von Matthias Warkus
Seit über zwei Jahren hält sich ein Buch ununterbrochen in den deutschen Sachbuch-Bestsellerlisten, das sieben Jahre alt ist, dessen Inhalt lieblos zusammengedroschener ideologischer Unsinn ist und das sich selbst widerspricht und wiederholt. Was aber auch egal ist, weil es kaum wegen seines Inhalts gekauft und vermutlich ohnehin gar nicht gelesen wird, oder wenn überhaupt, nicht mit besonderer Aufmerksamkeit. Damit stellt es eine konsequente Vollendung von Trends des letzten Jahrzehnts dar. Dieses Buch zu lesen, heißt, etwas über einen bestimmten geschichtlichen Moment zu lernen; über eine bestimmte Epoche des Social-Media-Kulturindustrie-Komplexes der westlichen Welt und ihre Insassen.
Das Buch ist von Brianna Wiest und es heißt 101 Essays, die dein Leben verändern werden (Piper, März 2022, 432 S., amerikanische Originalausgabe 2016). Es ist ein Ratgeber. Aber schon, um zu erklären, wer hier überhaupt wem welchen Rat gibt, muss man ausholen. Wer in den letzten Jahren irgendwelche Werbevideos auf sozialen Medien gesehen hat, ist vermutlich nicht an dem Phänomen des erfolgreichen Coaches vorbeigekommen, der nur andere Coaches coacht; oder dem des Social-Media-Consultants, dessen Referenzkunden selbst alle Social-Media-Consultants sind. So ähnlich ist es damit, dass Wiest auf Seite 14 ihres Ratgebers schreibt, dass ihr eigenes Leben sich durch Denken verändert habe. Denn sie hat keine Erfolgsstory außerhalb der Deckel ihres Buchs, die sie erzählen könnte. Die von ihr versprochene Lebensveränderung wird ausschließlich durch ihren Erfolg als Autorin eben jener Texte, die man in der Hand hält, legitimiert. Wenn man so will, ist ihr Buch ein Ratgeber dafür, wie man die Art Mensch wird, die erfolgreiche Ratgeber schreibt.
Wiest begann 2013, im Alter von 20 Jahren, fließbandmäßig Beiträge für die Onlineplattform »Thought Catalog« zu produzieren, die – wie das Gros der Beiträge dort – meistens die Form von »Listicles« haben, also von durchnummerierten Aufzählungen von irgendetwas, wie sie ab ca. 2010 in Mode kamen. Diese wurden dann, neben ein paar unveröffentlichten Texten, einige Jahre später zu 101 Essays zusammengestellt, das mit seiner Zahl im Titel gewissermaßen ein Mega-Listicle aus lauter Listicles ist. Erschienen ist das Original in einem eigens zur Zweitverwertung des Thought-Catalog-Contents aufgebauten Verlag. Ein gewaltiger Bestseller wurde es vor allem durch seine virale Verbreitung in den sozialen Medien.
Die Einleitung beginnt mit den Worten »In seinem Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit erklärt Dr. Yuval Noah Harari, dass…«. Der Satz ist programmatisch. Hier geht es irgendwie um alles: Wiests erstes Buch, noch vor 101 Essays, hieß The Truth About Everything (es ist mittlerweile ebenfalls auf Deutsch erschienen). Die wenigen Quellen sind zum größten Teil andere Ratgeberbücher und ansonsten vor allem Harari und sein Kollege aus der Universalerklärer-Branche, Malcolm Gladwell. Inhaltlich geht es auf den 432 Seiten des Essaybandes in erster Linie um positive Psychologie. Das Du, das im Buch angesprochen wird, ist eines, das »Erfolg« haben, das »sein bestes Leben« leben will, aber dabei bedauerlicherweise die Tendenz hat, dies irgendwie zugleich zu verkrampft und zu lässig anzugehen. Der Ton ist der eines Menschen, der sich selbst gut zuredet, entsprechend dem Stil von Thought Catalog, das 2012 als »confessional media« beschrieben wurde.
Grundiert ist all das mit Versatzstücken eines psychologisch-kognitionswissenschaftlichen Ratgeberjargons, der mit völliger Selbstverständlichkeit benutzt wird. Wiest geht etwa davon aus, dass man ohne große Erläuterungen weiß, wie es sich anfühlt, wenn »in der linken Gehirnhälfte Nebel herrscht« (38). An anderer Stelle ist im Zusammenhang mit dem Perfektionieren von Fähigkeiten ohne weitere Erklärung von »10 000 Stunden« die Rede (64) – ein Bezug auf die unter anderem durch Gladwell und das Buch 10,000 Hours von Phyllis Lane verbreitete Vorstellung, dass das Perfektionieren von Fähigkeiten insgesamt zehntausend Stunden benötige. In Essay 13 wird völlig ohne Kommentar »Die Inbox-Zero-Methode« als eines von »101 Dinge[n], über die es sich mehr nachzudenken lohnt als über das, was dich zermürbt« genannt. Die Leser*in von 101 Essays wird offensichtlich als eine bereits kompetente Kenner*in psychologisierender Ratgeberliteratur konzipiert. Man möchte fast sagen: als jemand, der ohnehin schon weiß, was in diesem Buch steht.
Dass sich ein solches Buch wiederholt, ist kein Wunder. Bisweilen wiederholt es sich sogar wörtlich: Die Sätze »Geld für die Miete kann man sich verdienen. Aber man kann niemanden dazu bringen, einen zu lieben, wenn er das nicht von sich aus tut« tauchen zweimal auf, in den Essays 60 und 64; die Essays 30 und 39 enthalten fast wortgleiche Passagen über »maladaptives Tagträumen«; und das ist sicher nur die Spitze des Eisbergs. Bemerkenswert ist schon eher, dass das Buch sich widerspricht. In Essay 1 heißt es etwa: »In Wirklichkeit bist du […] psychisch gar nicht in der Lage, vorherzusehen, was dich glücklich machen wird« (16); kurz darauf wird gewarnt: »Wir ›gelangen‹ nirgendwohin. Das Einzige, worauf wir zusteuern, ist der Tod« (17). Nur eine Seite später geht es dann aber wieder darum, »aus der Komfortzone« zu kommen, um »das Leben zu verwirklichen, das du dir gewünscht hast« (18).
Auch die restlichen Essays oszillieren zwischen zwei Kernbotschaften, die einander genau genommen ausschließen. Einerseits: Mach dich locker, sei glücklich im Augenblick, der Weg ist das Ziel, ihr wisst weder Tag noch Stunde. Andererseits: Reiß dich zusammen, verwirkliche deine Pläne, Spaßhaben hält dich davon ab zu werden, wer du sein willst. »Die meisten Menschen wollen nicht glücklich sein; deswegen sind sie es auch nicht« (54); »Das einzige Problem mit deinem Leben ist die Art, wie du es siehst« (131). Manche Tipps könnten auch einfach aus einem Bauernkalender sein, wie meine Großeltern ihn hatten (»Ruf deine Mutter an. Nicht jeder kann das noch«, 109).
Stellenweise kann man den Eindruck gewinnen, dass hier eine besonders perfide, weil als rationale, stoische Akzeptanz kostümierte, aber letztlich doch esoterische Manifestationstheorie verkauft wird: »Weißt du, warum du das, was du dir einst zu wünschen glaubtest, nicht hast? Weißt du, warum du nicht die Person bist, die zu werden du dir einmal vorgestellt hast? Weil du all dies nicht mehr willst. Nicht mehr unbedingt willst. Würdest du es wollen, dann hättest du es und wärst auch diese Person« (87f.).
Das passt dazu, dass auf S. 344f. eine Litanei von Quatschtheorien aufgezählt wird (»The Big Five (also das Fünf-Faktoren-Modell), Myers-Briggs, Astrologie, das Enneagramm oder Ähnliches«) und anschließend auch »homöopathische Heilmittel« lobende Erwähnung finden. Anderswo wird eine obskure, in der Brust lokalisierte »innere Energie« beschworen. Damit erscheint Wiests Buch, beim Wort genommen, als eine Anleitung dazu, sich selbst zu gaslighten – Wille, Streben, Motivation, Disziplin sind irgendwie alles und nichts zugleich, Astrologie, Organisationslehre, Motivationspsychologie und Energiegeschwafel sind gleichwertig, am Ende geht es um nichts als einen Vibe. Man kann den Eindruck gewinnen, dass 101 Essays wenig mehr birgt als hunderte Seiten Wortgeklingel.
Widersprüchlichkeit, Beliebigkeit, Gefühligkeit, Desinteresse an Wahrheit sind nun Charakteristika von Ideologie. Es fragt sich, ob von einem Profi eines journalistischen Genres, dessen Kern darin besteht, unabhängig von Recherche und eigener Erfahrung plausibel klingende, nummerierte Plattitüden über immer neue Themen herunterzuhacken, irgendetwas anderes zu erwarten war; und wie wir weiter unten sehen werden, ist die Zielgruppe ohnehin möglicherweise überhaupt nicht an Inhalten interessiert.
Obwohl es also wenig Sinn hat, sich tiefer mit einzelnen Punkten in 101 Essays zu beschäftigen, möchte ich dennoch zwei Stellen herausgreifen. Einmal auf S. 236: »Weder Hobbes noch Platon, Spinoza, Hume oder Locke, weder Jobs noch Wintour, Descartes, Beethoven, Zuckerberg, Lincoln, Rockefeller, Disney oder unzählige andere wegweisende, brillante Individuen, die einen kulturellen Wandel herbeigeführt haben, waren Akademiker.«
Abgesehen davon, dass diese Zusammenstellung haarsträubend ist, ist der Satz rein sachlich schon Unfug. Hobbes und Locke hatten Abschlüsse aus Oxford, Lincoln hatte eine Anwaltszulassung, Descartes war fertiger Jurist und Hume immerhin fast, Spinoza mag zwar reiner Privatgelehrter gewesen sein, bekam aber einen Ruf auf eine Professur in Heidelberg, und Platon war buchstäblich der Gründer der allerersten Akademie, nach der alle anderen benannt sind. Das aus diesem Satz herausstrahlende enorme Bedürfnis, etwas zu sagen, was irgendwie überzeitliches Gewicht hat, dabei »rebellisch« und »gegen den Mainstream« ist, und dafür eine Reihe bildungshuberischer Namen zu vereinnahmen, auch wenn der größte Quatsch dabei herauskommt, kann als symptomatisch für das gesamte Buch gelten. (Und erinnert bizarrerweise stark an die Attitüde eines völlig anderen Autors: Ulf Poschardt.)
Die zweite Stelle sagt weniger etwas über den Originaltext aus als über die Übersetzung: »Leid stellt nur die Weigerung dar zu akzeptieren, was ist. Mehr nicht. Etymologisch betrachtet stammt dieses Wort aus dem Lateinischen und bedeutet ›aushalten, ertragen, betäuben‹« (43). Nur kommt das Wort »Leid« nicht aus dem Lateinischen; gemeint ist die Etymologie von »suffering«. Die deutsche Ausgabe ergänzt die Beliebigkeit des Originals, wie man sieht, also noch durch Hast und Lieblosigkeit.
Gibt es nun irgendeinen Grund, sich überhaupt mit 101 Essays auseinanderzusetzen? Ich meine: Ja, denn die darin enthaltenen, neun bis zwölf Jahre alten Texte haben gewissermaßen einen ideengeschichtlichen Wert. Wiests Heimat und Karrieresprungbrett Thought Catalog, wo sie mittlerweile Teilhaberin ist, ist ein völlig klischeehaftes »Millennial«-Medium, vom Standort in Brooklyn bis hin dazu, dass es dort Beitragende gibt, die unironisch ihr Hogwarts-Haus in ihre Unterzeile schreiben. Ich halte nun nicht viel von Generationenbashing und sehe das Buch als Monument weniger einer Generation denn einer Epoche. Es ist das Produkt einer gewissen Formation von über Social-Media-Plattformen dirigierten Aufmerksamkeitsflüssen und der damit einhergehenden kulturwirtschaftlichen Verwertungszusammenhänge, die schon heute, kaum zehn Jahre später, so nicht mehr existieren. Ein Satz wie »Etwas zu posten, wohinter du nicht voll und ganz stehst, heißt, dass du nicht ehrlich zu dir selbst bist« (34), wirkt vor der Kulisse dessen, wozu Social Media inzwischen geworden ist, hoffnungslos aus der Zeit gefallen.
101 Essays bündelt alles, womit die Angehörigen der social-media-affinen Jahrgangsgruppen in den Zehnerjahren an Ratschlägen genervt worden sind und was mittlerweile zum Klischee erstarrt ist. Feste Gewohnheiten (Paradigma sind natürlich frühes Aufstehen und tägliches Schreiben, Essay 2; am besten sogar an einem Roman, Essay 12), emotionale und soziale Intelligenz, Überwinden innerer Barrieren, Arbeitsmotivation, Glück durch Leistung, Achtsamkeit, Ordnung, Minimalismus, Selbstliebe, Umgang mit schlechten Gefühlen, Schicksal, Selbstverwirklichung, Streben nach Exzellenz ebenso wie Demut, Bescheidenheit, Ataraxie. Und natürlich Lesen.
Wer das ganze Genre der »Morgenroutinen« und sonstigen Wohlfühl-Disziplinierungsimperative in den letzten 15 Jahren auch nur flüchtig kennengelernt hat, weiß, dass es zur Eigenart all solcher Ratschläge gehört, die geistigsten und die körperlichsten menschlichen Betätigungen einander gleichzustellen. Wasser trinken und Sport stehen als wünschenswerte tägliche Gewohnheiten in einer Reihe mit Meditieren, Schreiben und Lesen. Dabei geht es gar nicht darum, was man liest. »Lesen« ist ein eigentlich bezugsloser Fetisch. Die höchste Form dieses Lesens um des Lesens Willen ist vermutlich, Ratgeberbücher wie das vorliegende zu lesen, das vor dem Hintergrund des Schreibens um des Schreibens willen, des Ratschläge-Gebens mit dem Ziel des Ratschläge-Geben-Könnens entstanden ist. Auf Wiests Buch trifft der Satz von Sam Kriss, dass Bücher heutzutage gewissermaßen das Gegenteil von Lesen seien, völlig zu (»Books are, in a sense, the opposite of reading«). Dass 101 Essays überhaupt nicht mehr gelesen und am Ende vor allem gekauft wird, weil es den Fetisch Buch exemplifiziert und optisch gut zu verschiedenen Gestaltungsstilen für Wohnungen und Instagram-Auftritte passt, ist mithin bloß folgerichtig. »One element of 101 Essays at least that really worked well in my favor is that the cover is very neutral, it fits with a lot of different aesthetics, and so I think a lot of people bought it for that reason alone, it just looked appealing in some way«. (»Emotional gesunde Menschen« haben übrigens immer minimalistische Wohnungseinrichtungen, das lernt man in Essay 42.)
Als Ratgeber ist 101 Essays nicht ernst zu nehmen und man kann nur vor Menschen warnen, die die darin verbreitete Ideologie allzu sehr verinnerlichen. Als Dokument seiner Zeit ist es aber an Prägnanz kaum zu überbieten. Es lässt das Bild einer verunsicherten, getriebenen Kohorte netzaffiner Twentysomethings zwischen Finanzkrise und Trump-Wahl auferstehen, denen die unvereinbaren Imperative eingebrannt worden waren, jede Minute ihres Lebens hart zu arbeiten und kreativ Einzigartiges hervorzubringen, jedoch stets gelassen, wholesome, cosy und achtsam, mit einer großen heißen Tasse Tee in beiden Händen, am Tresen der instagrammabel Joy sparkenden Minimalismusbude. Das konsequente Produkt dieser lebenszerstörenden Unmöglichkeit ist Wiests weder als Buch entstandener noch eigentlich zum Lesen gedachter Quatschwälzer voller widersprüchlicher, geschwätziger und wichtigtuerischer Ratschläge. Dass es hierzulande erst Jahre später ein Bestseller geworden ist, in einer Epoche, in der die Bedeutungslosigkeit individuellen Strebens vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Machtformationen und weltgeschichtlicher Verwerfungen so klar zutage tritt wie seit den 80ern nicht mehr, ist bizarr, passt aber zum nachholenden Charakter vieler kultureller Entwicklungen in Deutschland.
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