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Neue alte Männlichkeit – Zur Debatte um den Band ‚Oh Boy‘

von Peter Hintz

Oh Boy. Männlichkeit*en heute hieß eine Anthologie von Texten deutschsprachiger Autor*innen, die sich großer Aufmerksamkeit erfreute, bevor sie einen Monat nach ihrem Erscheinen vom Kanon Verlag wieder vom Markt genommen wurde. Boykottaufrufe und heftige öffentliche Kritik am Verlag und an den Herausgebenden Donat Blum und Valentin Moritz hatten es zunehmend unhaltbar gemacht, ein Buch, das für eine neue Form kritischer Männlichkeit stehen wollte, in der aktuellen Form zu belassen. Gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen hatte Moritz in seinem eigenen Beitrag einen sexualisierten körperlichen Übergriff thematisiert, den er selbst begangen hatte.

Die Anthologie ist Teil einer ganzen Reihe neuer deutschsprachiger Bücher, die explizit Männlichkeit thematisieren und sich in ihren introspektiven Erzählungen als selbstkritisch verstehen. Dazu gehören etwa Toxic Man von Frédéric Schwilden, Väter von Paul Brodowsky oder Prägung. Nachdenken über Männlichkeit von Christian Dittloff. Oh Boy präsentiert sich intersektional und beinhaltet auch Beiträge von queeren und nichtweißen Autor*innen, will also die Vielstimmigkeit von Männlichkeiten jenseits einer heteronormativ-weißen Geschlechtsidentität hervorheben. Es geht um “Bilder von neuen Männlichkeit*en bis heute.”

Dank der Uneindeutigkeit des Begriffs “neue Männlichkeit” lassen sich damit eine ganze Reihe männlicher Praxen zusammenwürfeln – von trans Männern über sorgende Väter bis hin zu alleinstehenden cis Männern, die sich als irgendwie selbst- oder “herrschaftskritisch” identifizieren. Von vornherein konnten Kritiken an den Herausgebenden oder einzelnen Beiträgen also mit Verweis auf andere, bessere Teile des Buches abgewehrt werden. So erscheint der Text des Herausgebers Valentin Moritz neben Beiträgen von bekannten queerfeministischen Autor*innen wie Sascha Rijkeboer oder postmigrantischen Schriftstellern wie Dinçer Güçyeter.

Konkreter verstehen die Herausgebenden und einige ihrer Autor*innen die ‘neue’ Männlichkeit als Kontrastfolie zu einer ‘alten’ Männlichkeit, die für die patriarchale Ausübung von Macht stand, gegen Frauen, vor allem aber gegen andere Männer, die durch rigide körperliche und soziale Normen selbst beschränkt werden. Im Vorwort heißt es:

„Es war im Dezember 2021. Wir saßen in einer Bar in Neukölln und tauschten uns über unser zwiespältiges Verhältnis zum Literaturbetrieb aus, über unser Schreiben und das der Anderen. […] Hier drinnen jedoch begannen unsere Köpfe zu glühen: Auf gewundenen Pfaden entwickelte sich die Vorstellung eines gemeinsamen Buches […] Oh Boy sollte das Buch heißen, denn, oh boy!, es würde mehr Fragen als Antworten aufwerfen. Wie wurden wir zu ‘Männern’ gemacht? Von welchen Männlichkeitsidealen wurden wir geprägt? Warum grenzen wir uns von einigen ab und lassen andere gelten?“

Die ‘neue’ Männlichkeit betont emotionale oder physische Schwächen, eine gefühlige Innigkeit zwischen Männern jenseits von Homosexualität und überhaupt das offene Reden über die eigene Erfahrung mit Geschlechternormen. Donat Blums Ich-Erzähler*in, die*der sich selbst als “mansplain[er]” bezeichnet, erklärt: “Männlichkeit sind die Betten, die nach meinem pubertären Bruder riechen. Nach verkorkster Sexualität. Nach saurem Bier und stolzem Furz.”

Nicht einmal die Hipsterstädte (Freiburg und Berlin), an denen sich die Autor*innen im Gegensatz zu ihrer ländlichen Heimat heute gern aufhalten, sind angesichts sozialpolitischer Veränderungen der letzten Jahrzehnte besonders neu. Männliche Homosozialität und Feminismus wirken für die Herausgebenden allerdings wie Entdeckungen der letzten fünf bis zehn Jahre, da es zuvor an einem “selbstkritischen Dialog” gemangelt habe. Ein vom SWR produzierter Videobeitrag über Oh Boy zeigt Moritz, wie er sich stolz von einem Freund die Haare schneiden lässt und mit einer Frau Tischfußball spielt.

Statt einer fundierten Rahmung der einzelnen Beiträge wollen die Herausgebenden betont “kein monolithisches, durchgestyltes Werk einer einzelnen Expertenperson” bieten, sondern eine lose Sammlung von Essays und Kurzgeschichten, “in bester literarischer Tradition”. Mit diesem Verweis auf die literarische Form wird offengelassen, wer eigentlich in den Beiträgen von sich erzählt und die eigene Männlichkeitspraxis kritisch reflektiert – sind es fiktive Ich-Erzählende oder die Autor*innen selbst? Moritz’ Kurzbeschreibung seines Textes gibt allerdings an, dass er sich in seinem Text “die eigene Übergriffigkeit ein[gesteht].”

Wie spätere Statements von Verlags- und Herausgebendenseite auch zeigen, liegt in der strategischen Uneindeutigkeit von Fakt und Fiktion ein Schlüsselproblem der Männeranthologie. So haben nach der öffentlichen Kritik am Buchprojekt Donat Blum und der Verlag auf eine angebliche Fiktionalität des Beitrags von Moritz verwiesen. Vorwürfen, Moritz hätte sich über die Wünsche eines Opfers von sexualisierter Gewalt gesetzt, wurde ironischerweise also damit begegnet, dass die Aussagen im Text – und damit auch das Schuldeingeständnis und das Selbstbekenntnis zur kritischen Männlichkeit – als fiktiv zu bewerten seien.

Unklarheit über das, was jetzt eigentlich real ist und was nicht, durchzieht diesen Diskurs der neuen Männlichkeit auch in anderer Hinsicht. Zwar wird unentwegt die Unnatürlichkeit ziemlich abstrakter ‘alter’ Männlichkeitsbilder hervorgehoben, zugleich bleibt aber unhinterfragt, ob die dick aufgetragene Melancholie der Autor*innen (oder: Ich-Erzähler?) sich nicht selbst klassisch männlicher Tropen bedient und damit kulturell bedingt ist. Ganz im Gegenteil scheint es, dass mit dieser männlichen Gefühligkeit eine ‘neue’ männliche Natürlichkeit behauptet wird, die ironischerweise eine Konstruiertheit von Geschlechtlichkeit durchaus anerkennen will.

So soll durch Gefühl, insbesondere dem Eingeständnis von Verletzlichkeit, einem Mangel an männlicher Authentizität beigekommen werden; unter den Wunden der alten patriarchalen Männlichkeit, ihren verdrängten Wünschen und Schwächen, liege eine Essenz männlicher Individualität. Dieser individualisierte und sich selbstkritisch gebende Männlichkeitsdiskurs ist nicht neu; er wird schon in den kanonischen Texten des liberalen Aufbruchs der 1960er und 1970er Jahre transparent, in Buddy Movies wie Easy Rider oder bei den männlichen Einzelgängern John Updikes oder Philip Roths. 

Bei vielen Texten in Oh Boy geht es damit gar nicht zuerst um männliche Selbsthinterfragung, die auch Antworten hervorbringen soll, sondern um emotionale Expressivität, also den Ausdruck von möglichst viel Selbstmitleid oder Schuldgefühlen bis hin zum Kitsch. Valentin Moritz (oder sein Erzähler) fragt sich, “[w]ie genau ich zum glücklichen Menschen werde, weiß ich nicht […] Ich fühle mich in der Schwebe wie eine Frisbee im Flug. […] Aber immerhin, ich lerne gerade, meine Gefühle zu benennen – und wenn es nur das Gefühl ist, eine Frisbee zu sein. Huiiiiiiii.” Und auch Daniel Schreibers Kurzgeschichte über einen sich als übermäßig angepasst empfindenden schwulen Mann endet mit der Pointe: “Er fragt sich, was er alles unterdrücken musste, um die Person zu werden, die er geworden ist, und ob ihm diese Person gefällt.”

Grenzen und Hierarchien dieser gefühligen und egozentrischen Männlichkeit bleiben unreflektiert, weibliche Perspektiven spielen im Buch kaum eine Rolle. Die Herausgebenden und manche ihrer Autor*innen reiten lieber auf patriarchalen Dorf- und Vatergeschichten aus der Jugenderinnerung herum. Die neue Männlichkeit bleibt homosozial, erzeugt sich im Vergleich mit vermeintlich weniger “herrschaftskritischen” Männern. Die Erneuerungsrhetorik der Herausgebenden verschleiert letztlich die Anleihen der neuen Männlichkeit beim Altbekannten.

Foto von Marcel Strauß auf Unsplash

Zynischer Nonkonformismus

von Johannes Franzen

Politische Kommunikation ist oft ein Zirkus mit schrecklichen Spätfolgen. Der Podcast „The Flamethrowers“, der die Geschichte des rechten talk radios in den USA erzählt, macht immer wieder deutlich, dass die schwierigen Helden dieser ‚Kunstform‘ als Entertainer auf der Suche nach einer erfolgreichen Nische angefangen haben. Der Meister des rechten Radios, Rush Limbaugh, der zum Zeitpunkt seines Todes im letzten Jahr ein Vermögen von über 500 Millionen Dollar besaß, begann als erfolgloser Moderator. Dann entdeckte er das schier unerschöpfliche Bedürfnis nach einer Stimme, die den angeblich linksliberalen Zeitgeist herausforderte. Sein wütendes Geschrei gegen Feminismus, Anti-Rassismus oder LGBTQ-Aktivismus fand ein riesiges Publikum und wirkte stilbildend für ein rechtes Unterhaltungsformat, das seine Energie aus dem höhnischen Zorn über progressive Anliegen zog.

‚Owning the Libs‘ – Linksliberale provozieren – wurde zu einer der wichtigsten Strategien einer intellektuell entkernten Rechten, die es sich seit den 1970er Jahren zusehends auf dem muffigen Theaterboden der ‚Culture Wars` gemütlich gemacht hatte. Die erfolgreichen Karrieren Limbaughs und anderer Moderatoren, von denen „The Flamethrowers“ erzählt, verweisen aber auch auf die Geschichte eines Geschäftsmodells, das in der gegenwärtigen Aufmerksamkeitsökonomie den Gipfel seiner Lukrativität erreicht hat – das Geschäftsmodell des mutigen Nonkonformisten, der den uniformierten Zeitgeist herausfordert. Es handelt sich um ein Rollenmuster, dessen Attraktivität sich durch alle Register des kulturellen Anspruchs zieht, und auch solche Figuren der jüngeren Kulturgeschichte betrifft, die von einem Limbaugh auf den ersten Blick denkbar weit entfernt erscheinen.

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Adorno im Badeanzug – Freizeit als Arbeitsmythos der Kreativität

von Felix Lindner

 

Seit September letzten Jahres bewundere ich Adorno im Badeanzug. Schuld ist die Instagram-Seite „Writers Doing Normal Shit“, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Bilder von Schriftsteller*innen in vermeintlichen Alltagssituationen zu sammeln. Dort läuft Beckett in Shorts herum, macht Susan Sontag ein Nickerchen, isst Bob Ross eine Pizza, Derrida Kartoffelchips und Žižek gleich zwei Hot Dogs auf einmal. Das Prinzip: Alle machen alles, nur nicht schreiben. Wie erfolgreich das ist, beweisen die mittlerweile entstandenen Nachahmer und Ableger – von „Artists Doing Normal Shit“ über „Composers Doing Normal Shit“ bis hin zu „Rappers Doing Normal Shit“. Das ist auf den ersten Blick erbaulich, weil es Künstler*innen einmal abseits der üblichen Bilderwartungen zeigt: Nicht als ewig Geplagte, die fortwährend Kunst absondern müssen, sondern als Urlauber*innen, die die Kritische Theorie mal auf den Nachmittag verlegt haben. Weiterlesen

Leben als Kunst und Kunst als Geschäft –  Andy Warhol wird erzählt

von Christina Dongowski

 

Als Anfang März die Museen in vielen Teilen Deutschlands für Besucher:innen wieder geöffnet wurden, brach das Ticketing-System des Museum Ludwig in Köln in kurzer Zeit zusammen. Die Server konnten den Ansturm von Menschen, die sich einen Zeit-Slot für die große Warhol-Ausstellung sichern wollten, nicht bewältigen. Man arbeite fieberhaft daran, das System wieder online zu bekommen. Mit so viel Interesse habe man einfach nicht gerechnet, verkündete das Museum etwas zerknirscht – den Glitch in der musealen Vermarktungsmaschine souverän für die Vermarktung der Ausstellung nutzend. Dass sich nach monatelangem erzwungenem Starren auf Bildschirme der Hunger nach „echten“ Bildern ausgerechnet in einer Warhol-Ausstellung austoben will (und kann), passt perfekt zu Warhols künstlerischer Auseinandersetzung mit der Ideologie und Metaphysik des Kunstwerks – es erscheint fast schon ein bisschen zu sehr „on the nose“. Weiterlesen

Fetisch Kreativarbeit – Künstlerbiographien als Lebensratgeber

von Felix Lindner

 

Und wieder eine falsche Kuh. Also setzen sich die beiden Frauen, Gertrude Stein und Alice Toklas, noch einmal in den Ford und fahren weiter, bis zur nächsten Kuh. Steins Aufgabe ist es, zu schreiben, und sie schreibt am liebsten draußen, auf einem Campingstuhl, und zwischendurch, da braucht sie diese Aussicht. Und auch Alice Toklas hat eine Aufgabe: die Kuh zu finden, die zur Stimmung ihrer Freundin passt und sie in ihr Blickfeld bringen. Es ist oft die falsche. Ist eine gute Kuh gefunden, schreibt Stein manchmal, aber meistens, heißt es, meistens schaut sie einfach nur auf Kühe. Weiterlesen

Ein sehr fälschbarer Künstler – der Fall Modigliani

von Christina Dongowski

 

London, August 1919: Der Weltkrieg geht noch zu Ende. In der Mansard Gallery, tatsächlich ein Mansarden-Geschoß im Kaufhaus Heale, findet aber bereits wieder eine Ausstellung aktueller französischer Kunst statt. Organisiert und finanziert von den Brüdern Osbert und Sacheverell Sitwell, Weltkriegsveteranen, die mit der Ausstellung ihre Karriere als Kunst- und Literaturkritiker, Schriftsteller und exzentrische Figuren des englischen Kulturbetriebs beginnen. Ausgestellt werden fast alle französischen, oder besser Pariser Künstler*innen, die heute zum Kanon der Modernen Kunst und der Avantgarde(n) gehören. In den Londoner Zeitungen und Zeitschriften wird ausführlich über die Ausstellung berichtet. Weiterlesen