Als Anfang März die Museen in vielen Teilen Deutschlands für Besucher:innen wieder geöffnet wurden, brach das Ticketing-System des Museum Ludwig in Köln in kurzer Zeit zusammen. Die Server konnten den Ansturm von Menschen, die sich einen Zeit-Slot für die große Warhol-Ausstellung sichern wollten, nicht bewältigen. Man arbeite fieberhaft daran, das System wieder online zu bekommen. Mit so viel Interesse habe man einfach nicht gerechnet, verkündete das Museum etwas zerknirscht – den Glitch in der musealen Vermarktungsmaschine souverän für die Vermarktung der Ausstellung nutzend. Dass sich nach monatelangem erzwungenem Starren auf Bildschirme der Hunger nach „echten“ Bildern ausgerechnet in einer Warhol-Ausstellung austoben will (und kann), passt perfekt zu Warhols künstlerischer Auseinandersetzung mit der Ideologie und Metaphysik des Kunstwerks – es erscheint fast schon ein bisschen zu sehr „on the nose“.
Die Besucher:innen, die das Glück haben, Besuchszeit in der Ausstellung zu ergattern, werden im Museumsshop wahrscheinlich auch an der neuen Warhol-Biographie von Blake Gopnik vorbeilaufen – ein echter Klotz, der im englischen Original an der 1.000 Seiten-Grenze kratzt und sie in der deutschen Übersetzung souverän überschreitet. Wer sich von der schönen Aufmachung des Buches (Bertelsmann Verlag, 2020) animieren lässt, es anzulesen, wird mit einem Einstieg in die Warhol-Story konfrontiert, von dessen Furiosität selbst zum Fabulieren neigende deutsche Reporter noch etwas lernen können. Denn Gopnik beginnt die Lebensbeschreibung des Künstlers mit dessen Tod: „Das erste Mal starb Andy Warhol am 3. Juni 1968 um 16.51 Uhr. So jedenfalls lautete die bittere Einschätzung der Assistenzärzte in der Notaufnahme des Columbus-Krankenhauses in New York.“
Zum Glück für Warhol bemerkte einer der Unfallchirurgen der Klinik, Giuseppe Rossi, dass die Pupillen des augenscheinlich erschossenen Mannes, trotz fehlendem Puls und quasi nicht mehr vorhandenem Blutdruck, noch auf Lichtreflexe reagierten. Rossi lässt Warhol in einen Operationssaal bringen. Sein Team und er beginnen mit dem ersten Schnitt in Warhols linken Brustkorb. Gopnik führt die Leserin nun Schnitt für Schnitt durch die gesamte Operation, – eine Beschreibung, die von einem Autopsie-Bericht fast nicht zu unterscheiden ist. Außer seinem Herz und den Nieren hat keines der inneren Organe den Durchschuss unbeschadet überstanden. Teile der Lunge sind kollabiert, die Milz ist zerstört genauso wie ein Leberlappen, wichtige Blutgefäße zerrissen, Dick- und Dünndarm sind perforiert, die Verbindung der Speiseröhre zum Magen durchtrennt. Rossi und sein Team schaffen es tatsächlich, den Mann, den sie nicht kennen, zu retten und dessen Innenleben wieder so zusammenzuflicken, dass Warhol Valerie Solanas Angriff überlebt – und das noch 19 Jahre lang.
Einen tieferen Einblick in Warhols Innenleben als die ersten vier Seiten des Buches werden die Leser:innen dieser monumentalen Biographie über den neben Picasso und Duchamp bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts nicht mehr bekommen. Und darin liegt die Stärke des Buches. Gopnik hat zwar – zumindest bekommt man als Leserin diesen Eindruck – wahrscheinlich jedes Dokument gesichtet, das es zu Warhol gibt, und dazu noch weitere Informationen und Dokumente ausgegraben. Er ist aber nicht von dem Ehrgeiz getrieben, so etwas wie „die Wahrheit“ über Andy Warhol zu enthüllen, das wahre Gesicht des Mannes mit dem silbernen Toupet, oder den traumatisch-biographische Kern freizulegen, aus dem sich seine Kunst erklären ließe.
Der Untertitel „Leben als Kunst“ benennt das Konzept der Biographie, – man darf darin nur nicht irgendwelche Anspielungen auf foucaultianische oder neo-antike Selbsttechniken lesen. Gopniks Prämisse, die seine biographische Methode bestimmt, ist, dass Warhol den Künstler Andy Warhol und dessen Leben in einer Serie konzeptueller Performances entwickelte und auch als Konzeptkunst verstand. Entsprechend erzählt Gopnik keine künstlerische Entwicklungsgeschichte, in der einzelne Werkphasen organisch aufeinander aufbauen: vom aufstrebenden jungen Künstler, der seine ernsthafte künstlerische Praxis durch seine Arbeit als erfolgreicher Werbegrafiker querfinanziert, über die Brillo Boxen und Campell Soup-Dosen als Durchbruch zu einem der zentralen Pop Art-Künstler, der Etablierung der Factory als ikonischem Pop Art-Gesamtkunstwerk und -Produktionszusammenhang, den knapp überlebten Mordversuch bis zum Sell Out in den 1980er Jahren, der seine alten Ideen in Merchandise verwandelt und Promis und Millionären aus aller Welt mit generischen, schnell gemachten 4-Farb-Siebdruck-Porträts 5-stellige Summen aus der Tasche zieht, und schließlich durch seinen überraschenden Tod mit 58 endgültig in die Kunstgeschichte katapultiert wird.
Zwar kommt man an diesen Stationen des Kunstprojektes Andy Warhol bei Gopnik auch vorbei, aber eben nicht als künstlerische oder werk-biographische Phasen. Stattdessen rekonstruiert der Autor, zum Teil extrem minutiös, den sozio-und kulturhistorischen Kontext der Kunstszenen, in denen sich Warhol jeweils bewegte. Mit welchen Personen versuchte er in Kontakt zu kommen? Welche Galerien besuchte er? Wo kaufte er, oft strategisch, Kunst und welche? Welchen Kleidungsstil trug er? In welchen Vierteln in New York lebte er? In welchen arbeitete er? Welche seiner Freund:innen und Bekannten machte er miteinander bekannt, welche nicht? Wie organisierte er sein professionelles und privates Umfeld? Wann ging wie beides ineinander über? Und wann (dann wird es oft besonders interessant) nicht? Wie funktionierten die jeweiligen Business Modelle der verschiedenen Inkarnationen der Factory? In welchen Clubs, Discos und Restaurants war er unterwegs? In welchen Museen und Galerien stellte er aus? Wann wechselte er seine Galerist:innen? Wen versuchte er als Sammler:in zu gewinnen? Wer sammelte ihn tatsächlich? Und das macht Gopnik für jedes Jahr von Warhols Leben, manchmal sogar, wenn besonders viel los war, für einzelne Quartale.
Was so entsteht, ist auch ein Einblick in die grundlegenden Veränderungen der New Yorker Kunstszene der 1950er bis 1980er Jahre und deren Rolle bei der Internationalisierung des Kunstbetriebs. Aber das ist gar nicht so sehr Gopniks Anliegen, – auch wenn er durch die Rekonstruktion von Warhols internationaler Karriere einige Mechanismen diesen Prozesses herausarbeitet. So war Warhols Kunst vor allem deswegen recht zügig in den Sammlungen europäischer Industrieller zu finden, weil seine Form der Pop Art erstaunlich lange im US-amerikanischen Kunstbetrieb ökonomisch nicht besonders erfolgreich war und auch von großen Institutionen wenig gekauft wurde. Zwischen Warhols medialer Präsenz und seinem ökonomischen Wert klaffte lange eine, auch in der Forschung zu Warhols Kunst (und kunsthistorischer Bedeutung) erstaunlich wenig beachtete Lücke.
Für die sich neu als Sammler etablierenden deutschen Nachkriegsgewinnler wie Ludwig und Burda war das eine ideale Situation: Sie kauften begeistert die preiswerte Objekte mit hohem kulturellem Kapital und hohem Image-Faktor (Avantgarde, cooles Amerika, polarisierend), mit der sie sich sehr schnell (und relativ risikolos) als besonders wagemutige, fortschrittliche Sammler positionieren konnten. Mit der großen Warhol-Ausstellung im Museum Ludwig 2021 schließt sich dieser Kreis.
Für eine deutsche Leserin ist das natürlich besonders interessant, allerdings nehmen die deutschen Sammler:innen in Gopniks Biographie tatsächlich nur einen kleinen Raum ein. Für die Firma Warhol waren sie vor allem einfach zu melkende Cash Cows, wenn das Geld mal wieder knapp war oder Warhol von einer seiner regelmäßigen Angstattacken gequält wurde, die oft um Geld beziehungsweise dessen Fehlen kreisten. Geld allerdings spielt eine Hauptrolle in Gopniks Warhol-Biographie: als reales Kapital, das Warhol braucht und verdienen muss, um seine künstlerische Praxis, das heißt das Weitertreiben seiner Karriere zu finanzieren, und als Zeichen seines gesellschaftlichen und künstlerischen Erfolgs und Wertes.
Das große Verdienst von Gopniks Biographie ist es, dieses ständige Hustling als eines der wichtigsten Elemente einer modernen künstlerischen Karriere, nicht nur der Warhols, herauszuarbeiten. Edie Sedgwick, Ultra Violet, Candy Darling und die anderen Warhol-Superstars, die gerne als Warhols Musen tituliert (und damit natürlich auch in ihrem eigenen Künstlerin-Sein abgewertet) werden, sind genau das nicht, zeigt Gopnik. Die Muse Warhols und des Kunstsystems, in dem er zunehmend erfolgreicher operiert, ist Geld. Was bei Warhol-Kritiker:innen, an denen es in Kunstkritik und -wissenschaft nicht gerade mangelt, der grundlegende Vorwurf ist, erscheint bei Gopnik überhaupt nicht abwertend oder zynisch gemeint. Eher im Gegenteil: Dass Warhol Hustling so offen praktizierte und sogar als Teil seiner künstlerischen Praxis inszeniert, macht für Gopnik die überragende künstlerische und kunsthistorische Bedeutung Warhols aus.
Warhol operiert aus der Position eines Außenseiters des amerikanischen, das heißt vor allem New Yorker Kunstbetriebs der 1950er und 1960er Jahre heraus. Er stammt aus einer katholischen, proletarisch geprägten osteuropäischen Einwandererfamilie, ist schwul und bewegt sich in einem Umfeld, das Geschlechterstereotype queert und eine Ästhetik des Femininen und Niedlichen feiert. Die vom Abstract Expressionism geprägte Kunstszene ist machistisch bis zur Homophobie, WASP-dominiert und pflegt, selbst bereits ökonomisch erfolgreich, einen fast schon karikaturhaft unordentlichen Bohème-Lebensstil. Dagegen entwickelt Andrew Warhola aus Pittsburgh, Pennsylvania den Künstler Andy Warhol als eine Art konzeptuelles Kunstwerk. Mit der und durch die Kunstfigur Andy Warhol arbeitet er sich durch die zentrale Elemente des Kunst-Diskurses des 20. Jahrhunderts und treibt sie entlang der neuen medialen Möglichkeiten weiter: Autonomie und Warenform, Avantgarde und Massenkultur, Museum und Shopping Center, Geniekult und Star Appeal, Aura und Reproduzierbarkeit, Genie und Geschlecht, Kunstkennerschaft und Fan-Sein, Originalität und Wiederholung, Authentizität und Medialisierung.
„A Life As Art“ – das Versprechen dieses Untertitels löst Gopnik in der Tat ein. Und auch, wer von Gopniks These nicht ganz überzeugt ist, die Figur Andy Warhol sei ein konzeptuelles Kunstprojekt, in dem sich Kunst und ihr Verhältnis zu ihren Produktions- und Rezeptionsbedingungen selbst reflektiert, kann die Vorteile sehen, die dieser Zugang für eine Biographie des Künstlers bietet. Gopnik kann sich so aus den sich seit Jahren im Kreis drehenden Diskussionen raushalten, ob Warhol ein zynischer Arsch, ein Betrüger und Hochstapler, ein Kritiker des kapitalistischen Kunstbetriebs oder der erste Künstler des Neoliberalismus war. Stattdessen wird der Blick frei für Aspekte seines Lebens als Kunst, die lange eher als randständig behandelt oder seltsam exotisiert wurden: Queerness und Drag als ästhetische und konzeptionelle Praxen, die Funktion von Sexarbeit in der künstlerischen Ökonomie, junge Frauen als popkulturelle Avantgarden, Katholizität und Glaubenspraxis der Familie Warhol(a). Natürlich ist auch das nicht „die Wahrheit“ über Andy Warhol, aber sein Werk erhält durch Gopniks detailversessene biographische Rekonstruktion Kontexte zurück, die für seine andauernden Popularität gerade bei sonst wenig kunst- und kunstbetriebsaffinen Menschen relevant sind. Und für das, was aus Kunst wird, wenn nun wirklich jeder Mensch nicht nur für 15 Minuten ein Star sein kann (oder This Week’s Social Media Main Character), sondern jede:r eine Künstler:in ist.
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