
Beispiel Robert Menasse: Den Kritikern, die seine Fake-Zitate monieren, wirft er vor, einer „strenge[n], im Grunde aber unfruchtbare[n], weil immer auch ideologisch gefilterte[n] Wissenschaft“ anzuhängen. Um die Diskreditierung der Kritik zu stabilisieren, beruft er sich einerseits auf seine autonomieästhetische Lizenz: Ich bin Künstler, lassen Sie mich in Ruhe, ich darf das. Andererseits wendet er den ethischen Würgegriff an, indem er seine Kritiker zu nützlichen Idioten der Nationalisten degradiert: „Ich weiß nicht, wie sehr den Schürern des „Skandals“, die mir in rasch hingeworfenen Artikeln ›Fälschung‹, ›Bluff‹ und ›Lüge‹ vorwerfen, klar ist, dass sie das Geschäft der Nationalisten befördern“.
Beispiel Takis Würger: Der Kritiker sagt, lange schon habe die Kritik ihre „Legitimation und ihr Funktionieren“ nicht mehr so eindrucksvoll unter Beweis gestellt wie bei diesem Buch. Der Lektor unterstellt ihr in einer ersten Reaktion wiederum Neid. Der verletzte Autor sagt sehr suggestiv und sehr bizarr: „Die Zeiten, in denen Bücher verboten werden, sind vorbei.“ Die Buchhändler werfen der Kritik elitäres Gehabe vor. Und im Gespräch mit dem NDR sagt der Verleger: „Aber ich glaube, dass jede Generation von Autoren – und Takis Würger ist ein jüngerer Autor – auch ein Verhältnis finden muss, Geschichten zu erzählen, die Erinnerungen wach halten, die Einblicke in dieser Zeit geben.“
Davon abgesehen, dass jedes Argument, das sich des Generationen-Paradigmas bedient, immer simplizistisch ist, ist die Aussage einigermaßen windig. Letztlich wird hier eine vorrangig ökonomische Überlegung (Holocaust plus Schuld plus Romanze = $) als erinnerungspolitisch notwendige Intervention bemäntelt. Denn im Gegensatz zum Geld-Argument, das die Schöngeister des Betriebs immer schon als frivol abkanzelten, auch wenn es die gesamte Biblio-Produktion bestimmt, ist der Verweis auf die mnemo-ethische Reichweite eines Buches ein Hochwert-Argument, das sich durch seine vermeintlich moralische Evidenz gegen Einwände immunisiert. Hier wird’s innerhalb des kategorialen Dreiecks interessant: Würgers Roman, der eigentlich auf eine ätherische Lesart abzielt, pinnt sich selbst die ethische Auszeichnung an die Brust, um sich innerhalb der (noch) wirksamen Feldstruktur zu legitimieren.
Die Branche im Fieberdelirium
Die Aussagen aller gereizten Beteiligten deuten jedenfalls darauf hin, dass es weniger denn je einen von allen Seiten anerkannten Kriterienkatalog gibt, welche Literatur geschrieben, verlegt und gelesen werden sollte – bzw. ob sie überhaupt noch kritisiert werden sollte, schließlich brächten Kritiken keine Klicks:
Ich mein, Literatur klickt ja nicht mal. Können wir nicht stattdessen Avocados rezensieren? Das lesen dann zumindest auch Leute. "Das ist keine Frucht mehr, das ist 1 Debakel!"
— Ronja von Rönne (@Sudelheft) November 13, 2017
Die Stellenwert-Debatte hat dabei maßgeblich mit den strukturellen Erschütterungen zu tun, die den Literaturbetrieb in den letzten Jahren heimgesucht haben. Die Branche schwingt in einer Art alarmistischer Latenz vor sich hin, im schreckhaften Wissen, dass der nächste coup de foudre nur eine Frage der Zeit ist. (Die optimistischen Hauruck-Zwischenrufe sind nur eine verzweifelte Spielart dieser Tendenz.) Mitte letzten Jahres war es zuerst die Empfehlung der Monopolkommission, die Buchpreisbindung abzuschaffen, kurz darauf veröffentlichte der Börsenverein des Buchhandels die Leserschwund-Studie, jetzt wurde die Insolvenz des Buchgroßhändlers KNV verkündet. Erst vor wenigen Tagen kam die Nachricht, dass Weissbooks aus Frankfurt am Main seine Unabhängigkeit aufgeben und dem Unionsverlag hinzugeschlagen wird. Was kommt als nächstes?
Hansers Stella ist in diesem Sinne weniger ein Beispiel für die (schon lange wirksame) Verkitschung der deutschen Erinnerungskultur, sondern für die Ratlosigkeit der deutschen Verlagslandschaft, die auf der Suche nach Strategien und Stärkung ist. Die zunehmende Dringlichkeit, mit der Verlage auf ihre Rentabilität schielen, führt eben nicht nur zu personellen Einsparungen und strukturellen Umstellungen, sondern mitunter auch zu programmatischen Justierungen inklusive neuen ästhetischen Rechtfertigungen, die so vor einigen Jahren nicht denkbar gewesen wären. Und die gespenstische Idee der Buchbranche als zukunftsschwacher Industrie bedingt eben auch Um- und Neufunktionalisierungen von belletristischen Werken. (Der chronisch vernachlässigten Beziehung zwischen Geld und Schreiben, zwischen Ökonomie und Kreativität, die auch hier ihre Effekte zeitigt, ist Philipp Schönthaler vor kurzem in einem Volltext-Essay nachgegangen.)
Willkommen in der Esoterik-Abteilung
Eine andere Reaktion auf die ganze Misere lautet: Archaisierung. Auf ihren fb-Accounts posten Buchhandlungen Bilder von erwachsenen Männern, die sich lächelnd unter eine Decke ducken und mit Taschenlampe ein Buch lesen. Es gibt Zeichnungen, die den Antagonismus analog vs. digital stumpf ausspielen, Thalia macht Werbung mit Sprüchen wie „Wie lädst Du Deinen Akku auf? Mit Tee und Büchern“, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels lanciert eine Buch-Kampagne, auf der unglaubwürdige Teenies ungläubig Bücher in Händen halten, als sei dieser merkwürdig klobige Gegenstand der Mittelpunkt ihrer Welt.
Diese Initiativen treten allesamt den Rückzug in die Lese-Esoterik an, auch wenn das Manöver wie eine Offensive daherkommt. Langfristig würde das Buch denn auch zur Yogamatte für den Geist werden – so drückt es Wolfram Eilenberger im DLF aus: „Wann lesen wir heute in welchen Kontexten wirklich noch ein Buch? Das sind ja geradezu rituell angeleitete Verfahren, in denen man sich zurückzieht, Ruhe sucht“, sagt er. „Es ist ein Sammlungsmedium, ein Medium der geistigen Sammlung, dass Menschen Bücher lesen, so wie sie heute Yoga betreiben, einfach als ein kontinuierliches aufmerksames Fokussieren auf einen inhaltlichen Gegenstand, und das ist etwas, was man mit dem Digitalen lebensweltlich nur so ganz schwer verbindet.“
Im Rahmen der TLS-Reihe Twenty Questions antwortet die britische Schriftstellerin Deborah Levy auf die Frage, wie denn ihr zufolge das literarische Feld in 25 Jahren aussähe: „The writing most likely to survive the age of the screen will be esoteric thought – streams exploring the death wish, desire, disappointment and despair. It will be the new commercial fiction.“ Passend dazu schreibt der Philosoph Gernot Böhme in seinem Buch über das Konzept der Atmosphäre, dass „die neue Ästhetik“ der „Frage nach der sprachlichen Erzeugung von Atmosphären“ nachgehen wird, schließlich dürfe man nicht vergessen: „Niemand ist gleichgültig, wie er sich befindet.“
Folgt man diesen Tendenzen, dann wird die Frage nach dem Befinden das Kernanliegen von Literatur werden, denn nur auf diese Weise wird sie sich in Anbetracht ihres immer prekärer werdenden Status noch legitimieren, d. h. auf dem Markt halten können. Das ätherische Moment wird zu ihrem Alleinstellungsmerkmal – auf Kosten anderer Kompetenzen wie Diskurskritik, Repräsentationspolitik oder Analyse des Verhältnisses zwischen Ästhetik und Gesellschaft. Dieser einseitige Fokus auf das Befinden ist dabei nicht selbstgewählt, sondern wird ihr im Rahmen eines Konkurrenzverhältnisses zugewiesen.
Letztlich geht es um Resteverwertung. Grob gesagt: Games sind immersiver, Serien fesselnder, Filme eindrücklicher. Der rezeptive Aufwand ist bei diesen drei Unterhaltungsangeboten zudem mit weniger Mühe verbunden und an ein stärkeres Spaßversprechen gekoppelt. Zudem ist ihr Konsum gesellschaftlich breiter gestreut. Beispiel: Der Zeit-Online-Artikel über die besten Serien im Dezember 2018 hatte binnen weniger Stunden mehr als dreimal so viele Klicks wie der Tage zuvor lancierte Geschenktipp-Artikel zu den besten Büchern des gesamten Jahres 2018. In Anbetracht dieser Bedingungen wird für Literatur in Buchform auf lange Sicht tatsächlich wenig mehr als Ruhe und Besinnung übrigbleiben, auch wenn diese Einschränkung dem riesigen Potential von Literatur als kultureller Technik hohnspricht.
Literatur als selfcare-Technik
Wie ein unfreiwilliger Schulterschluss mit dieser Diagnose wirkt da die Stavanger Erklärung, die das analoge Lesen verteidigt und die Vorzüge von Büchern gegenüber eBooks und Screen-Leserei wissenschaftlich herausarbeitet. So werden aus Attributen des Mediums Buch, die erst im Kontrast zum multimodalen Überfluss der Neuen Medien zu Mängeln geworden sind, Boni: Das Buch sei zwar statisch, seine Repräsentationstechnik einfacher als bei Bildschirmen und digitalem Text. Aber hier sei „Sinn“ geballter verfügbar, hier sei die hermeneutische Arbeit an ihrem angestammten Ort. Der Grund für den spürbaren Verlust in Sachen Reichweite, Umsatz und Relevanz wird ex post als Gewinn des Verlierers wertgeschätzt. Damit wird das Buch zusätzlich stigmatisiert, es lässt sich im extremen Fall zu einer archaischen Kulturstätte stilisieren, in der das Tiefe und Echte noch zugänglich seien – im Gegensatz zur suspekten Oberfläche der Bildschirme.
An dieser Stelle kommt denn auch der ätherische Lektüre-Modus zum Zug, der in den letzten Jahren via Instagram & Co verstärkt einstudiert wurde. (Es geht mir nicht um eine Hierarchisierung oder Abwertung dieser Literaturpraxis, sondern darum, die jeweiligen Vor- und Nachteile, die jedwedem Lektüreformat und Literaturverständnis eigen sind, zu benennen.) Er wird langfristig die Konsumpraxis von buchgebundener Literatur bestimmen. Zwischen Wohlfühl-Modus, reizarmen Rückzugsarealen und Stimmungsgenerator wird das literarische Lesen seinen Platz finden. Bestimmte Buchblog-Formate, die die Lektüre vorrangig als affirmative und isolierte Lese-Erfahrung begreifen, als selfcare-Technik, werden diesen Trend fördern und stärken.
Je krisiger die Lage, umso unversöhnlicher die Leute
Eine Kritik, die sich ihrem historischen aufklärerischen Erbe verpflichtet fühlt, wird es da noch schwieriger haben, gerade weil die unterschiedlichen Ansprüche an denselben Gegenstand so weit auseinanderklaffen. Zudem sind die gegenseitigen Geringschätzungen argumentativ längst etabliert: hier die Elite, die Feuilleton-Fuzzis und Geistesschnösel, die Formulierungen wie ex negativo benutzen, diese Idioten; dort der geschmacksverirrte Pöbel, der sich geistlos bespaßen lässt, während die Welt untergeht, diese Trottel. Die Distinktion in ihrem jeweiligen Areal beziehen sie dabei aus der Degradierung des jeweils anderen Lagers. So wird ein perpetuum mobile der Ressentiments installiert. (Würgers Aussage anlässlich einer Lesung, wer lange Sätze möge, solle halt Thomas Mann lesen, gibt hier beispielhaft die Richtung vor. Und der offene Brief der Buchhändler*innen geht ihn munter weiter.)
Die beschriebene Dynamik mit ihren (teils neuen bzw. gesteigerten) Stigmatisierungen und Bonifikationen, mit ihren Marginalisierungen und Zentralisierungen hat in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Der Funktionskampf um die Umformung des erwähnten Dreiecks wird sich verschärfen, befeuert vor allem durch pessimistische Markt-Überlegungen. Das heißt auch: Das eigentlich ökonomische Argument, dass sich etwas nicht verkaufe, beeinflusst mehr und mehr den kreativen Prozess, mit der Folge einer klammheimlichen restriktiven Anpassung. Zwar agieren alle im stolzen Glauben an ihre künstlerische Unabhängigkeit und kreative Unangepasstheit, tatsächlich aber gehorcht das System, innerhalb dessen sie operieren, einer prekären ökonomischen Logik, die viele Schreibende, Verlegende, Verkaufende und Lesende in allen Belangen infiziert hat. (Die stetig steigenden Vorschüsse an Autor*innen wären in diesem Zusammenhang einen eigenen Artikel wert, immer weniger Akteure bekommen immer mehr Geld, eventuell auch, um kleinere Marktteilnehmer auszubooten.)
Kurzum: Ein Denken und Schreiben außerhalb der Marktkomptabilität und ihrer Bevorzugung ätherischen Lese-Konsums wird immer schwieriger, die Kritik an diesem Missstand unbeliebter und die Diskreditierung anderer schriftstellerischer Modi stärker werden. Die skizzierte Konstellation wird auch in Zukunft Affronts generieren, die umso brachialer ausfallen werden, je „krisiger“ die Stimmung ist. Die einen sind gereizt, die anderen verzweifelt, wiederum andere fühlen sich falsch verstanden oder in die Ecke gedrängt. So oder so: Das Versprechen einer wenn auch nicht versöhnlichen, so doch wertschätzenden Zusammenkunft, das die Literatur als soziale Praxis immer gehegt hat, gerät dabei ins Hintertreffen.