Machtmissbrauch in der Musikbranche – „Row Zero“ von Lena Kampf und Daniel Drepper

von Isabella Caldart

TW: Beschreibungen von sexualisierter Gewalt

Als die Nordirin Shelby Lynn im Mai 2023 mit diversen Anschuldigungen gegen Till Lindemann und seine Band Rammstein an die Öffentlichkeit ging und weitere zumeist anonyme Frauen mit ähnlichen Erfahrungen folgten, wirkte es kurzzeitig so, als könnte sich in der deutschen Musikbranche etwas verändern. Dass dies nicht geschehen ist, dass der Erdrutsch ausblieb, ist hinlänglich bekannt.

Die Investigativjournalist*innen Daniel Drepper und Lena Kampf decken in Row Zero auf, was hinter den Kulissen der deutschen Musikindustrie abläuft. Der Titel deutet bereits an, dass die Rammstein-Affäre der Ausgangspunkt für dieses Buch war. Die beiden gehen aber weit darüber hinaus. Denn natürlich sind es nicht nur Musiker, sondern auch Manager, Produzenten, Booker und DJs, die Fans oder aufstrebenden Musiker*innen Gewalt antun und ihre Machtpositionen ausnutzen.  Zahlreiche solcher Fälle werden zusammengetragen und nuanciert beschrieben, die teils justiziabel, teils „nur“ moralisch verwerflich sind.

Tausende schauen weg

Betrachtet man die vielen Beispiele in  Row Zero, die größtenteils ohne Konsequenzen geblieben sind, wird klar: Meist lässt man Stars ziemlich viel durchgehen. Kampf und Drepper rollen bekannte Fälle auf (wie etwa Marilyn Manson, R. Kelly, Bushido und Gzuz), verweisen aber auch auf Gewalt und Machtmissbrauch in anderen Bereichen, wofür sie mit rund 200 Menschen aus dem Musikbusiness gesprochen haben. Was dabei auffällt, auch wenn es wenig überrascht: Abgesehen von den Namen, die durch die Presse gingen, bleiben die anderen Täter anonym. Und zumeist auch jene, die Kampf und Drepper interviewen. So glaubhaft ihre Aussagen sind, so wenig lassen sie sich in den meisten Fällen belegen. Viel ist im Konjunktiv verfasst; oft heißt es, dass die Anschuldigungen nur bis zu einem gewissen Punkt überprüft werden können, und jene, denen Fehlverhalten vorgeworfen wird, reagierten nicht auf Interviewanfragen.

Sehr wahrscheinlich haben sämtliche Branchen, gerade jene, die so stark hierarchisiert sind, das Problem, dass Macht gnadenlos ausgenutzt wird. In der Entertainmentindustrie kommt hinzu, dass dieses Verhalten von Fans oft ignoriert oder gar gedeckt wird. Auch deswegen bleiben viele Betroffene anonym, wollen nicht einmal die Namen der Täter nennen: aus Angst davor, verklagt zu werden, Angst davor, nicht mehr in der Musikbranche arbeiten zu können, Angst vor (anderen) Fans. Kaum hatte Shelby Lynn am 25. Mai 2023 getweetet, „I was the girl that was spiked at Rammstein”, bekam sie dutzende Vergewaltigungs- und Mordandrohungen. Nika Irani, die im Juni 2021 den Deutschrapper Samra der Vergewaltigung bezichtigte, erlebte ähnliches. Und erinnern wir uns an den Frühling 2022, als die Gerichtsverhandlung von Johnny Depp und Amber Heard öffentlichkeitswirksam ausgeschlachtet wurde. Nicht nur unbekannten Frauen, auch Promis kann übel mitgespielt werden, sobald sie einen mächtigeren Mann einer Straftat beschuldigen.

Interessant ist, dass gerade im Rock und Hip-Hop, wo eine „Bad Boy“-Attitüde und deviantes Verhalten sozusagen zum guten Ton gehören, viele Musiker in ihren Lyrics, Musikvideos, in Interviews und Autobiografien erstaunlich viel von sich preisgeben. Sie verstecken sich hinter ihrer Kunstfigur – nicht umsonst heißt eine ausführliche Reportage im Rolling Stone über Marilyn Manson „The Monster Hiding In Plain Sight“. Ähnlich bei R. Kelly, der unter anderem 1994 das Album von Aaliyah mit dem sprechenden Titel „Age Ain’t Nothing but a Number“ produzierte und die 15-Jährige kurz darauf heiratete. R. Kelly war zu dem Zeitpunkt 27 Jahre alt.

Bereits im Dezember 2000, so erzählen Drepper und Kampf in Row Zero, wurde in einer Chicagoer Lokalzeitung zum ersten Mal eine Recherche veröffentlicht, in der es hieß: „Der in Chicago lebende Sänger R. Kelly hat seine Macht und seinen Einfluss als Pop-Superstar ausgenutzt, um mit fünfzehnjährigen Mädchen Sex zu haben. Das zeigen Gerichtsunterlagen und Interviews.“ Wie wir wissen, brauchte es Jahrzehnte und die unermüdliche Recherche des Journalisten Jim DeRogatis, bis diese Vorwürfe in der Öffentlichkeit wirklich wahrgenommen wurden und schließlich vor Gericht landeten. Im System R. Kelly müssen Hunderte, wenn nicht Tausende weggeguckt oder ihm sogar geholfen haben.

Till Lindemann und sein „lyrisches Ich“

An dieser Stelle sei mir ein kurzer Exkurs erlaubt, der über den Inhalt von Row Zero hinausgeht. Lena Kampf und Daniel Drepper bleiben in ihrem Buch bei der Musikindustrie. Wenn wir über Lindemann sprechen, müssen wir aber einen Blick auf die Mitschuld der Buchbranche werfen. Denn auch er ist jemand, der sich jahrzehntelang hinter seiner Kunstfigur versteckt hat, dabei aber in seinen Songtexten, Musikvideos und bei Rammstein-Auftritten viel über sich erzählte. Und in seinen Gedichten. In seinem im Jahr 2020 im Verlag Kiepenheuer & Witsch publizierten Band 100 Gedichte  heißt es: „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst/Wenn du dich überhaupt nicht regst.“ Genau das also, was ihm von anonymen Frauen und teilweise von Shelby Lynn (die sagt, sie wurde unter Drogen gesetzt, aber nicht vergewaltigt) ihm vorwerfen.

Nach der öffentlichen Empörung wegen ebendieser Textzeile veröffentlichte KiWi im April 2020 ein Statement von Helge Malchow, Editor-at-large, in dem dieser auf das „lyrische Ich“ von Till Lindemann verwies und sich über die „moralische Empörung“ echauffierte. Fast schon süffisant und von oben herab erklärte er, „die Differenz zwischen lyrischem Ich und Autor ist aber konstitutiv für jede Lektüre von Lyrik wie von Literatur allgemein und gilt für alle Gedichte des Bandes wie für Lyrik überhaupt. Andernfalls wären keine literarischen Fiktionen und Phantasien des Bösen, der Gewalt […] möglich und die Freiheit der Kunst damit hinfällig.“ Außerdem sprach er von einer „persönlichen Diffamierung des Autors“. Die Lyrikerin Nora Gomringer schlug damals in einem Text für den Freitag in eine ähnliche Kerbe, als sie die „Hypermoralisierung“ beklagte.

Für die oft beschworene Formel, den Künstler von der Kunst zu trennen (oder eben nicht) gibt es keine Richtlinien. Es ist eine gesellschaftliche wie eine persönliche Aushandlungssache, bei der auch Verlage in die Verantwortung gezogen werden können. Von den Kritiker*innen an Lindemanns Gedicht hat niemand angezweifelt, dass es generell einen Unterschied zwischen Autor*in und lyrischem Ich gibt. Vielmehr ist eine Frage, ob Vergewaltigungsfantasien, auch wenn sie „nur“ vom lyrischen Ich geäußert werden, wirklich in dieser Form abgedruckt, Lindemann als eine Art „finsterer Romantiker“ hätte verklärt werden sollen. Bei der Bewertung ist es egal, ob derartige Aussagen juristisch von der Kunstfreiheit gedeckt sind. Schließlich geht es in dem Fall um eine moralische, nicht um eine juristische Fragestellung. Auf bittere Weise ist es ironisch, wie sich der ernste Kern dieser Gedichtzeile drei Jahre später offenbaren sollte. Von Helge Malchow übrigens kam nie eine Entschuldigung. Der KiWi Verlag beendete im Juni 2023 seine Zusammenarbeit mit Lindemann.

Lindemann ist da nicht der Einzige. Man muss sich nur die Gewalt anschauen, die Marilyn Manson, the monster hiding in plain sight, genüsslich in seiner Autobiografie The Long Hard Road out of Hell (1998) ausbreitet. Die deutsche Übersetzung im Hannibal Verlag ist übrigens immer noch lieferbar. Oder Rammstein-Keyboarder Christan „Flake“ Lorenz, der in seinem Buch Heute hat die Welt Geburtstag (S. Fischer 2017) schreibt, „Wenn eine Frau überraschenderweise doch einmal nicht nein sagte, lag das größtenteils daran, dass sie noch betrunkener war als ich“, wie Drepper und Kampf zitieren. Das kann man natürlich schreiben. In Row Zero gibt es jedoch die ausführliche Schilderung einer Frau, die erzählt, wie sie als 17-Jährige „Sex“ mit dem 36-jährigen Flake hatte. Erst sehr viel später sei ihr bewusst geworden, sagt sie, wie betrunken sie gewesen sei, und dass sie nicht mehr reagieren konnte. „Ich habe es geschehen lassen. Ich war wie off, abgetrennt von mir selbst.“

Ein System der Machtasymmetrien

Die Quintessenz von Row Zero: Ein Täter kommt selten allein. Es ist ein ganzes System, das ihm dieses Verhalten ermöglicht. Nicht nur Stars sind Täter, auch wenn sie der Fokus in diesem Artikel sind. Und das System, das dieses Verhalten ermöglicht, beinhaltet nicht nur Menschen, die den Musikern Frauen „beschaffen“, nicht nur Mitwisser, die den Star decken, nicht nur Fans, die Whistleblower*innen bedrohen. Es ist eine ganze Branche, die, das macht Row Zero klar, wegen ihrer krassen Machtasymmetrien und Hierarchien durch und durch toxisch ist. „Unserer Erfahrung nach geht es bei der Aufdeckung von Missständen oder dem Missbrauch von Macht meist um weit mehr als das Fehlverhalten Einzelner. Es geht um eine Art Organisationsversagen. Es geht um fehlende Kontrolle oder Sanktionen, um Mitwissende, die die Taten decken oder ganz einfach schweigen“. So bringen es Drepper und Kampf auf den Punkt.

Und: „Es gibt immer Machtgefälle und Abhängigkeiten, die ausgenutzt werden.“ Die bestehen zwischen Star und Fan selbst dann,  wenn der Sex einvernehmlich ist. Row Zero zitiert einen zumindest öffentlich geläuterten Savaş Yurderi, der als Kool Savas mit Songs wie „Lutsch mein Schwanz“ Karriere gemacht hat, aus einem Spiegel-Interview: „Es gibt Machtstrukturen […] Bist du dort erfolgreich, bist du in gewisser Hinsicht mächtiger als deine Fans. Punkt. Deshalb sage ich ja: Es ist ganz generell ein Problem, mit Fans Sex zu haben.“ Oder um es mit der jungen Frau zu verdeutlichen, die mit Drepper und Kampf gesprochen hat und ihrer Aussage zufolge Sex mit Lindemann hatte: „Ich will nicht sagen, dass das eine Vergewaltigung war, weil ich ja zugestimmt habe, aber ich war jetzt auch nicht offensichtlich glücklich darüber, was da passiert.“ Nach dieser Begegnung habe sie sich selbst nicht wiedererkannt. Sie habe „das Gefühl, durch das ganze Geschehen, die Rekrutierung und den Sex in der Garderobe ‚als Sexobjekt‘ entmenschlicht worden zu sein“.

Und jetzt?

In der deutschen Musikszene gab es zwei Momente, bei denen man Hoffnung haben konnte, es käme zu einer eigenen #MeToo-Welle, die etwas verändern würde. Einmal, als nach den Anschuldigungen von Nika Irani gegen Samra #DeutschrapMeToo auf Twitter trendete und viele unter diesem Hashtag ihre eigenen Erfahrungen schilderten. Und einmal, als Shelby Lynn an die Öffentlichkeit trat und viele weitere Frauen folgten. Und jetzt?

Allgemein ist Ernüchterung eingetreten, dass sich auch jetzt nichts getan hat, Rammstein trotzdem ausverkaufte Konzerte spielten.  Auch die Musikerin Susann Hommel, die zusammen mit anderen Frauen Music S Women* gründete, ein Netzwerk, das sich für die Gleichstellung von FLINTA*-Personen in der Musikbranche einsetzt, hat den Mut verloren, „die Musikindustrie über den Fall Lindemann grundsätzlich auf[zu]rütteln“. Sie sei müde, gar verbittert. „Sie habe gehofft, dass für Aufklärung und Transparenz gesorgt werde, aber jetzt werde alles einfach so laufen gelassen, sagt sie uns später am Telefon. Der Erdrutsch, den sie im Sommer erwartet habe, sei ausgeblieben.“

Genau deswegen sind Bücher wie Row Zero so wichtig. Auch wenn gegen viele Formen des Machtmissbrauchs juristisch nicht vorgegangen werden kann, kann dennoch gesamtgesellschaftlich ein moralisches Urteil gefällt werden. Reportagen, Dokus, Podcasts und Bücher wie Row Zero  sind ein enorm wichtiges und teilweise das einzige Mittel, um das Gespräch über ebendiese Künstler und das Verhalten, für das sie exemplarisch stehen, am Laufen zu halten. Um nicht zu vergessen, nicht unter den Teppich zu kehren, kein einfaches Zurück zu einem Business as usual ermöglichen. Damit sich eines Tages vielleicht doch etwas ändert. Sowohl für die mutmaßlichen Täter als auch dass es eine Art Gerechtigkeit für ihre Opfer gibt – und damit es zukünftig in ähnlich gelagerten Fällen gar nicht erst soweit kommt, dass Opfer so lange zum Schweigen gebracht werden.

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Foto von Maëva Vigier

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