Adorno im Badeanzug – Freizeit als Arbeitsmythos der Kreativität

von Felix Lindner

 

Seit September letzten Jahres bewundere ich Adorno im Badeanzug. Schuld ist die Instagram-Seite „Writers Doing Normal Shit“, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Bilder von Schriftsteller*innen in vermeintlichen Alltagssituationen zu sammeln. Dort läuft Beckett in Shorts herum, macht Susan Sontag ein Nickerchen, isst Bob Ross eine Pizza, Derrida Kartoffelchips und Žižek gleich zwei Hot Dogs auf einmal. Das Prinzip: Alle machen alles, nur nicht schreiben. Wie erfolgreich das ist, beweisen die mittlerweile entstandenen Nachahmer und Ableger – von „Artists Doing Normal Shit“ über „Composers Doing Normal Shit“ bis hin zu „Rappers Doing Normal Shit“. Das ist auf den ersten Blick erbaulich, weil es Künstler*innen einmal abseits der üblichen Bilderwartungen zeigt: Nicht als ewig Geplagte, die fortwährend Kunst absondern müssen, sondern als Urlauber*innen, die die Kritische Theorie mal auf den Nachmittag verlegt haben.

Auf den zweiten Blick hat das alles aber natürlich trotzdem mit mythischen Kreativitätsvorstellungen zu tun. In ihrer angeblichen Seltenheit versprechen die Aufnahmen authentische, von allem Schreibtischbarock befreite Künstler*innen, die in vermeintlichen Privatszenen dann aber doch ihr Werk verkörpern sollen. „Kafka was able to smile“, heißt es dort, „A smiling Hannah Arendt“ gibt es auch, und über Becketts dünne Beine heißt es in einem Kommentar: „He may have skipped leg day, but he never skipped brain day.“ Der kurze Bruch mit dem kanonisierten Image sorgt dafür, dass es noch ein bisschen besser an den Leuten haftet. Viel Neues erfährt man durch die Bilder also nicht. Bleibt die Frage, warum das Ganze trotzdem so gut funktioniert.

Ganz neu ist das Phänomen, Künstler*innen in Alltagssituationen zu überhöhen, nicht. Schon zu Beginn der 1950er Jahre nannte es Roland Barthes den „Schriftsteller in Ferien“. Gemeint waren die damals im Figaro populär gewordenen Fotografien von Schriftsteller*innen aus der Paparazzi-Perspektive. Eine Bildformel aus Muße und Muse, die Schreibende genüsslich in ihrer Freizeit missversteht. Selbst das Nichtstun des Schriftstellers, so Barthes, sei in den Augen der Öffentlichkeit „eine avantgardistische Glanzleistung, die hervorzukehren nur ein starker Geist sich gestatten kann“.

Auf seinen Urlaubsbildern sei er „eine phantastische, ewige Substanz, die sich zur sozialen Form nur herabläßt, um desto besser in ihrer vornehmen Distanz faßlich zu werden“. Die Publikumserwartung  bestehe darin, dass der Schriftsteller während seiner Ferien zwar aufhöre, zu arbeiten, aber nicht zu produzieren: „[M]an ist Schriftsteller, so wie Ludwig XIV. König war, selbst auf dem Nachtstuhl.“ Zu wissen, welchen Pyjama er gern trägt, welchen Käse er mit Gusto isst, das mache ihn nur noch mysteriöser, als er sonst schon scheint. Am Ende, und das ist bitter, sei er auf diesen Bildern nicht nur ein falscher Arbeiter, sondern auch ein falscher Urlauber. [1] 

Die neuerliche Beliebtheit solcher Bilder erzählt damit eine ganze Menge darüber, wie Künstler*innen heute wieder gesehen und verstanden werden möchten: nicht als normale Badestrandbesucher*innen mit Tagesfreizeit, sondern als mystisch Badende mit kreativen Kreativpausen. Sie sollen menschlich und unprätentiös sein, die Schreibenden und Denkenden – nur sind sie dabei immer noch auratisch, aber mit Pizza in der Hand. Das ist nicht nur problematisch, weil es erwartbar natürlich diejenigen trifft, die sich sowieso mit Freude fotografisch kanonisieren ließen und lassen, es ist auch undurchsichtig, weil sich hier mitunter alte Inszenierungsstrategien mit aktuellen Bedürfnissen nach vorbildhafter Produktivität vermischen.

Kanäle wie „Writers Doing Normal Shit“ scheinen deshalb vor allem durch den Wunsch geprägt, die Kreativszene neu zu verstehen und darzustellen: als produktive Alltäglichkeit, in der Inspiration und Produktion grundsätzlich und voraussetzungslos überall möglich sind. Dabei geben einzelne Bilder diese Lesart kaum her – ihre Sammlung und Reihung aber macht, dass hier banale Schnappschüsse und Imagestrategien mit Momenten kreativer Arbeit verwechselt werden. Damit wird leider ein Potenzial verspielt: Das Ganze hätte eine kollektive Entspannungsübung und Dekanonisierung bedeuten können. So ist es schlicht der alte Mythos, nur auf links gedreht.

Ein damit verwandtes Phänomen sind die mit „Homeoffice“ überschriebenen Bilder verschiedener Philosoph*innen oder Autor*innen in ihren Arbeitszimmern, die ebenso seit ein paar Monaten kursieren. Anders als die launigen Abbilder des „Normal Shit“ zeigen sie die bekannten Szenen monastischer Versenkung und ausdauernder Arbeitsmoral, bei denen es scheint, als seien die Leute nie von ihrem Schreibtisch aufgestanden. Darin aktuellen Trost und Identifikation zu suchen, ist nicht verwerflich, aber auch nicht ungefährlich: nicht nur, weil diese Bilder genauso erfolgreich den Mythos konstant produzierender Künstler*innen in die Gegenwart tragen – sondern auch, weil sie das Homeoffice ein weiteres Mal als individuelle Optimierungschance erzählen.

Dass die Schreibtisch- und Strandbilder ungefähr zur gleichen Zeit populär wurden, dürfte aber ein Hinweis darauf sein, dass gegenwärtige Effizienzforderungen zu einer neuen Suche nach vermeintlichen Orten von Kreativität und Produktivität geführt haben. Dass diese Orte dabei ganz unterschiedlich, auch teils widersprüchlich identifiziert werden, zeigt wiederum, mit welchen Entgrenzungen des Arbeitsbegriffs traditionelle und aktuelle Bildformeln von Künstlertum heute kollidieren. Dafür können die Seiten und ihre Betreiber natürlich nicht viel.  Sie machen nur transparent, an welche Vorbilder und Legenden sich aktuelle Arbeitsmythen knüpfen können, ohne dabei invasiv zu wirken, sondern Identifizierungen anzubieten.

Versteht man die Zirkulation dieser Bilder als Effekte aktueller Wünsche nach Kreativroutinen, wird die Misere offenkundig: Wir wollen zu Hause produktiv sein, aber auch am Strand, wir wollen Routinen haben und sie ignorieren, wir wollen für Inspiration arbeiten, die sich aber vor allem einstellen soll, wenn wir gerade nicht arbeiten. Der Bildkanon der Kreativität lässt sich aber nicht mit denen unschädlich machen, die ihn mitgeformt haben. Wie Kreativarbeit heute aussehen kann, wo sie stattfindet und unter welchen Bedingungen, wird solange unbeantwortet bleiben, wie wir statt uns selbst vor allem Bilder befragen, die entweder Arbeit oder Freizeit zeigen. Und die damit dazu einladen, eins mit dem anderen zu verwechseln.

Kreativität hat nämlich ein grundsätzliches Visualitätsproblem. Sie ist nicht sichtbar, außer in  ihren Stellvertreterobjekten. Die unzähligen Repräsentationen von Kreativszenen machen den grundsätzlichen Mangel sichtbar, der sich einstellt, versucht man sich Schreibende ohne Schreibwerkzeug und Denkende ohne Tischplatten vorzustellen. Man kann Schriftsteller*innen noch hundertmal mit der Hand an der Stirn schwitzend bei Kerzenschein zeigen [2], ihre Schreibtische, Füller und Hände fotografieren, man kann sie, wie Handke, beim Pilze schneiden filmen, oder, wie Walser, beim Gang durch Überlingen-Nußdorf begleiten, es bleibt alles unsichtbar oder äußerlich.

Gerade deshalb sollte man nicht den Fehler begehen, Freizeitaufnahmen als alternative Repräsentationen künstlerischer Produktion zu verstehen. Sie mögen zwar wie exklusive Einblicke in die opake Beziehung zwischen Person und Werk aussehen, machen damit aber vor allem sichtbar, welche visuellen Kriterien erfüllt sein müssen, Schreibende auch ohne Schreibwerkzeug zu Vorbildern machen zu können. Wer hier nach mustergültigen Routinen oder Werkzugängen sucht, wird außer ein paar Snack- und Badekleidvorlieben nichts finden.

Wie soll man Schriftsteller*innen also noch zeigen, wenn nicht am Schreibtisch und nicht abseits? Das ist die falsche Frage. Man soll sie zeigen und wird das auch, nur neutral sind die Bilder nie. Die Frage berührt aber das elementare Problem des „künstlerischen Tatorts“, wie es Stefan Zweig einmal genannt hat. Weil „Inspiration“ nicht einsehbar sei und der „kreative Moment“ nur im Nachhinein beschrieben werden könne, so Zweig, solle sich, wer das „Geheimnis des künstlerischen Schaffens“ verstehen wolle, auf die Indizien, also Handschriften, konzentrieren, und dort auf Spurensuche gehen. [3] Für diejenigen, die das nicht sowieso betreiben, ist das allerdings ein wenig umständlich. 

Deshalb hier ein Vorschlag: Statt auf Fotografien nach immer neuen Hinweisen auf Kreativität zu suchen, sollte man sich vergegenwärtigen, welcher Begriff von Arbeit heute daran beteiligt ist, dass Schreibstuben zu Homeoffices und Erholungs- zu Produktivszenen werden. Es scheint ein Arbeitsbegriff zu sein, der den künstlerischen Tatort überall vermutet – das aber kann und darf kein Vorbild für aktuelle Arbeitsbedingungen sein. Es hilft vielleicht, daran zu denken: Diese Bilder zeigen keine Tatorte. Sie zeigen, ganz banal, Inszenierungen oder falsche Urlauber.

 

 

[1] Roland Barthes: Der Schriftsteller in Ferien. In: ders.: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe. Berlin 2010, S. 37–40.

[2] Vgl. auch https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/fernsehfilm-schiller-kostuemquatsch-mit-dichtersosse-1230364.html

[3] Vgl. Stefan Zweig: Das Geheimnis des künstlerischen Schaffens. In: ders.: Das Geheimnis des künstlerischen Schaffens. Essays. Hg. v. Knut Beck. Frankfurt a. M. 2007, S. 348–372.

 

Photo by S’well on Unsplash

 

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