von Oliver Pöttgen
Wenn ich Leute frage, ob sie Western mögen, winken sie oft ab. „Filme von Männern über Männer auf Pferden.“, spottete meine Freundin neulich, als ich vorschlug, die Serie Django zu schauen. Das Genre hat es gerade in Deutschland nicht leicht: Das Wort „Western“ ruft hier ein assoziatives Gemisch hervor, in dem sich Karl May, Bully Herbig, Bud Spencer oder Clint Eastwood und die Macho-Welt der Italo-Western versammeln. Ein Sammelsurium aus Winnetou, Der Schuh des Manitu, Vier Fäuste für ein Halleluja oder Spiel mir das Lied vom Tod. Im Osten Deutschlands kommen als Erbe des DDR-Kinos noch die sogenannten „DEFA-Indianerfilme“ hinzu, wie Spur des Falken oder Tödlicher Irrtum, denen zugutezuhalten ist, dass sie mit antikolonialistischem Ansatz die Perspektive von Nordamerikas Ureinwohner*innen ins Zentrum ihrer Erzählungen rückten.
In dieser Gemengelage sind besonders die Karl-May-Stoffe ein Problemfeld, das mittlerweile auch politisch aufgeladen ist, wie 2022 die Winnetou-Debatte zeigte. Karl May und seine Geschichten aus fernen Regionen scheinen für manche ein Nationalschatz zu sein, der, um in der Sprache des Genres zu sprechen, bis aufs Messer verteidigt werden muss – gern auch im Winnetou-Kostüm. Als stünde die eigene, oft verklärte Kindheit am Pranger und als wäre die Unschuld sonntäglicher TV-Nachmittage bedroht, als Der Schatz im Silbersee im ZDF gezeigt wurde und der Winnetou-Darsteller Pierre Brice einer der größten Stars in Deutschland war. Als es noch kein Gendersternchen und keine oder wenig Kritik an diskriminierenden Begriffen gab; als Frauen noch von männlichen Helden gerettet werden mussten und unter den Glorreichen Sieben nur weiße Männer waren.
Western und ihre Ästhetiken haben Konjunktur
Hierzulande scheint der Western, gerade durch die Strahlkraft der Karl-May-Filme, ein Genre für die Boomer-Generation zu sein, das mitunter reaktionäre Fantasien bespielt oder zumindest durch solche vereinnahmt wird. „Winnetou würde AfD wählen.“, stand im September 2022 auf einem AfD-Banner. Ein solches Bild vom Western und seinen narrativen Welten verstellt den Blick darauf, dass sich in dem Genre in den vergangenen Jahren viel getan hat. Das „über die Maßen resiliente“ Western-Genre erlebt, nicht zum ersten Mal, ein Revival, auch abseits des Mediums Film. [1] Geradezu symbolhaft für das Revival des Westerns steht, dass der kürzlich verstorbene Schriftsteller und Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy vor seinem Tod noch ein Drehbuch zu seinem Western-Epos Blood Meridian schrieb und auch ausführender Produzent des geplanten Films sein sollte. Frühere Versuche der Verfilmung des bereits 1985 erschienenen Romans waren stets gescheitert.
Die Gründe für dieses Revival mögen mit, seit den Trump-Jahren sehr deutlich sichtbaren, soziopolitischen Entwicklungen in den USA zusammenhängen. Die Republikanische Partei radikalisiere sich immer mehr und stürze in den Faschismus ab, schreibt die USA-Expertin Annika Brockschmidt. Der Kampf zwischen Altem und Neuem tobt zur Zeit gerade dort besonders heftig – und ist ein wichtiges Thema von Western-Erzählungen. Historisch war der Western für die USA oft Medium zur Vermittlung und Verhandlung nationaler Geschichte und Identität. Er gilt als Nationalmythos und in einer sehr weißen Perspektive auf die Geschichte Nordamerikas als „ur-amerikanisch“. Western-Geschichten sind als Mittel US-amerikanischer Identitätsverhandlung etabliert und können deshalb besonders geeignet dafür sein, auch die US-Gegenwart erzählerisch zu verarbeiten. Über soziokulturelle Millieugrenzen hinweg kann das Genre Antworten auf die Frage „Wie wollen wir sein?“ liefern.
Medienübergreifend hat jedenfalls die Zahl der Veröffentlichungen zugenommen, die sich eindeutig als Western kategorisieren lassen oder die Anleihen im Genre nehmen und audiovisuell mit Western-Ästhetiken oder erzählerisch mit Western-Themen spielen. Solche Themen sind etwa die pionierhafte Eroberung neuer Lebenswelten und deren Ausbeutung, das Ringen des Menschen mit den Kräften der Natur oder das Streben des Individuums nach Besitz und Selbstbestimmung in einem „sozial immer prekären Raum.“ [2] Zu den prominentesten Beispielen für Western-Einflüsse zählen zwei der aktuell erfolgreichsten Serien: The Last of Us und The Mandalorian. Besonders in The Mandalorian sind die Anleihen so deutlich, dass die in der Star-Wars-Welt angesiedelte Serie als Weltraum-Western gilt. Eine Hauptrolle in beiden Serien spielt Pedro Pascal, der bald auch in dem Kurzfilm-Western Strange Way of Life zu sehen sein wird, an der Seite von Ethan Hawke und unter der Regie von Pedro Almodóvar. Der Film wird als queerer Western vermarktet, als Almodóvars Antwort auf Ang Lees Brokeback Mountain (2005), der von der Liebe zwischen zwei Cowboys erzählt. Um Homosexualität unter Männern und Männlichkeitsbilder geht es auch in The Power of the Dog (2021) mit Benedict Cumberbatch und Kirsten Dunst. Der Film lässt sich als revisionistischer Western lesen und sei ein Beispiel für den „wider trend of women reinventing the Western“, schreibt der Filmkritiker Eric Kohn. Autorin und Regisseurin des Films ist Jane Campion.
Weitere bekannte Schauspieler*innen, die sich in den vergangenen Jahren am Western-Genre versucht haben, sind Matthew McConaughey (Free State of Jones, 2016), Jessica Chastain (Woman Walks Ahead, 2017), Christian Bale (Hostiles, 2017) oder Rachel Brosnahan (Dead for a Dollar, 2022). In letzterem spielen auch Willem Dafoe und Christoph Waltz mit, der schon in Quentin Tarantinos Django Unchained (2012) auftrat. Die Altstars Anthony Hopkins und Ed Harris sind in Westworld (seit 2016) zu sehen: Die Serie ist, vor allem in den ersten zwei Staffeln, ein Sci-Fi-Western, in dem Besucher*innen eines gigantischen Western-Parks mit sehr vermenschlichten Androiden „Wilder Westen“ spielen können. Kevin Costner, der mit Dances with Wolves (1990) wohl einen der bekanntesten Western-Filme geschaffen hat, spielt seit 2018 eine Hauptrolle in der Neo-Western-Serie Yellowstone. Sie verhandelt Western-Themen in der Gegenwart und wird von manchen als reaktionär wahrgenommen, als „celebration of the old’s ruthless fight to retain what it has, and believes in“. An Yellowstone lässt sich das Western-Revival besonders deutlich festmachen. Ihr Erfolg hat bisher zu nicht weniger als drei Spin-off-Serien geführt: 1883 und 1923 sind bereits erschienen, 6666 könnte 2024 folgen. In den Spin-offs spielen unter anderem Helen Mirren, Harrison Ford und Sam Elliott mit.
Hart an der Grenze
2017 sorgte die Mini-Serie Godless für Aufsehen, weil sie von Netflix als feministischer Western beworben wurde. „Frauen können im Western niemals Helden sein. Das würde das Ende des Genres bedeuten.“, schrieb 1988 die Filmhistorikerin Pam Cook. [3] Bereits damals mag dieses Urteil etwas zu rigoros ausgefallen sein, schließlich nennt Cook selbst einige Filme, für die sie zumindest Ansätze weiblicher Held*innenschaft verzeichnet, wie Calamity Jane (1953) oder Hannie Caulder (1971). Das zentrale Kriterium für wirkliche Held*innenschaft scheint in Cooks Augen zu sein, inwiefern weibliche Figuren bis zum Schluss der Erzählungen tradierte Geschlechterrollen übertreten dürfen, ob die Revolverheldin Revolverheldin bleibt oder schließlich doch zur Hausfrau und Mutter wird. Das ist eine, auch für Western, sehr diskutable Sicht auf Held*innenschaft, erklärt aber, warum es für Cook bis 1988 nur einen Western gegeben haben dürfte, bei dem sie zweifelsfrei von einer Heldin sprechen würde: Johnny Guitar (1954; mit Joan Crawford). Es sei der Film, mit dem „Hollywood einem feministischen Western am nächsten kam.“ [4] Sein deutscher Titel hat den Zusatz „Wenn Frauen hassen“, was wohl auf die vermeintliche Unerhörtheit dieses Zustands anspielen sollte.
Die Netflix-Serie Godless jedenfalls zeigt, wie vor ihr auch schon The Quick and the Dead (1995; mit Sharon Stone) oder Bandidas (2006; mit Salma Hayek und Penélope Cruz), dass Frauen sehr wohl Western-Heldinnen sein können – selbst wenn sie in Godless, wie bemängelt wurde, nicht ohne die Hilfe von Männern auskommen. Aus feministischer Sicht ist allein schon der große shoot-out bemerkenswert, bei dem Frauen ihren Ort gegen den Angriff einer Bande verteidigen. Western sind oft auch Action-Filme, manche mehr, andere weniger, und was Godless hier bietet, muss sich vor Sam Peckinpahs Genre-Klassiker The Wild Bunch (1969) nicht verstecken. Inwiefern Feminismus und todbringende Gewalt vereinbar sind, ist eine andere Frage. Sie stellt sich aber weniger, wenn Gewalt, wie hier, der Selbstverteidigung dient.
Western-Erzählungen haben also wieder Konjunktur. Sie waren zwar nie wirklich weg, wie auch die mitunter shakespearesk anmutende Serie Deadwood (2004-2006) zeigt, aber seit einigen Jahren blüht das Genre wieder besonders auf. Das gilt nicht nur für Filme oder Serien, auch bei Videospielen, hier sei vor allem Red Dead Redemption 2 (2018) genannt, und nicht zuletzt in der Belletristik ist eine Zunahme von Werken zu verzeichnen, die sich als Western ausgeben oder in denen Western-Einflüsse deutlich werden.
Für letzteres ist Robert Harris’ Roman Act of Oblivion (2022) ein Beispiel. Er spielt zwar im 17. Jahrhundert und an der Ostküste Nordamerikas, also in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, als Western es für gewöhnlich tun. Westernesk sind aber die Flucht der Hauptfiguren und die Jagd nach ihnen, ihr Verstecken und ihr Überlebenskampf in der Wildnis und an der besiedelten Grenze zu Gebieten, in die die Kolonialmächte noch nicht vorgedrungen waren – oder, um ein Schlüsselwort des Western-Diskurses aufzugreifen: an der Frontier. Hier zeigen sich Parallelen zu Filmen wie The Last of the Mohicans (1992) oder The Revenant (2015; mit Leonardo diCaprio), die zeitlich und örtlich ebenfalls nicht im „Wilden Westen“ spielen, aber mit ähnlicher Ästhetik und Erzählweise dieselben Themen haben wie Western, deren Geschichten sich genretypischer ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in westlichen Bundesstaaten der USA entfalten.
Es tut sich allerdings nicht nur quantitativ etwas, auch qualitativ ist einiges im Gang. Das Western-Genre entwickelt sich inhaltlich weiter und scheint sich dabei, zumindest in Teilen, erstaunlich gut mit Gegenwartsthemen verbinden zu lassen. Vielleicht würden nicht wenige, die das Genre bisher als altbacken wahrgenommen haben, staunen, was in Western-Erzählungen heute passiert. Für konservative und rechtsreaktionäre Rezipient*innen war das Genre lange Zeit ein sicherer Hafen, weil es ihre Sicht auf die Ordnung der Welt nur selten gestört hat. Stattdessen würde man sich heute nicht über US-Republikaner*innen wundern, die sich darüber echauffieren, der Western sei „woke“ geworden.
Wenn Schwarze Öl finden: Western als Geschichten nicht-weißer Ermächtigung
Die Serie Django wurde im Februar 2023 auf Sky veröffentlicht und ist ein prägnantes Beispiel für Western-Serien, die aktuell auf Streaming-Plattformen laufen. Weitere sind Hell on Wheels (2011-2016), The Ballad of Buster Scruggs (2018) oder The Head Of Joaquín Murrieta (2023). Laut Sky ist Django eine „zeitgemäße Neuinterpretation“ der Django-Filme, die zu den bekanntesten Italo-Western zählen. Deren Hauptdarsteller Franco Nero hat in Django einen Gastauftritt als Priester. Die Figur des Django spielt Matthias Schoenaerts.
Bemerkenswert ist Django im Rahmen dieses Textes vor allem, weil die Serie hinsichtlich Machtverhältnissen zwischen Geschlechtern und zwischen Hautfarben in Western ein Novum darstellen dürfte: Im Mittelpunkt steht kein Konflikt zwischen (weißen) Männern, sondern zwischen einem Schwarzen (John Ellis, gespielt von Nicholas Pinnock) und einer Weißen (Elizabeth, gespielt von Noomi Rapace). Als Patriarch und Matriarchin stehen sie ihren Familien und Gemeinden vor und sind ausgesprochene Machtmenschen. Das gilt besonders für Elizabeth, die als mehrdimensionale Bösewichtin angelegt ist, also einen Part einnimmt, der in Western meist männlichen Figuren vorbehalten war. Waffenkundig wie sie ist, lässt sie nicht nur töten, sondern tötet auch selbst. Sie ist eine christliche Fanatikerin, Rassistin und Anhängerin der Südstaaten, die kurz zuvor den Bürgerkrieg verloren haben. John Ellis hat darin als Offizier auf Seiten der Nordstaaten gekämpft, was auch in der US-Flagge zum Ausdruck kommt, die am Tor seiner Siedlung New Babylon in Texas weht. Hingegen flattert im Ort, den Elizabeth kontrolliert, die Flagge der Südstaaten. Ellis hat New Babylon, das an ein westerntypisches Fort erinnert und somit als Symbol für das Leben an einer Grenze steht, als Enklave für Ausgestoßene gegründet und führt es mit seinen Söhnen. Das als gesellschaftliche Utopie und idealisierte USA im Kleinen lesbare New Babylon ist Elizabeth ein Dorn im Auge, umso mehr, als dort Öl gefunden wird.
In Django sind Schwarze nicht nur Western-Helden, die weiße Banditen töten, sie haben auch Öl. Sie haben den Rohstoff, der ein Symbol für Macht und eine Quelle weißen Reichtums und nationalen Wohlstands der USA ist. Die Szene, in der plötzlich Öl aus dem Bohrloch schießt und auf Schwarze niederregnet, dürfte eine der erinnerungswürdigsten Öl-Fund-Szenen der Western-, wenn nicht Filmgeschichte sein. Ganz besonders diese Szene symbolisiert in Django, dass Western keine Geschichten mit vorwiegend weißen Held*innen mehr sind oder sein müssen. Schwarze als Hauptfiguren in Western sind zwar nicht völlig neu, siehe etwa Unforgiven (1992) oder die Blaxploitation-Western der 1970er-Jahre, bemerkenswert aber ist, gerade im Spiegel heutiger Machtverhältnisse zwischen Weißen und Schwarzen, mit welcher Macht Schwarze in Django versehen sind und mit welcher Wucht sie als Kollektiv ihren Interessen nachgehen.
Queer mit Colt: Western als Widerstandserzählung für Marginalisierte
Weitere Beispiele für die in Django sichtbare Diversifizierung von Figuren und Themen in Western-Erzählungen sind die Romane Outlawed (2021) von Anna North und The Thousand Crimes of Ming Tsu (2022) von Tom Lin. Für beide Romane sind Umsetzungen als TV-Serie geplant. Outlawed lässt sich als queerfeministischer Western lesen, der Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen heterosexueller cis Frauen mit denen queerer Figuren zusammendenkt. So eine Figur ist besonders „The Kid“, der*die als nicht-binär erzählt wird und Anführer*in der Bande ist, der sich Ada, die weibliche Hauptfigur, anschließt. Die Gruppe hat in der Wildnis ein Lager, das als safe space dient, als Schutzort für Ausgestoßene, die geschlechtlichen oder sexuellen Normen der Dominanzgesellschaft nicht entsprechen und verfolgt werden. Davon besonders betroffen sind gebährfähige Menschen, die sich der Fortpflanzung und der Mutterrolle verweigern. Die Geschichte kommt ohne Bösewicht*in in Form einer Figur aus: Die Bösewichtin ist, wenn man so will, die Dominanzgesellschaft, das Patriarchat, verkörpert insbesondere durch Sheriffs.
Im Kleid des Westerns verhandelt Anna North in Outlawed sehr aktuelle Themen, wie ein Blick auf Entwicklungen in (nicht nur) den USA hinsichtlich Abtreibungsrecht oder Anti-Transgender-Politik zeigt. Dabei erzählt sie Marginalisierte nicht bloß als Opfer, sondern als Handelnde, als sich Organisierende und Wehrende, notfalls mit Waffen. Outlawed ist eine Geschichte über erfolgreichen, wenn nötig gewaltsamen Widerstand gegen Diskriminierung und Verfolgung, eine Geschichte über Ermächtigung und Überleben. Im Kontext gegenwärtiger politischer Ereignisse mag dieser Western ein Mutmacher für Marginalisierte sein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, wie sehr sich Outlawed und andere Western heute als Polizeikritik deuten lassen. Teils wirkt es, als führten die Debatten um polizeilichen Machtmissbrauch, Rassismus und Polizeigewalt zu einer in dieser Hinsicht kritischeren Darstellung von Western-Sheriffs.
„I’m not your Chinaman“: Western als Medium des Anti-Rassismus
Von Ermächtigung und Widerstand erzählt auch The Thousand Crimes of Ming Tsu. Im Roman von Tom Lin geht es um den Auftragskiller Ming Tsu, der chinesischer Abstammung ist und sich auf einen Rachefeldzug begibt, um seine weiße Frau, die er entführt wähnt, zu retten. Von Interesse ist neben der, wie bei Outlawed, hohen literarischen Qualität des durch magischen Realismus geprägten Romans auch seine Hauptfigur Ming Tsu. Mit ihr eignet sich Tom Lin als nicht-weißer Autor ein Genre an, das lange Zeit als sehr weiß galt. Zudem trägt er dazu bei, die Geschichte chinesischer Immigrant*innen und ihrer Nachkommen in den Nationalmythos der USA einzuschreiben.
Ming Tsu ist als Kommentar gegen anti-asiatischen Rassismus lesbar. Die Figur bricht mit teils immer noch üblichen, klischeehaft-rassistischen Bildern von männlichen US-Amerikanern, die sich als chinese-american oder asian-american identifizieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es solche Begriffe noch nicht; im Roman fällt als Fremdzuschreibung oft der (abwertende) Ausdruck Chinaman. „I’m not your Chinaman.“, fährt Ming Tsu den Direktor an, der ihn als Begleitschutz für seine Zirkustruppe engagiert hat.
Der Bilderbruch besteht bei der Figur Ming Tsu darin, dass sie kein schwächlicher Nerd, namenloser Eisenbahn-Arbeiter oder durchtriebener Opportunist wie Mr. Wu in Deadwood ist. Ming Tsu ist mit Eigenschaften versehen, die vor allem weißen Western-Helden zugestanden wurden und werden. Er ist eine Kampfmaschine, die sich durch die Lande schießt; kaum ein Gegenspieler ist ihm gewachsen. Dabei bedient er sich – auch das ist ein Bruch mit Stereotypen – keiner ostasiatischen Kampfkunst, wie die Figur „Shanghai Joe“ in dem Italo-Martial-Arts-Western Der Mann mit der Kugelpeitsche (1974; italienischer Originaltitel: Il mio nome è Shanghai Joe), sondern nutzt Schusswaffen. Er ist ein Meister im Umgang mit ihnen und pflegt sie mit Liebe und Respekt. Damit macht sich die Figur ein Merkmal weißer Männlichkeit in den USA zu eigen, eines, auf dessen Ausbildung Western-Erzählungen signifikanten Einfluss gehabt haben dürften. Daneben ist Ming Tsu auch prinzipientreu, Liebhaber (weißer Frauen) und Ersatzvater; zudem zeichnen ihn Momente der Reue und Reflexion aus. Hier werden Spuren verletzlicher Männlichkeit sichtbar, die auch in der Serie Django eine Rolle spielt, etwa bei der Verarbeitung von Kriegstraumata oder der erotischen Annäherung zwischen Django und einer männlichen Nebenfigur.
Im Western viel Neues – aber wo sind die Ureinwohner*innen?
Bündelt man obige Eindrücke, spricht einiges dafür, dass das oft als wertkonservativ wahrgenommene Western-Genre eine Frischzellenkur durchläuft und seinen Weg in ein Heute findet, das um Inklusivität und ein anderes Verständnis von Männlichkeit bemüht ist. Die beschriebenen Phänomene sind zwar keine gänzlich neuen, haben sich in den zurückliegenden 10 Jahren aber verdichtet. Die Merkmale „weiß“ und „männlich“ sind heute bei Hauptfiguren (und Autor*innen von Western-Geschichten) weniger häufig anzutreffen und es ist zu beobachten, dass das Bewusstsein für die, historisch immer schon gegebene, Vielfalt menschlicher Sexualität und Geschlechtsidentitäten auch in Western-Erzählungen vermehrt Einzug hält. Hier zeigt besonders Outlawed von Anna North, wie kompatibel Queerness und Western-Narrative sein können, gerade hinsichtlich Themen wie der Behauptung gegenüber Autoritäten und dem Überleben in feindlich gesinnter Umwelt.
In einem Bereich allerdings hat sich im Vergleich eher wenig getan: Die Repräsentation von Nordamerikas Ureinwohner*innen hat sich ab 1990, als Dances with Wolves hier neue Maßstäbe setzte, zwar deutlich verbessert, indigene Hauptfiguren sind aber nach wie vor selten. Und wenn es sie gibt, sind sie oft mit Veteran*innen wie Wes Studi besetzt, der vor allem durch seine Rollen in Geronimo (1993), Dances with Wolves, The Last of the Mohicans und zuletzt Hostiles der international bekannteste Darsteller indigener Charaktere in Western sein dürfte. Die Serie Yellowstone startete 2018 mit dem Anspruch, auch ein „authentic portrayal of Native life in America“ zu liefern. Nach nunmehr fünf Staffeln scheint das jedoch nur bedingt gelungen zu sein. Für Craig Falcon, Angehöriger der Blackfeet Nation in Montana und kultureller Berater bei The Revenant, ist Yellowstone ein Rückschritt: „We have a giant full-blood Native population here, but casting people and movie directors aren’t tapping into that population.“ Der Hollywood Diversity Report weist auch für 2022 einen verschwindend geringen Anteil indigener Menschen aus, die an der Produktion von Filmen und Serien beteiligt sind.
Es bleibt zu hoffen, dass das gegenwärtige Western-Revival dazu beiträgt, diese Situation zumindest etwas zu verbessern. Längst überfällig ist zum Beispiel eine Serie, die die Kolonialisierung des Westens der USA aus Sicht von Ureinwohner*innen erzählt. Als Genre hat der Western bei ihnen nach wie vor viel gutzumachen: „Aus der Vielfalt [indigener] Kulturen und Nationen, die in einem steten Austauschprozess begriffen waren, im Mittelpunkt einer ‚eigenen‘ Geschichte, wurde das statische Wesen [‚Ureinwohner*in‘], seiner Geschichte und Identität beraubt und zu einer Randerscheinung in der Geschichte der Weißen.“ [5]
[1] Anja Peltzer, Jörn Ahrens: Der Western der Gegenwart. Eine Einleitung, in: Anja Peltzer, Jörn Ahrens (Hrsg.): Politik der Grenze. Interdisziplinäre Perspektiven auf die Frontier im Western der Gegenwart, Halem, Köln, 2021, S. 7-26, S. 9.
[2] Ebenda, S.10.
[3] Pam Cook: Frauen und der Western, in: Bert Rebhandl (Hrsg.): Western. Genre und Geschichte, Zsolnay, Wien, 2007, S. 82-92, S. 88.
[4] Ebenda, S. 90.
[5] Georg Seeßlen: Filmwissen: Western. Grundlagen des populären Films, Schüren, Marburg, 2011, S. 12. Im Zitat wurde an zwei Stellen ein aus Kolonialzeiten stammender Begriff ersetzt, der heute als diskriminierend gilt und von den Gemeinten abgelehnt wird.