von Rebekka Endler
CW: Sexualisierte Gewalt/ Pädokriminalität
Der Plot des Films klingt so platt, dass es schon ein paar besonders raffinierter Wendungen bedurft hätte, um etwas zu sagen zu haben – aber auf die wartet man in “Miller’s Girl” (2024) vergeblich. Ein junges Mädchen (Jenna Ortega) sinniert in schwülstigen Worten darüber, “not a girl”, aber auch “not yet a woman” zu sein. Gerade 18 geworden und von einer Sehnsucht nach prickelnden Abenteuern heimgesucht, geht dieses Mädchen in den tiefen, grünen Wald, gerät vom Weg ab und trifft auf den bösen Wolf, beziehungsweise in der Schule auf ihren Literaturlehrer (Martin Freeman). Obwohl sie auf eine winzige Schule mit gerade mal 50 Schüler*innen zu gehen scheint, hat sie den seltsamerweise noch nie zuvor gesehen.
Der Film verlangt von den Zuschauer*innen, jeglichem Bedürfnis nach Logik und Glaubwürdigkeit für die nächsten 93 Minuten abzuschwören. Aus lauter Langeweile und weil ihre bisexuelle/lesbisch-verruchte beste Freundin Winnie (Gideon Adlon) sie anstiftet, beschließt Kairo, sexuell aktiv zu werden. Und wer sollte sich besser dazu eignen sie zu “deflorieren” als ein Penis aus “gut abgehangenem Fleisch”? Dieser Penis gehört natürlich Jonathan Miller, dem gescheiterter Romancier, jetzt Lehrer, der von seiner Frau, einer fiesen, alkoholkranken Karrieristin unterjocht wird und deswegen nicht nur unbefriedigt, sondern sexuell frustriert ist.
Kairos sexy Aufmachung, die Unschuld und Verheißung gleichermaßen verkörpert (und an eine Mischung aus früher Britney Spears und Wednesday Adams erinnert) und ihre Genialität (sie kann auswendig aus der kommerziell erfolglosen Kurzgeschichtensammlung ihres Lehrers zitieren), regt etwas in dem Mann und für einen kurzen Moment wirft er alle Vorsicht und Vernunft über Bord und verfällt ihrem diabolischen Charme. Ein Fauxpas, den er mit allem, was er besitzt, bezahlen wird. Seine ungelenken Versuche, die unangemessene Affäre doch noch zu beenden, triggern natürlich nur die psychopathischen Züge der Schülerin und sie schlägt ihn mit seinen eigenen Waffen: Literatur! Denn während er nur noch mit Platzpatronen schießt und seit Jahren keinen ganzen Satz mehr zu Papier bringt, feuert sie aus vollen Rohren. Ihr Aufsatz über ein Mädchen und ihren Lehrer und das, was war, oder was vielleicht auch nicht war, kostete ihn den Job und seine Ehe. So wird der gute Mann ganz neumodisch gecancelt.
“Miller‘s Girl” hat auffällig viele Parallelen mit einem anderen Film, der vor dreißig Jahren erschienen ist. Auch in diesem Film geht es um einen Mann mittleren Alters, dessen Leben von einer Fille Fatale ruiniert wird. Damals angeblich von wahren Ereignissen im Leben des Autors, sein Name ist Alan Shapiro, inspiriert. Shapiro hat sich von seiner Cancellation nicht nur gut erholt, er schrieb daraufhin auch das Drehbuch für sein Langspiel-Debüt, den biographischen erotischen Thriller “The Crush” (1993).
In “The Crush” ruiniert die gerade einmal vierzehnjährige Adriane Forrester das Leben eines doppelt so alten Autors, der sich in die Einliegerwohnung ihrer Eltern einmietet, um dort seinen nächsten literarischen Wurf zu schreiben. Doch anstatt das zu tun, stalkt er das Kind, fühlt sich von ihren Avancen geschmeichelt, küsst Adriane und als ihm klar wird, dass das, was er da macht, ihn ins Gefängnis bringen könnte, unternimmt er einen Versuch, die Sache zu beenden. Aber auch hier – so einfach zieht sich kein Mann aus der Affäre mit einer Fille Fatale!
Genau wie bei Kairo triggert die Zurückweisung nur das psychopatische Genie Adrianes und sie versucht, ihre erwachsene Konkurrentin zu ermorden und den unschuldigen Mann durch falsche Anschuldigungen der Vergewaltigung in den Knast zu bringen. Am Ende jedoch kann der rechtschaffende Mann seine vermeintliche Unschuld beweisen und Adriane wird statt seiner in einer psychiatrischen Klinik weggesperrt. Der Film endet damit, dass sie sich schon den nächsten unschuldigen Mann, ihren Psychiater, als Opfer auserkoren hat.
Was man aus diesen Filmen lernt: Es kann jeden treffen! Das scheint auch schon der ganze Reiz dieses Genres zu sein. Die vielen Teen Seductresses da draußen könnten sich auch dich, belanglosen, mittelalten Mann als ihr nächstes Opfer aussuchen und du wirst ihnen hilflos ausgeliefert sein! Die Fille Fatale ist quasi eine Miniversion der Femme – aber gleichermaßen, wenn nicht sogar noch mehr: fatal. Völlig egal, ob es sich um deine Schülerin, die Freundin deiner Tochter oder deine Patientin handelt, sie wird dich finden, um den Finger wickeln und zu Fall bringen. Die Tatsache, dass du dich trotz, oder wegen ihres jungen Alters zu ihnen hingezogen fühlst und unangemessene, kriminelle Gedanken ihretwegen hegst, ist zwar zusätzlicher Nervenkitzel, fällt schlussendlich aber nichts ins Gewicht.
Diese Nymphen-artige Verführerin ist die Böse, sie hat Grenzen überschritten. Ein normaler Mann ist machtlos gegen so viel machiavellistische, kriminelle und sexuelle Energie. Und so ist die Fille Fatale eine bequeme Möglichkeit für den alten weißen Mann, seiner pädosexuellen Phantasie im Schutzraum der Kultur freien Lauf zu lassen und sich gleichzeitig als Opfer einer gefährlichen weiblichen Sexualität zu wähnen. Ein Szenario mit standardmäßig eingebauter Täter-Opfer-Umkehr.
Die Lust der Männer, sich selbst als Opfer weiblicher Teenies zu sehen, schien in den späten 80er, 90er Jahren groß zu sein. “The Crush” war nur einer von vielen Fille Fatale-Filmen, die in diesen Jahren produziert wurden. Am 3. Januar 1993 wurde zur Primetime auf ABC die Eigenproduktion “The Amy Fisher Story” mit Drew Barrymore in der Hauptrolle ausgestrahlt. Zeitgleich lief bei der Konkurrenz CBS mit “Casualties of Love: The Long Island Lolita“,ebenfalls eine Eigenproduktion, mit Alyssa Milano in der Hauptrolle. Beide Filme behandeln denselben Stoff. Vorlage ist ein Kriminalfall aus dem Vorjahr, in dem die damals siebzehnjährige Amy Fisher des versuchten Mordes an Mary Jo Buttafuoco, der Ehefrau von Joey Buttafuoco angeklagt und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
Aus Eifersucht habe sie, ein psychopathisches junges Mädchen, die Ehefrau ermorden wollen, weil diese ihrer Romanze mit Buttafuoco im Wege stand – eine archetypische Fille Fatale also. Wochenlang dominierte die Berichterstattung um das normschöne Teeniemädchen, das den catchy Spitznamen “The Long Island Lolita” erhielt, die Medien und spurte schon mal die Trasse, die dieselben Medien ein paar Jahre später mit Monica Lewinsky einschlagen würden. Denn auch Lewinsky war die Verführerin, eine fatale Praktikantin, die einen unschuldigen Präsidenten um ihren lasziven Finger wickelte und in ihrem dunkelblauen Kleid fast seine Ehe zerstörte und (fast) einen Präsidenten zu Fall brachte. Lewinsky, die zum Zeitpunkt ihrer Affäre mit Bill Clinton immerhin schon 21 Jahre alt war, und Fisher passten scheinbar nur zu gut in die kulturell vorgeformte Mulde der Fille Fatale.
Dabei erzählen die Machtverhältnisse bei genauerer Betrachtung natürlich eine andere Geschichte. Erst nach Monaten der Dauerberichterstattung und nachdem sowohl Joey Buttafuoco als auch Fisher die TV-Rechte an ihren Lebensgeschichten verkauft hatten, um Kanzleikosten zu bezahlen, kam ans Tageslicht, dass Buttafuoco nicht das unschuldige Opfer war, als das er sich selbst erfolgreich inszeniert hatte. Nicht nur hatte er tatsächlich über ein Jahr lang ein sexuelles Verhältnis mit der minderjährigen Fisher, was er bis dahin geleugnet hatte, sondern er soll sich auch konstant bei Fisher über seine Ehefrau beschwert und laut darüber nachgedacht haben, wie viel einfacher sein Leben wären, wenn es sie nicht gäbe.
Fisher glaubte ihm auch die Lüge, dass ihr, sollte sie seine Frau aus dem Weg räumen, nichts passieren könnte, da sie vor dem Gesetz noch ein Kind sei. Dass der Mann, der neben seiner Autowerkstatt auch als Rekrutierer junger Mädchen für einen lokalen Escort-Service arbeitete, Fishers Zuhälter geworden war und Drogen verkaufte, war nur das Spitze des Eisbergs dessen, was nicht in das Szenario des unschuldigen Mannes, der durch einen Teenie ruiniert wurde, passen wollte.
Doch die Frage, wer da eigentlich Macht über wen hatte, schien sich in den 90er Jahren weder auf noch hinter der Leinwand wirklich zu stellen. Zu gut gefiel den Filmemachern und dem Publikum die Möglichkeit, durch diese Geschichten ein Tabu zu brechen und eine, wenn auch komplett fabulierte, Sexualität junger Mädchen zu zeigen. Gleichzeitig musste sich kein Mann schlecht deswegen fühlen, weil ja stets die Mädchen die Täterinnen waren. Das ist der Grund, warum lange bevor die angebliche Cancel Culture zu einem reaktionären Dauerbrenner wurde, der angeblich gecancelte Mann Alan Shapiro mit seinem angeblich autobiographischen “The Crush” einen internationalen Hit landen konnte. Der Machtmissbrauch ging in diesem Fall noch weiter: Nachdem der Film in den USA veröffentlicht wurde, klagte eine junge Frau namens Dariane Forrester gegen Shapiro und das Filmstudio und erwirkte vor Gericht, dass “Dariane” in “Adriane” umbenannt wurde und der Film für den VHS-Vertrieb nachsynchronisiert werden musste. Shapiro hatte in seinem Drehbuch ihren echten Namen, also den eines vierzehnjährigen Kindes, benutzt und sie so aller Welt als psychopathische sexbesessene Nymphette verhöhnt.
Es ist allerdings auch egal, ob der Stoff fiktiv oder von echten Ereignissen inspiriert war, denn die Existenz dieser Filme lässt die Grenzen zwischen Leinwand und Leben für Teile des Publikums verschwimmen. Die jungen Schauspielerinnen sind für sie identisch mit den Filles Fatales, die sie verkörperten. Für die meist minderjährigen Schauspielerinnen begann spätestens mit Veröffentlichung der Filme eine öffentliche Sexualisierung, die ihre Kindheit vorzeitig beendete und ihr Leben veränderte. Alicia Silverstone, die Adriane Forester in “The Crush” spielt, war zu Beginn der Dreharbeiten 15 Jahre alt und musste sich von einem Gericht volljährig erklären lassen, sprich, ihren Eltern das Sorgerecht entziehen. Das war eine Bedingung des Filmstudios, damit die Produktion die Child Protection Laws umgehen konnte und Silverstone für Überstunden, teilweise bis tief in die Nacht, eingesetzt werden durfte. Silverstone wurde mit Erscheinen des Films zum Sexsymbol, als Minderjährige. Es folgten drei Videodrehs für die Band Aerosmith, in denen sie mit erwachsenen Männern rumknutschen musste, darunter eines mit Liv Tyler, Tochter von Frontmann Steve Tyler, die zu dem Zeitpunkt 15 Jahre alt war. Zu Silverstones 18. Geburtstag schrieb der US-amerikanische Rolling Stone ein Portrait über sie, das wie folgt beginnt:
Alicia Silverstone ist ein kätzchenartiges, 18-jähriges Filmsternchen, mit dem viele Männer Sex haben wollen. „Diese Rolle bin ich nicht“, sagt Silverstone. „Was die Leute über mich denken, was sie mit mir machen wollen – das kann ekelhaft sein.“ Über Drew Barrymore, die gleich mehrmals als Teen Seductress zu sehen war (u.a. „Poison Ivy” (1993)), oder Mena Suvari, die in “American Beauty” (1999) Angela spielte, lassen sich nach Erscheinen der Filme ähnliche Takes lesen. Ganz zu schweigen von Dominique Swain, die in der “Lolita”-Verfilmung von 1997 neben Jeremy Irons die Hauptrolle hatte und sich im Anschluss daran monatelangen medialen Tiraden rund um ihre Person, ihre Jungfräulichkeit und ihre Beziehungen über sich ergehen lassen musste, während sie gleichzeitig vertraglich gezwungen war, den Film zu vermarkten und Interviews zu geben.
Eine Gemeinsamkeit von der die Mädchen später, als Erwachsene erzählen: Nicht die Arbeit am Film selbst habe sie traumatisiert, sondern das, was ihnen im Anschluss durch Medien und Gesellschaft angetan wurde. Der Wunsch über die Körper und Leben von jungen Mädchen zu verfügen, erweckt bei zahlreichen Männern offenbar die Wahnvorstellung, dass es allein juristische Gründe sind, die sie davon abhalten, Sex mit jungen Schauspielerinnen zu haben. Dinge wie öffentliche Countdowns bis zu ihrer Volljährigkeit waren eine Realität im Leben der prominenten Mädchen der 90er und 00er Jahre. Dazu gehören auch Natalie Portman, die beim Dreh von “Leon der Profi” (1994) gerade einmal 12 Jahre alt war und sich in den vergangenen Jahren mehrfach dazu geäußert hat; oder Brooke Shields, die als 12-Jährige eine 11-jährige Prostituierte in “Pretty Baby” (1977) spielte. Im gleichnamigen autobiographischen Dokumentarfilm von 2023 erzählt Shields ihre Geschichte und wie diese frühkindliche Sexualisierung ihr Leben, ihre eigene Sexualität und ihr Verhältnis zu Männern gestört und erschwert habe.
Die letzten Jahre mit #metoo haben uns unbestritten feministischen Fortschritt gebracht. Teile der Gesellschaft sind sensibler in Fragen sexualisierter Gewalt geworden. Das sehen wir gerade in Frankreich, wo die Schauspielerin Judith Godrèche nach dreißig Jahren einen erneuten Versuch wagte, Gerechtigkeit für das einzufordern, was ihr, laut ihren Anschuldigungen, die Regisseure Benoit Jacquot und Jacques Doillion in ihrer Kindheit angetan haben. Erneut deswegen, weil Godrèche es schon als einunzwanzigjährige Frau versucht hatte, unmittelbar nachdem sie sich aus der missbräuchlichen Beziehung zu Jacquot befreit und ihre Erfahrungen in einem auto-fiktionalen Roman verarbeitet hatte. Doch weniger das Buch “Point de côté” (Seitenstich) als Godrèche selbst erregte damals (1995) mediales Aufsehen.
Alle wollten sie sehen, die flügge gewordene Kind-Muse des cineastischen Genies, die plötzlich meinte, sich von ihrem “Macher” emanzipieren zu können. Alte Interviewausschnitte, die aktuell in Frankreich Teil der Berichterstattung um das #metoo-cinema sind, zeigen deutlich, dass Godrèche damals in erster Linie aus voyeuristischer Sensationsgier in die Sendungen eingeladen wurde – man wollte sie auch weiterhin begaffen. Nur wirklich zuhören, das wollte man nicht. Sonst hätte man vielleicht schon damals verstanden, dass einem Kind die Kindheit geraubt wurde, und dass ein minderjähriges Mädchen unter dem Vorwand einer Liebesbeziehung zu einem mehr als doppelt so alten Mann in ein ausbeuterisches, missbräuchliches sexuelles Verhältnis gedrängt wurde, in dem sie keinerlei eigene Handlungsmacht besaß.
Ein Interview von 1995 auf dem Fernsehsender TFI, das Godrèche im Gespräch mit einer Moderatorin zeigt, endete damit, dass den Zuschauer*innen zum Abschluss ein Auszug aus – mit den Worten der Moderatorin – “Jacquots wunderschönem ‚La Désenchantée‘ gezeigt wird, ausgerechnet dem Film, mit dem Godrèches Misshandlungen begannen. Dieser kurze Austausch offenbart das ganze patriarchale Ungleichgewicht, das in dem Konzept der Muse steckt. Als Mädchen oder Frau ist es vollkommen egal, was du selbst erschaffst und machst, am Ende bist du doch “nur” die Inspiration, oder schlimmer noch, “das Werk” des cineastischen Genies. Die Gesellschaft interessiert sich ohnehin nur für seinen Output, denn nur der ist nun einmal Kunst.
Die Umstände, unter denen diese Kunst erschaffen wurde, scherte in den 90er Jahren niemanden, und das sollte auch noch bis in die 2010er so weitergehen, obwohl Jacquots nie ein Geheimnis aus seinen Neigungen und Taten gemacht hat. Im Gegenteil, seine pädosexuellen Misshandlungen waren Teil seines Images als großer Regisseur, das er öffentlich pflegte. So beispielsweise in der dreiteiligen französischen Dokuserie “Les Ruses du désir” (Die Listen des Verlangens) des Psychoanalysten und Filmemachers Gerard Miller, der nun selbst ebenfalls von mehreren Frauen sexualisierter Gewalt beschuldigt wird.
In der Folge “L’interdit” (Das Verbotene), die 2011 zur Primetime im französischen Fernsehen lief (PLANÈTE+), erzählt Jacquot davon, wie er, gleich dem großen Künstler Pygmalion weibliche Figuren aus dem Nichts erschafft: diese jungen Mädchen sind sein Werk. Er preist auch offen die Privilegien, die er als Filmemacher genießt, komplett unbehelligt seinen pädosexuellen Neigungen nachgehen zu können. Er erntete dafür die Anerkennung und den Neid derer, deren sozialer und kultureller Status ein derartiges Verhalten nicht legitimiere.
Genau das ist es, was Godrèche meint, wenn sie heute in den Medien die “Omerta der Filmindustrie” beklagt. Es geschah unter aller Nase, doch der soziale Maulkorb ist in Frankreich, wo die intellektuelle Oberschichte bis heute auf einem Sockel thront, der sich lange unantastbar anfühlte, ein machtvolles Instrument der Unterdrückung. Was für die Filmindustrie galt, galt für die gesamte Hochkulturszene Frankreichs. Als die kanadische Journalistin Denise Bombardier 1990 live im kanadischen Fernsehen dem französischen Kulturbetrieb vorwarf, den Schriftsteller Gabriel Matzneff für seine pädosexuellen Aktivitäten einen Freifahrtschein auszustellen, und seine aus missbräuchlichen Beziehungen mit kleinen Mädchen entstandenen Bücher seit den 70er Jahren als Literatur zu feiern, obwohl es in Wirklichkeit nichts weiter als Dokumentationen von Kindesmissbrauch seien, war sie es, die dafür angefeindet wurde.
Nicht etwa Matzneff, sondern Bombardier wurde deswegen im französischen Feuilleton jahrelang mit Hass und Häme überschüttet, der große Romancier konnte ungerührt “weitermachen”. Was genau das heißt, bleibt bis heute unklar. Gesichert ist, dass Matzneff jahrzehntelang weiterhin mit Veröffentlichungen über den Missbrauch minderjähriger Mädchen seinen Lebensunterhalt verdiente. Bis eines dieser Mädchen, die Verlegerin Vanessa Springora, 2020 “Le consentment” (Die Einwilligung) veröffentlichte, einen autobiographischen Essay, in dem sie ihre Sicht, auf das, was Matzneff ihr zwischen ihren 14. und 16. Lebensjahr angetan hat, schildert. Sie beschreibt darin auch den Schutz, den er seitens Kultur und Pariser Bourgeoisie genossen habe.
Ebendieses Buch landete 2022 im US-amerikanischen Briefkasten von Judith Godrèche, die vieles ihrer eigenen Geschichte in Springoras Erzählungen wiederfand und was, laut eines Statements auf Godrèches Instagram Kanal, letztendlich den Ausschlag gab, noch einmal einen Anlauf Richtung Gerechtigkeit zu nehmen. Und dieses Mal scheint die französische Öffentlichkeit reifer zu sein. Innerhalb weniger Wochen haben sich nicht nur dutzende weitere, teilweise sehr prominente Betroffene öffentlich geäußert, auch die Schutzmauer um die mutmaßlichen Täter bröckelt merklich.
Das ist auch in den USA zu beobachten, wo im März diesen Jahres die fünfteilige Dokuserie Quiet On Set, the Dark Side of Kids TV erschien und von den pedosexuellen Übergriffen bei Nickelodeon in den späten 90er und frühen 2000er Jahren handelt. Mehrer ehemalige Kinderstars erheben dort schwere Vorwürfe gegen einige Nickelodeon-Mitarbeiter und teilweise verurteilte pedosexuelle Straftäter. Sowohl vor als auch hinter der Kamera seien Minderjährige zu missbräuchlichen Handlungen gezwungen worden. Einige der in Quiet on Set genannten Täter sind von Gerichten verurteilt worden, doch die Doku deckt auch auf, welche prominenten Fürsprecher die Täter im Gerichtsverfahren hatten und wie systematisch Personen, die Kritik äußerten, von der Nickelodeon-Führung zum Schweigen gebracht wurden. Zusätzlich zu den Missbrauchsfällen sei mit der psychischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in einigen Produktionen fahrlässig umgegangen worden, was bei einigen Opfern dazu geführt habe, dass sie bis heute darunter leiden.
Wer in diesen Fällen, sei es in den USA oder in Frankreich, tatsächlich in welcher Form zur Rechenschaft gezogen werden wird, bleibt abzuwarten, doch der öffentliche Druck, eine andere Kultur des Umgangs mit sexualisierter Gewalt zu fordern und der Wunsch die Stimmen der Opfer in den Vordergrund zu stellen, war noch nie größer.
Man könnte meinen, es sei einfach Pech und schlechtes Timing, dass ein Film wie “Miller’s Girl” ausgerechnet in diese neue Welle von #metoo erscheint und sich deswegen besonders schal anfühlt. In den ersten Versionen des Drehbuchs war Kairo, die Fille Fatale, einige Jahre jünger und laut Filmemacherin Jade Halley Bartlett, noch „viel psychopatischer” angelegt. Dann sei #metoo 2017 passiert und Bartlett will verstanden haben, dass man solche Geschichte nicht mehr so einseitig erzählen kann, weil es “in so einer Geschichte immer zwei Täter*innen” gäbe. Darauf lässt sich eigentlich nur erwidern: das ist Bullshit. In Geschichten sexualisierter Gewalt mit Kindern und/oder gesetzlichen Schutzbefohlenen gibt es keine zwei Seiten der Medaille, sondern immer nur ein Arschloch, das seine Macht missbraucht. Der Versuch, diesen Stoff „im Zeitgeist“, in Grautönen, im Modus des “niemand ist ganz unschuldig” erzählen zu wollen ist schlimm genug. Wenn es am Ende aber auch noch auf das klassische “das kleine Mädchen hat das Leben des alten Mannes zerstört” hinausläuft, ist es einfach nur perfide.
“Miller’s Girl” ist ein misogynes Märchen für all diejenigen, die der Meinung sind, #metoo hätte es “zu weit getrieben” und Cancel Culture sei eine reale Bedrohung im cis männlichen Alltag. Der Film befriedigt ein aktuelles Bedürfnis nach Geschichten, in denen Cancel Culture als omnipräsenter Schicksalsschlag inszeniert wird, der x-beliebige Männer ohne eigenes Zutun jederzeit ereilen kann. Ein weiterer aktueller Film, der in diese Richtung geht, ist die zugegebenermaßen sehr unterhaltsame Tragikomödie “Dream Szenario” (2023). Der Uniprofessor Paul Matthews (Nicolas Cage) geistert durch Träume, die seine Umwelt plötzlich von ihm hat und die schnell in Alpträume eskalieren, weshalb seine Studierenden sich in seiner Gegenwart nicht mehr sicher fühlen und sein ganzes Leben aus den Fugen gerät, ohne dass er was dafür kann. Paul Matthews ist ein sympathisches, schrulliges Opfer seiner Umwelt, der die Codes der “woken” Kultur um sich rum nicht mehr versteht und deswegen hilflos von einem Fettnäpfchen ins nächste wankt.
„Miller’s Girl“ und „Dream Szenario“ funktionieren beide wie eine kulturelle Legitimation diffuser Cancel Culture-Ängste von alten weißen Männern mit einem gewissen gesellschaftlichen Status. Doch, anders als die Sexualisierung junger Mädchen auf der Leinwand, die nie nur auf der Leinwand geblieben ist, sondern Opfer im echten Leben verursacht hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die vermeintliche Cancel Culture es aus der Fiktion heraus ins echte Leben schafft, gleich Null. Alles, worauf wir für die Zukunft hoffen können, ist, dass Täter*innen endlich zur Rechenschaft gezogen werden und für die Gewalt bezahlen, die sie den Opfern angetan haben. Echte Accountability und Gerechtigkeit, statt fiktiver Cancel Culture!
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