Literarischer Stadtplan für Barcelona

von Isabella Caldart

Barcelona gilt als eine der wichtigsten Literaturstädte der Welt. Nicht nur ist sie das Herz der spanischen Buchbranche mit ihren vielen Verlagen und Literaturagenturen, am 23. April, dem Welttag des Buches, wird außerdem Sant Jordi in der katalanischen Hauptstadt gefeiert, ein einzigartiges Fest, bei dem Bücher und Rosen verschenkt werden und sich die Straßen in Open-Air-Buchstände verwandeln. Außerdem haben viele Romane Barcelona als Setting. Natürlich kennt jede*r „Der Schatten des Windes“ von Carlos Ruiz Zafón, ein Buch (und später Tetralogie), das mit seiner Übersetzung ins Deutsche (von Peter Schwaar) ab 2003 eine neue Welle von Interesse für spanische und katalanische Literatur weckte. Aber es gibt noch viel mehr Bücher, die von der Vielseitigkeit Barcelonas erzählen. Der Gastlandauftritt Spaniens auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ist der beste Grund, um einige von ihnen zu empfehlen und mithilfe der Literatur durch die Straßen Barcelonas zu spazieren.

Weiterlesen: Literarischer Stadtplan für Barcelona

Michi Strausfeld – Literarische Einladung Barcelona (2022)

Gesamte Stadt

„Die Attraktivität der Mittelmeermetropole bleibt also ungebrochen, und ebenso die Gewissheit, dass die Stadt sich immer wieder neu erfindet. Das hat ihre abwechslungsreiche Geschichte eindrucksvoll bewiesen, wie in alten und neuen Werken nachzulesen ist.“

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Michi Strausfeld die Entdeckerin lateinamerikanischer Literatur in Deutschland ist. Vor allem während ihrer Zeit im Suhrkamp Verlag (von 1974 bis 2008 war sie dort für iberoamerikanische Literatur zuständig, seit 2008 ist sie bei S. Fischer) machte sie unter anderem Gabriel García Márquez und Isabel Allende hierzulande berühmt. Aber auch in Spanien kennt sich die Literaturvermittlerin, die zwischen Berlin und Barcelona lebt, bestens aus. Für die charmante Reihe „Literarische Einladung“ bei Wagenbach Salto hat sie – vergleichbar mit diesem Stadtplan – Romane zusammengestellt, die in Barcelona spielen und die sie mit einem kurzen, aber informativen Vorwort einleitet.

Die Auswahl ist dabei sehr anders als in diesem Text, unter anderem kommen auch Maria Barbal, Juan Marsé, Juan Pablo Villalobos, Llucia Ramis, Javier Cercas und Najat El Hachmi zu Wort, dazu einige Texte in Erstübersetzung ins Deutsche. Und wem Strausfelds „Literarische Einladung“ und dieser Literarische Stadtplan noch nicht genügen: Ulrike Fokken hat bereits im Jahr 2007 (zum Gastlandauftritt Kataloniens auf der Frankfurter Buchmesse) „Literarische Streifzüge“ durch Barcelona herausgegeben, ein Reiseführer, der an zahlreiche literarisch relevante Orte der Stadt bringt.

Rosa Maria Arquimbau – Forty Lost Years (1971, Englisch von Peter Bush, 2021)

Rund um die Ramblas, den Passeig de Gràcia und in Sant Antoni

„La Rambla was packed. Half of the shops were shut and the assistants in the shops that had opened stood on the pavement watching the people parade by shouting ‘long live’ and ‘death to’. Everybody seemed overjoyed, and I thought that was perfectly normal as anyone who was against what was happening would have stayed at home.”

Dieser Roman beginnt mit einem Knall: Die katalanische Republik wird ausgerufen. Laura, die Protagonistin in Rosa Maria Arquimbaus kurzem Roman „Forty Lost Years”, ist da gerade einmal 14, und, wie der Titel des Buches schon verrät, begleiten wir sie die nächsten vierzig Jahre ihres Lebens. Während sich Barcelona 1931 noch im Freudentaumel befindet, ändert sich das mit dem Beginn des Bürgerkriegs fünf Jahre später. Laura versucht, allen Widrigkeiten ihrer Zeit zum Trotz sich als Näherin einen Ruf in der Stadt zu verschaffen, wofür sie sich nicht nur von der patriarchalen Abhängigkeit emanzipiert, soweit ihr das möglich ist, sondern die Männer in ihrem Leben auch aktiv zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzt. Und sie versucht, die politischen Umstürze zu überleben, geht ins Exil, entscheidet sich dann aber doch zur Rückkehr in ihre Heimatstadt. „Forty Lost Years“, erstmals 1971 veröffentlicht, ist ein Klassiker der katalanischen Literatur, der bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, dank des britischen Verlags Fum d’Estampa, der Bücher aus dem Katalanischen auf Englisch verlegt, aber kürzlich einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde. Ein informatives biografisches Essay im Nachwort erzählt zudem vom bewegten Leben der feministischen Autorin.

Rosa Ribas und Sabine Hofmann – Das Flüstern der Stadt (2014)

Via Laietana, Carrer de Pelai und die ganze Stadt

„Ana verspürte wieder die Niedergeschlagenheit, die sich ihrer bemächtigt hatte, je näher sie dem Polizeipräsidium in der Vía Layetana gekommen war. Sie kam von der Angst, die wie dichter Dunst aus den Eingeweiden des Gebäudes sickerte. Man wusste, dass in den Kellergeschossen gefoltert und getötet wurde, so wie man vieles wusste, über das man nicht offen redete … Die Angst hatte sich in den Mauern des Polizeipräsidiums festgesetzt und verbreitete sich wie eine ansteckende Krankheit in der Umgebung.“

Ein ganz besonderes Projekt ist die Krimi-Trilogie des Duos Rosa Ribas, eine barcelonesische Autorin, die 30 Jahre lang in Frankfurt lebte, und Sabine Hofmann. Die beiden Schriftstellerinnen haben die Kapitel nämlich abwechselnd in ihrer Muttersprache verfasst und dann die jeweils anderen Parts übersetzt. „Das Flüstern der Stadt“ sowie die zwei Nachfolgebände erzählen von der jungen Journalistin Ana Martí, die während der fünfziger Jahre in tiefster Franco-Diktatur versucht, politisch brisante Fälle aufzuklären. Der Mord an einer Arztwitwe führt sie durch die ganze Stadt, unter anderem zum Sitz der Geheimpolizei Brigada Político-Social in der Via Laietana 43 (heute befindet sich dort die Policía Nacional), berühmt-berüchtigt für franquistische Polizeigewalt und Folter. Mit ihren Ermittlungen begibt sich die anfangs noch unerfahrene, aber aufgeweckte Ana schnell selbst in Gefahr, als sie der Wahrheit bedrohlich nahekommt. „Das Flüstern der Stadt“ ist nicht nur ein spannender Krimi, sondern vermittelt auch ein gutes Gefühl für die erdrückende Atmosphäre im franquistischen Barcelona, die man sich heute so gar nicht mehr vorstellen kann.

Manuel Vázquez Montalbán – Der Pianist (1985, Deutsch von Maralde Meyer-Minnemann, 2001)

El Raval rund um den Plaça del Pedró

„In Vierteln wie diesem sind die Leute immer auf dem Balkon, um das Wenige zu sehen, was auf den Straßen passiert, und sie schmücken ihn wie den vorweggenommenen eigenen Garten, von dem sie träumen: Geranien, Federnelken, Spargelkraut, alles, was in diesen Straßen mit wenig Sonne wächst.“

Manuel Vázquez Montalbán gehört zu den bedeutendsten Schriftsteller*innen der Stadt. Nicht nur ist er in Barcelona geboren (in der Carrer d’en Botella 11 im Raval), mit Pepe Carvalho hat er eine der wichtigsten literarischen Figuren Barcelonas und der gesamten spanischen Literatur geschaffen. Seit 1972 ermittelt der Privatdetektiv und auch nach Montalbáns Tod im Jahr 2003 wurde die Serie fortgesetzt. Andere Romane des Autors sind ebenfalls in Barcelona angesiedelt – wie „Der Pianist“. Der Roman erzählt zunächst von der Stimmung während der Transición, dem Übergang von der Diktatur in die Demokratie, und von einem alten Pianisten, der eine Drag-Queen-Show musikalisch begleitet, wo er einem Bekannten aus seiner Vergangenheit wieder begegnet – eine Begegnung, die ihn und die Leser*innen in frühere Zeiten zurückversetzen. Der zweite Teil spielt während der Hochphase der Diktatur Mitte der Vierziger auf den Dächern des Ravals, der dritte führt ins Paris von 1936, kurz vor Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs – ein Ritt durch 50 Jahre spanische Geschichte, ein Buch über das Schicksal von Gewinnern und Verlierern. (Man sollte bei der Lektüre allerdings im Kopf behalten, dass sowohl Roman als auch Übersetzung etwas älter sind und somit auch einige Begriffe wie z.B. „Transvestit“.)

Miqui Otero – Simón (2020, Deutsch von Matthias Strobel, 2022)

Sant Antoni rund um die Markthalle und den Büchermarkt

„Es gab in Sant Antoni und folglich im Baraja, dieser Taxifahrerkneipe, die Synthese und Symptom des Viertels war, Schauspieler, die nicht schauspielerten, und Gäste jeglicher Couleur, die es dafür umso lieber taten. Sant Antoni strebte nach der semiprosperierenden Seriosität von Ensanche, doch es konnte, weil es an sie angrenzte, den Trubel des Barrio Chino und das Amüsiermeilige der Avenida Paral·lel einfach nicht abschütteln, diesem einstigen Mekka des populären Vergnügens mit seinen großen Theatern, deren Leuchtreklamen längst erloschen waren.“

1992 ist das Jahr der Olympischen Spiele in Barcelona, das Jahr, in dem sich die Stadt radikal verändert – und auch Simóns Welt verändert sich. Sein engster Vertrauter, der zehn Jahre ältere Cousin Rico, verschwindet spurlos aus seinem Leben. Alles sei in den Büchern, hat Rico Simón beigebracht, und so liest sich der titelgebende Held in Miqui Oteros Roman durch die Weltliteratur, um eine Spur von ihm zu finden. Gleichzeitig mit dem Erwachen der Stadt wird auch Simón langsam erwachsen, verlässt die Kneipe der Eltern, verlässt seine Heimatstadt, um später doch wieder zurückzukehren – genau wie Rico, der eines Tages vor ihm steht. In „Simón“ erzählt Otero nicht nur eine Coming-of-Age-Geschichte und das Geheimnis um Ricos Verschwinden, sondern auch von knapp dreißig Jahren Barcelona, angefangen bei Olympiade über die Wirtschaftskrise bis hin zum Jahr 2017 mit dem islamistischen Anschlag auf den Ramblas und dem gescheiterten Referendum. Das ist manchmal langsam erzählt, im Großen und Ganzen aber ein interessanter Roman. Wer Spanisch spricht, dem sei Oteros Vorgänger „Rayos“ empfohlen, der in den Straßen vom Raval spielt und etwas mehr Drive hat.

Jessica Andrews – Milk Teeth (2022, noch keine Übersetzung)

Poble-sec und Barcelona und Umgebung

„The stink of piss and rotten fruit oozes from the gutters as I wind my way past red-lit bars and cluttered bazaars, strings of plastic lights and tangled plants hanging from doorways. I used to love the thrill of being in a new place, feeling my outer layers cracking, my skin unpeeling, learning the cadence of a different way to live, but as I peer into shop windows filled with fridge magnets and football shirts, watching people drinking beer in the midday sun, I feel detached from it all.”

Während es in den Romanen von spanischen und katalanischen Autor*innen oft um den Bürgerkrieg und die Diktatur geht, hat die Engländerin Jessica Andrews in „Milk Teeth“ einen anderen Blick auf Barcelona: den eines Expats. Ihre namenlose Protagonistin lebt in London, als ihr Freund sich dazu entschließt, nach Barcelona zu ziehen. Die Erzählerin steht jetzt vor der Wahl, ebenfalls umzuziehen oder zu bleiben. Aber ist diese Wahl überhaupt freiwillig? „Milk Teeth“ verhandelt die Frage nach unserem Platz in der Welt, und im Falle des Romans in gleich doppelter Hinsicht, denn nicht nur die Frage um den Ort ist hier relevant, sondern auch die um das Verhältnis von Körper und Umgebung. „Milk Teeth“ ist ein körperliches Buch in dem Sinne, dass viele Emotionen (gerade Traurigkeit) direkt unter der Haut der Protagonistin liegen, und in dem Sinne, dass sie mit einer Essstörung zu kämpfen hat. Das Barcelona, das sie erlebt, ist eine Stadt der Fülle, der Farben, der Feigen, Mangos, Vino Tintos und Musik auf den Straßen, während sie versucht, Lust, Genuss und Hunger zulassen zu lernen.

Cristina Morales – Leichte Sprache (2018, Deutsch von Friederike von Criegern, 2022)

Barceloneta

„Wie herrlich sind die Sommerabende in La Barceloneta! Hier ist es fünf Grad kühler als im Rest der Stadt, die Luft wirkt sauber, und kaum betritt man das Viertel, sinkt die Zahl der Touristen pro Quadratmeter auf erträgliche Werte, da alte Charnegos und pakistanische Familien die Plätze besetzen, Tische und Stühle, Radios und Fernsehgeräte auf die Straße stellen und Karten oder Domino spielen und dabei Fußball oder die Spielshow Pasapalabra schauen. Die Touristen wagen sich nicht über den Wechsel der Pflasterung zwischen Bürgersteig und besetztem Platz und begnügen sich damit, aus der Entfernung ein paar Fotos zu machen.“

Ein riesiger Hit in Spanien und in Deutschland mit dem Internationalen Literaturpreis für Autorin Cristina Morales und Übersetzerin Friederike von Criegern ausgezeichnet: In „Leichte Sprache“ erzählt Morales von vier Schwestern und Cousinen mit geistigen Beeinträchtigungen verschiedenen Grades, die in einer betreuten Wohnung in Barceloneta leben. Das Buch sprengt sämtliche Konventionen: Vom Leben dieser Frauen wird in unterschiedlichen Textarten erzählt, ob als Gesprächsprotokoll von Plena der Häuserbesetzerszene, Gerichtsakten, Fanzine oder in Form einer Autobiografie, die als WhatsApp-Nachrichten verfasst ist. Morales stellt auch die Erwartungen der Leser*innen auf den Kopf. Trotz ihrer Behinderung sind die Perspektiven von Nati, Àngels, Patri und Marga intellektuell, wütend, feministisch, antifaschistisch und ironisch. Die eine ist sexuell sehr aktiv, die andere rebelliert gegen machistischen Strukturen ihres Tanzkurses, während die nächste in der anarchistischen Szene der Stadt aktiv ist. „Leichte Sprache“ ist ein unkonventioneller, komplexer und radikaler Roman, der zeigt, wie spannend zeitgenössische spanische Literatur ist.

Carmen Laforet – Nada (1945, Deutsch von Susanne Lange, 2005)

Carrer d’Aribau 36

„Tausenderlei Gerüche, Kümmernisse und Geschichten stiegen vom Pflaster auf, beugten sich über die Balkone oder aus den Hauseingängen der Calle de Aribau. Munter strömte eine Welle von Menschen von der eleganten Gediegenheit der Diagonal herunter. Vom bunten Treiben der Plaza de la Universidad kam ihr eine andere entgegen. Ein Schmelztiegel der verschiedensten Schicksale, Merkmale und Geschmäcker, das war die Calle de Aribau. Und ich: nur ein Teilchen darin, klein und verloren.“

Die originale Barcelona-Gothic-Novel ist nicht Zafóns „Schatten des Windes“, sondern „Nada“ von Carmen Laforet. Bereits die Publikationsgeschichte ist interessant: Laforet hatte den Roman mit 23 Jahren verfasst und konnte aufgrund ihres Geschlechts und ihres Alters die franquistische Zensur umgehen – man nahm sie schlichtweg nicht ernst. Dabei hat „Nada“ eine subtile, aber scharfe Gesellschaftskritik. Die Autorin erzählt von der jungen Andrea, ihrem Alter Ego, die in die Carrer d’Aribau zu ihrer Familie zieht und sich nicht nur mit ihren eigenen Dämonen, sondern auch mit denen ihrer Angehörigen auseinandersetzen muss. Das düstere Wohnhaus ist wie ein Mikrokosmos, dient als Metapher für die Gesellschaft, mit dem emotionalen, spirituellen und physischen Niedergang Spaniens in der Zeit nach dem Bürgerkrieg. Auch wenn die Atmosphäre in der Aribau und dem Eixample-Viertel heute ganz anders sind (die Ecke etwa ist als „Gayxample“ bekannt) – wer einen Eindruck von Andreas Haus bekommen will: Es handelt sich mutmaßlich um die Nummer 36, wo Carmen Laforet selbst lebte und heute eine Plakette an sie erinnert.

Mercè Rodoreda – Auf der Plaça del Diamant (1962, Deutsch von Hans Weiss, 2007)

Plaça del Diamant und angrenzende Straßen

„Und dann kamen wir zur Carrer Gran, ich zuerst, und er hinter mir her, und beide rannten wir, und nach Jahren erzählte er noch davon, wie wir uns kennengelernt hatten, Colometa und ich, auf der Plaça del Diamant, wie sie auf und davon lief und wie dann genau vor der Straßenbahnhaltestelle mit einem Mal der Unterrock auf den Boden fiel.“

Mercè Rodoreda (1908-1983) gilt als die wichtigste auf Katalanisch schreibende Schriftstellerin, ihr Roman „Auf der Plaça del Diamant“ ist Weltliteratur. „Plaça del Diamant“ ist auch das Buch, das die meisten nennen werden, soll es um den Barcelona-Roman gehen. In der Stadt ist man sich der Bedeutung bewusst: Der kleine Diamantenplatz im Viertel Gràcia würdigt Rodoreda sowohl mit einer Plakette als auch mit mehreren Zitaten aus dem Roman. In ihm erzählt die Autorin von Natàlia, genannt Colometa, die als naive, junge Frau Quimet heiratet. Als dieser im Spanischen Bürgerkrieg fällt, bleibt Colometa verarmt in Barcelona zurück und muss irgendwie versuchen, sich und ihre zwei Kinder durchzubringen. Der Krieg ist bei Rodoreda nah und fern zugleich: Es gibt keine Kampfszenen, der Einfluss auf die Zivilbevölkerung ist aber massiv. In ihrem Kampf ums Überleben begleiten wir Colometa mehrere Jahrzehnte lang und dabei, wie sich von gesellschaftlichen und patriarchalen Erwartungen befreit, wie auch ihre Sprache sich verändert und wie sie langsam wieder zu Natàlia wird. „Auf der Plaça del Diamant“ ist inhaltlich wie literarisch interessant und eine zwar nicht ganz offen kommunizierte, dennoch massive Kritik an der Diktatur – kein Wunder, dass Rodoreda das Buch im Schweizer Exil veröffentlichte. Bis heute wurde der Roman in mehr als 40 Sprachen übersetzt, verfilmt, fürs Theater adaptiert und ist in Katalonien Schullektüre.

Hannes Köhler – Götterfunken (2021)

Avinguda Meridiana und Cárcel Modelo

„Die bunten Tücher, die sie vor die Fenster genagelt hatten, wehten leicht im Abendwind und ließen nur spärliches Licht einfallen; von draußen dröhnte und knatterte der Verkehr auf der sechsspurigen Avenida Meridiana, der ihn seit der ersten Nacht bis in seine Träume verfolgte. Schlangen aus Lastwagen und Motorrollern krochen durch seine Nächte, endlose Runden drehend, niemals still, niemals ruhend. Selbst im fünften Stock war die große Ausfallstraße eine Mitbewohnerin, die sich in jedem Zimmer breitmachte, die immer ihren Raum einforderte, der man zuhören musste.“

In ein entlegenes Viertel, namentlich ins Clot, führt der Berliner Autor Hannes Köhler in seinem Roman „Götterfunken“. Genau dort, an der Avinguda Meridiana, befindet sich die konspirative Wohnung seiner Protagonist*innen, die in der Endphase der franquistischen Diktatur im anarchistischen Widerstand sind, in den sie teils aus Überzeugung, teils eher aus Zufall gerieten. Ein Sabotageakt misslingt und bringt einen von ihnen für Jahre ins Modelo-Gefängnis. Auf verschiedenen Zeitebenen und in mehreren Städten (darunter auch Frankfurt) wird erzählt, was damals wirklich geschehen ist – und die große Frage, die die Anarchist*innen seit Jahrzehnten plagt: Hat sie einer aus dem innersten Kreis verraten? Übrigens: Im Modelo wurde 1974 auch Salvador Puig Antich (dem deutschen Publikum bekannt aus dem Film „Salvador“, in dem Daniel Brühl Puig Antich spielt) durch eine Nackenschraube hingerichtet. Seit 2017 ist das Gefängnis, das mitten im Eixample liegt, außer Betrieb und kann mit einer Führung besichtigt werden.

Teresa Solana – Mord auf katalanisch (2006, Deutsch von Petra Zickmann, 2007)

Sarrià, Gràcia und Zentrum

„Das Taxi fuhr den Carrer Pelai ganz hinunter, und als es bei den Rambles angekommen war, stieg Lídia Font aus. Sie überquerte die Straße und betrat das Zurich, ein Café, das in früheren Zeiten einmal Charme besessen hat, nach der Renovierung jedoch zu einem faden Lokal geworden ist, in dem nur noch Touristen sitzen. Nichts erinnert mehr an das schäbige Café, den Treffpunkt der Linken, wo sich Marihuanaduft mit dem Pißgestank aus der Toilette mischte.“

Dass die zwei ungleichen Privatdetektive Eduard und Borja eigentlich Zwillinge und nicht nur Geschäftspartner sind, darf keiner wissen, ebenso wenig, dass Borja in echt Pep heißt. Dies sei besser für die Arbeit mit der vornehmen Klientel der Stadt, meint jener. Und in der Tat: In „Mord auf katalanisch“ von Teresa Solana ist es ein hochangesehener Politiker, der die Hilfe der Beiden braucht. Seine Frau betrüge ihn mit einem Maler, fürchtet er, ausgerechnet mit einem Linken! Aber natürlich ist der Fall nicht so einfach, wie er zu sein scheint. Für Eduard und Borja beginnt eine Spurensuche, die sie vor allem durch Sarrià und Gràcia, aber auch durch ganz Barcelona führt. „Mord auf katalanisch“ ist ein Krimi, der gerade in der Zeichnung der Nebenfiguren zu sehr den Genrekonventionen verhaftet ist, sich aber leichtfüßig und kurzweilig, teilweise auch witzig liest, und der es dank genauer Angaben möglich macht, Eduard und Borja auf ihren Wegen durch die Straßen, Kneipen und Geschäfte der Stadt zu folgen (es gibt im Anhang sogar die Adressen!).

Paco Roca – Der Winter des Zeichners (2010, Deutsch von André Höchemer, 2021)

Centre Cívic El Coll – La Bruguera

Einer der wichtigsten Verlage, der trotz (oder gerade wegen) der Diktatur große Erfolge feiern konnte, war der 1939 gegründete Bruguera Verlag, der günstige Populärliteratur in hohen Auflagen vertrieb, vor allem Comics, die zu jener Zeit sehr beliebt waren – darunter auch „Mortadelo y Filemón“, in Deutschland bekannt als „Clever & Smart“. Dass innerhalb des Verlags aber nicht immer alles glatt lief, davon erzählt Paco Roca in seiner Graphic Novel „Der Winter des Zeichners“. Auf zwei Zeitebenen, eine in Blautönen, die andere in Sepia gehalten, berichtet Roca von einem kleinen Aufstand Ende der fünfziger Jahre von fünf Zeichnern, die ihren eigenen Verlag gründen wollten. Aber: „Die Freiheit in einem unfreien Land hatte ihren Preis“, wie es im Anhang treffend heißt, in dem neben Kurzbiografien der Verlagsmitarbeitenden auch kurz die Situation des Verlags skizziert wird. Heute befindet sich im 1986 geschlossenen Bruguera im kleinen Viertel El Coll (direkt hinter dem Park Güell) übrigens ein Nachbarschafts- und Kulturzentrum.

Foto von Logan Armstrong

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner