von Carlotta Voß
Die Wissenschaft hat uns wieder einmal die Uhrzeit gesagt: nicht mehr fünf vor zwölf, nicht mehr zwölf, sondern fünf nach zwölf haben wir nun. Fünf Minuten nach zwölf, das heißt: High Noon ist vorbei mit Blick auf das Handlungsfenster, in dem Erderwärmung von zerstörerischem Ausmaß für die Lebensbedingungen des Menschen und vieler Tier- und Pflanzenarten verhindert werden kann. Es ist so weit gekommen, weil „die Menschheit“ bislang nicht gehandelt hat – so lautet die politische und moralische Botschaft, die das allgegenwärtige Bild von der Mittagsstunde vermitteln soll. Und es ist so weit gekommen, obwohl diese Menschheit doch schon lange bekundet, handeln zu wollen, in völkerrechtlichen Verträgen, Absichtserklärungen und in der Definition von „gefährlicher“ Erderwärmung durch das 1,5-Grad-Ziel.
Fünf nach zwölf wirft als Gegenwartserzählung ein ausgesprochen schlechtes Licht auf „den Menschen“. Und je näher die Einschläge des anthropogenen – also des durch “den Menschen” verursachten – Klimawandels kommen, desto offener werden Zweifel an der Vernunftfähigkeit und den moralischen Qualitäten angemeldet, die ihm in der Moderne zugeschrieben wurden. Vielleicht ist der Mensch eigentlich unvernünftig, uneinsichtig, gierig und egoistisch. Vielleicht ist er das größte und dümmste Raubtier der Erde, dem „hedonistischer Suizid“ – so der Schriftsteller Ilija Trojanow in der taz – vorbestimmt ist. Vielleicht hat die Polarökologin Nina Karnovsky recht, die uns, die Menschen, in einer Klimawandel-Sondersendung der Late Night Show Jimmy Kimmel live! als „motherfuckers“ bezeichnete. Vielleicht kann das Zeitalter, das wir stolz nach uns benennen, das „Anthropozän“, nur mit unserem selbstverschuldeten Untergang enden.
Der Philosoph Darrel Moellendorf bezeichnet in seinem neuen Buch diese Diskurentwicklung, in der ein negatives Menschenbild populär wird, als Gefahr des „Misanthropocene“ – ein Wortspiel, das „Misanthropie“ (Menschenfeindlichkeit) und „Anthropozän“ verbindet. Gefährlich ist dieses „Misanthropozän“ gemäß Moellendorf mit Blick auf die humanistischen Ideen, auf denen unser Wertegerüst, die Menschenrechte und die liberale Demokratie beruhen. Denn sollten wir kollektiv zu der Überzeugung kommen, dass wir als Menschen unfähig sind, gemeinsam an dem Ziel einer friedlichen und nachhaltigen Welt mit mehr Wohlstand für alle zu arbeiten – wie können wir uns dann noch ernsthaft und überzeugend auf humanistische Vorstellungen beziehen? Kurz gesagt: Wenn sich der Mensch als unvernünftig, uneinsichtig, gierig und egoistisch entpuppt, was sind dann noch Menschenrechte wert? Angesichts dieser bedrohlichen Perspektive sieht Moellendorf es als Aufgabe politischer Philosophie, „realistische Utopien“ zu formulieren, die Grundlage der Hoffnung auf eine nachhaltige und gerechte Zukunft sein und kollektives Handeln in diesem Sinne beflügeln können.
Auch im Klimaaktivismus und Klimajournalismus wird seit einiger Zeit, besorgt über lähmende Resignationserscheinungen in der Bevölkerung, auf Hoffnung gesetzt. Wie kann Wissenschaftskommunikation aussehen, die Hoffnung macht, ohne die Ernsthaftigkeit der Lage herunterzuspielen? Was dürfen, was können, (wie) sollen wir hoffen?, fragt man sich selbst und Psycholog*innen, Klimaforscher*innen, und Philosoph*innen. In vielen Medien endeten die Berichte über den neuen IPCC-Bericht mit den Worten des Vorsitzende des Weltklimarats, Hoesung Lee, der das im Bericht versammelte Wissen als “hoffnungsvolle Perspektive“ auswies: die Prognosen liegen auf dem Tisch, die Wirkungszusammenhänge wurden von uns, den Menschen, hinreichend verstanden, sodass kein Zweifel ist, was „wir“ tun müssen, um die Erderwärmung zu begrenzen. Jetzt müssen wir es nur noch tun.
Ein siebzig Jahre alter Vortrag des Philosophen Helmuth Plessner gibt indes zu denken, ob mit all den Hoffnungsforderungen und -beschwörungen nicht nur kurzfristig das Symptom einer misanthropischen Pathologie bekämpft wird, gegen die es vielmehr eine umfassende Immunisierung braucht – eine Impfkampagne gegen Verzweiflung des Menschen über den Menschen sozusagen. Lange bevor der Beweis der menschengemachten Erderwärmung zum Diskursgegenstand geworden ist, wird in diesem Vortrag (Titel: „Über Menschenverachtung“) Misanthropie als eine Gefahr beschrieben, die der Moderne als solcher innewohnt, und gegen die sich nur gewappnet werden kann, wenn man um die Bedingungen dieser Gefahr weiß. Eine Relektüre lohnt sich – schon deshalb, weil es Plessner in seinem Denken grundsätzlich um den „Menschen“ geht, der im „Anthropozän“ (wieder) zum Problem geworden ist.
Plessner entwickelt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grundzüge einer „Philosophischen Anthropologie“. Ihr Ziel ist es nicht, abschließend eine Summe von Eigenschaften des Menschen oder seine „Substanz“ zu bestimmen. Sondern zu fragen, wie über den Menschen in seiner Mehrdeutigkeit und Unergründlichkeit nachgedacht werden kann. Plessner sieht darin nicht nur eine philosophische Herausforderung, sondern auch eine moralisch-politische Aufgabe. Für ihn ist das Nachdenken über das Menschsein mit dem Begriff „Mensch“ die Voraussetzung dafür, dass Konzepte wie „Menschenwürde“, „Menschlichkeit“ oder „menschliche Verantwortung“ historisch entstehen konnten und wirksam geworden sind – und dass diese Konzepte hinterfragt werden können. Unter der Prämisse, dass sie politisch relevant bleiben sollten, geht es Plessner mit seiner Philosophischen Anthropologie auch darum, die humanistische Tradition wieder sinnvoll zu machen, deren natürliche Autorität spätestens Anfang des 20. Jahrhundert erschüttert ist.
Seinen vielen Kommentaren zum Zeitgeschehen liegt genau dieser Antrieb zugrunde, auch dem Vortrag „Über Menschenverachtung“. Plessner meint zu erkennen, dass in der (europäischen) Öffentlichkeit seiner Gegenwart, den 1950er Jahren, ein generalisierter Menschenhass als Ideologie um sich greift. Ausdrücklich geht es ihm nicht um Misanthropie als private Haltung. Sie ist für ihn ein möglicher und moralisch-politisch zunächst neutraler Ausdruck des Menschseins als „Mensch“.
Menschsein umfasst für Plessner das “Hier und Jetzt”, das ein körpergebundenes Leben auszeichnet, aber auch die Fähigkeit, dieses “Hier und Jetzt” zu reflektieren und sich auf ein anderes “Dort” hin zu entwerfen. Deshalb gehört zum Menschsein auch ein Verständnis von Zukunft. Auf der Ebene der Erfahrung beschreibt Plessner das so verstandene Menschsein als gleichzeitige Erfahrung von Macht und Ohnmacht: Der Macht, sich selbst zu entwerfen, und der Ohnmacht, im Entwurf und seiner Verwirklichung begrenzt zu sein.
Folgen wir Plessner, dann äußert sich die Macht des modernen Menschen darin, dass er sich als „Mensch“ begreift, also als ein mächtiges Wesen mit Sonderstellung auf der Erde. Dieser Selbstentwurf hat viele wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Errungenschaften möglich gemacht. Aber auch die Erfahrung, dass der „Mensch“ beständig hinter seiner Idee von sich selbst, hinter seinen selbst gesetzten Idealen, zurückbleibt. Plessner nennt das die Erfahrung des „was der Mensch könnte, wenn er wollte“. Und er behauptet, dass sie erst Verbitterung und dann Hass auslöst. Dieser Hass kann sich gegen sich selbst oder einen konkreten Anderen richten – aber auch gegen den Menschen als solches bzw. gegen die Menschheit. Einer solche „Verschiebung des Hasses in die Sphäre des Allgemeinen“, der ideologisierten Misanthropie also, schreibt Plessner einen großen Vorteil zu: Sie macht es dem einzelnen Menschen nämlich möglich, dem konkreten Anderen im sozialen Miteinander (wieder) herzlich zu begegnen. Sofern der Andere ein Exemplar der Menschheit ist und diese Menschheit eben schlecht, kann der Andere schließlich nicht persönlich für seine Unzulänglichkeit verantwortlich gemacht werden.
Es ist der Preis dieser Bewältigungsstrategie, dass moralischer oder politischer Fortschritt der „Menschheit“ nicht mehr gedacht werden kann, denn die „Menschheit“ ist vom Misanthropen bereits über ihre Schlechtigkeit definiert worden. Während Plessner darin kein Problem zu sehen scheint, sofern die Misanthropie eine Sache der privaten Überzeugungen bleibt, setzt hier seine Kritik an der Misanthropie als Ideologie an: Wenn das grundsätzliche Schlecht-Sein „der Menschheit“ zur Prämisse politischen Handelns wird, ist – so sorgt sich Plessner – auch die Menschenwürde in Gefahr, denn „so wie der Mensch sich sieht, wird er“.
Das Gegenmittel, das Plessner für diese Gefahr im Sinn hat, ist nicht etwa ein positives Menschenbild, in dem der Mensch mit seiner Macht und Vernünftigkeit identifiziert ist. Es besteht auch nicht in realistischen Utopien. Sondern darin, sich bei Objektivierungen des Menschseins immer wieder darauf zu besinnen, dass das Menschsein etwas auszeichnet, das jede Objektivierung in Frage stellt: ein Rest an Unverfügbarkeit sozusagen, eine absolute Unergründlichkeit, ein ewiges Geheimnis.
In seinem Vortrag über Menschenverachtung führt Plessner diese Haltung des unaufhörlichen Fragens-nach-dem-Menschsein vor, indem er fragt, ob die Misanthropie-als-Ideologie nur eine mögliche, nämlich eine westlich-moderne Objektivierung des Menschen ist. Seine Antwort darauf ist positiv. Er erklärt die ideologische Misanthropie aus spezifisch modernen Lebenserfahrungen und Perspektiven auf das Menschsein. Zwei Charakteristika der Moderne sind für ihn in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Erstens, “Glaubenslosigkeit”. Gemeint ist damit, dass in der Moderne zwar der jüdisch-christliche Gedanke fortlebt, Menschsein bedeute, sündhafter Mensch zu sein. Nur ist dieser Gedanke entkernt um die Vorstellung, als Geschöpf Gottes Vergebung und Erlösung erfahren zu können. Übrig bleibt daher die Annahme: Der Mensch ist schlecht, und also eine pessimistische Grundstimmung. Zweitens zeichnet sich die Moderne für Plessner durch Strukturen aus, die es erschweren, anderen Menschen in ihrer ganzen Individualität und Unergründlichkeit zu begegnen – und die umgekehrt begünstigen, dass man andere und sich selbst nur als Exemplare der „Menschheit“ versteht. Konkret meint er: Die in der Moderne so häufig beklagte Anonymisierung des Zusammenlebens, Bürokratisierung, Verwissenschaftlichung des Nachdenkens über das Menschsein, und Beschleunigung.
2023 scheint Plessners Darstellung der Moderne nichts an Aktualität verloren zu haben. Nicht nur, aber auch, weil sich im Anthropozän als neuester moderner Welterzählung manches von dem zeigt, was Plessner beschreibt. Ganz im Sinne seiner Diagnose von der „Verwissenschaftlichung“ wird der Mensch hier radikal als „anthropos“ angesprochen, als Spezies. In der Konsequenz sind nicht nur die Spuren des Individuums verwischt, sondern auch – wie Stimmen aus dem globalen Süden oder der postkolonialen Forschung schon lange kritisch anmerken – die historischen Machtverhältnisse. Sie strukturieren unser Miteinander als Menschen und manifestieren sich auch darin, dass der übergroße Teil der erderwärmenden Treibhausgasemissionen mit dem Lebensstil und der kolonialen Geschichte der Länder im globalen Norden zusammenhängt.
Das Anthropozän ist auch „bürokratisch“ in dem Sinne, dass in ihm die Welt des Menschen mit dem Erdsystem identifiziert wird und dieses Erdsystem gemanagt und verwaltet werden soll. Auch „Glaubenslosigkeit“ drückt sich im Anthropozän aus, das die apokalyptische Idee eines Endes der Menschheit beinhaltet. Allerdings ist dieses Ende nicht im Sinne der christlichen Theologie von Gott bestimmt und bedeutet auch nicht den Einbruch von Gerechtigkeit, sondern es ist unwillentlich von der Menschheit herbeigeführt und realisiert Ungerechtigkeit. Schließlich ist die Verantwortung für dieses Ende temporal und räumlich, zwischen den Generationen und entlang der Nord-Süd-Achse, ungleich verteilt.
Vielleicht – das gibt Plessner zu denken auf – ist unsere anthropozäne Gegenwart also ein Nährboden für ideologische Misanthropie. Vielleicht droht diese Gegenwart immer und unabhängig von Erfolgen in der Klimapolitik ins Misanthropozän zu kippen. Realistische Utopien können als Gegengift dann weit besser wirken, wenn sie begleitet werden durch eine gesellschaftliche Reflexion und Verhandlung dieses Nährbodens.
Was Plessner angeht, so wünscht er ausdrücklich nicht, dass eine solche Verhandlung in die Ablehnung der Moderne mündet, in die kollektive Rückkehr zu Gottesglauben, vorstädtischen Gemeinschaften und vorindustriellem Gesellschaftstempo (das übrigens aus ökologischer Perspektive so nachhaltig wäre!). In der Moderne sieht er schließlich nicht nur die Gefahr zur Ideologisierung der Misanthrophie, sondern zugleich auch die Bedingung eines Handelns im Bewusstsein der Unverfügbarkeit und der radikalen Freiheit des Menschen.
Folgen wir Plessner, dann liegt der Zweck einer gesellschaftlichen Reflexion der (anthropozänen) Moderne darin, dass Menschen gemeinsam lernen können, mit der Ambivalenz der Moderne umzugehen, das heißt: eine Urteilskraft zu entwickeln, die es erlaubt, der Versuchung der Misanthropie zu widerstehen und Freiheit zu wählen. Sie wäre die Vorbedingung für realistische Utopien im Anthropozän oder einfacher gesagt: für Hoffnung, die “wir” haben können. “Wir” nicht als Exemplare der Spezies Anthropos, sondern als Personen, die miteinander darüber nachdenken, was es heißen kann, Mensch zu sein.