von Björn Weyand
Ein lebendigeres Bild des sich rasant entwickelnden Berliner Großstadtlebens findet sich in keiner kulturgeschichtlichen Darstellung der Jahrhundertwende: Edmund Edels 1906 erschienene Satire Berlin W. Ein paar Kapitel von der Oberfläche führt auch über hundert Jahre nach ihrem Erscheinen mitten hinein in eine neu aufkommende, von Konsum und Vergnügen geprägte Kultur, die unschwer als der Beginn unserer eigenen zu erkennen ist. Edel erfasst das gesellschaftliche Treiben auf der Oberfläche dieser entstehenden Konsumkultur mit soziologischer Genauigkeit und pointiertem Humor – und landet damit einen Bestseller: „Für ein paar Wochen“, berichtet der Schriftsteller und Dramatiker Rudolf Presber, war das Buch „in allen Erkern der Buchhändler“ zu finden. Im Berliner Tageblatt bezeichnet Fritz Engel die Satire als ein „köstlich boshaftes Plauderbuch“, und die Vossische Zeitung lobt es als „niederträchtig amüsant“. Kurzum Edel gelingt eine kleine „Sensation auf dem Büchermarkt“, wie sein Verlag das Büchlein rückblickend feiert. [1]
Und dennoch sind Berlin W. und sein Autor heute weitgehend vergessen. Es zählt zu den verlustreichen Ausschlussprozessen literaturgeschichtlicher Kanonbildung, dass Edel und seine Texte in keiner der einschlägigen Darstellungen zur Literatur der Jahrhundertwende Erwähnung finden. In jüngerer Zeit gerät der Kanon jedoch erfreulicherweise in Umbruch, wie etwa unter dem Hashtag #breiterkanon. [2] Insofern stehen die Zeichen gut, um den deutsch-jüdischen Schriftsteller, Übersetzer, Filmregisseur, Plakatkünstler, Karikaturisten und Graphiker Edmund Edel und sein originelles Werk jetzt dem Vergessen zu entreißen. Edels Texte wiederzuentdecken heißt, ein übervolles kulturelles Archiv der Jahre von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik zu besichtigen, das mit viel Humor die Umbrüche dieser Zeitläufte karikiert und die Hoffnungen und Widersprüchlichkeiten der Moderne mit eben jenem jüdischen Humor in Szene setzt, der stets bereit ist, sich selbst zu ironisieren (und dem Edel einen der ersten Essays überhaupt widmet). [3] Worüber Edel in seinen Büchern spottet, ist seine eigene soziale und geistige Herkunft, „mein geliebtes Berlin W., dessen Luft ich atme und dessen Odem der Odem meines Lebens ist“. [4]
Anfänge als Landschaftsmaler, Plakatkünstler und Karikaturist
Als Edmund Edel 1906 mit Berlin W. literarisch debütiert, ist er kein Unbekannter. Als Maler, Illustrator, Karikaturist und Plakatkünstler hat er sich seit den 1890er Jahren einen Namen gemacht. 1863 wird Edmund Albert Edel im pommerschen Stolp, dem heutigen Słupsk, geboren, verbringt jedoch schon seine Kindheit in Charlottenburg, wo sein Vater Dr. Karl Edel 1869 eine private psychiatrische Heilanstalt gründet. Im Oktober 1888 beginnt Edel ein Studium der Malerei an der Münchener Akademie, das er 1890 an der Académie Julian in Paris fortsetzt, zu deren Schülerinnen und Schülern Käthe Kollwitz, Clara Rilke-Westhoff, Paul Gaugin, Alphonse Mucha und Henri Matisse zählen. Nach einem weiteren Aufenthalt in Brüssel kehrt er 1892 nach Berlin zurück und arbeitet zunächst als Maler. Seine Landschaftsbilder stellt er unter anderem im Münchener Glaspalast aus und gilt als einer der vielversprechenden jungen Künstler.
Von seinen spätromantischen Sujets und „elegischen Landschafts-Poesien“, wie Max Osborn seine Bilder bezeichnet, [5] kehrt Edel jedoch bald ab. 1896 parodiert er ein Plakat, das Ludwig Sütterlin für die Berliner Gewerbe-Ausstellung entworfen hatte, und bewirbt damit einen Gastauftritt der dänisch-amerikanischen Varietégruppe Barrison Sisters im Berliner Wintergarten – sehr zum Missfallen Sütterlins, der einen Plagiatsprozess gegen Edel anstrengt. Auch wenn es deshalb schon nach fünf Tagen wieder abgenommen werden muss: Das Plakat und der Skandal machen Edel über Nacht als satirischen Künstler bekannt. In der Folge arbeitet Edel als Plakatkünstler für die Druckerei Hollerbaum & Schmidt in Berlin, neben Julius Klinger und Lucian Bernhard. Die Druckerei verhilft dem modernen künstlerischen Plakat in Deutschland zum Durchbruch, zu dem Edel mit seinen Plakaten für Theater wie die Secessionsbühne oder Ernst von Wolzogens Buntes Theater, aber auch für Mampe’s Likör, Fleischextrakt oder Schreibwaren beiträgt. Seine Plakate für den Ullstein-Verlag und dessen auflagenstarke Zeitung Berliner Morgenpost prägen ab 1900 das Stadtbild in der Reichshauptstadt, wo der Presse eine immer größere Bedeutung zukommt.
Edel erneuert das Plakat gestalterisch durch großflächige Farbgebung und die pointierte Konzentration auf entscheidende Details, wie er sie in Frankreich durch Henri de Toulouse-Lautrec und Jules Chéret kennengelernt hat, und verbindet dies mit der Darstellung von „echt Berliner Typen“, wie der zeitgenössische Kunstkritiker Walter v. Zur Westen befindet. [6] Rudolf Presber nennt ihn einen „Oberflächen-Künstler“, und das ist er im doppelten Sinn: Edel gestaltet seine Plakate als farbige, plane Oberflächen und stellt darauf das dar, was sich an der Oberfläche der profanen Alltagswelt zeigt. Eine 1994 veranstaltete Ausstellung der Stiftung Pommern in Kiel hat Edels Rang als Plakatkünstler deutlich gemacht. [7]
Parallel zur Plakatkunst ist Edel als Illustrator und Karikaturist für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften sowie für einige Buchpublikationen tätig. Zu dem um 1903 erschienenen Band Willis Werdegang. Scenen aus dem Familien-Leben des Kabarettisten und Humoristen Rideamus (d. i. Fritz Oliven) steuert Edel zahlreiche Zeichnungen bei. Seit den 1890er Jahren arbeitet er für die Berliner Illustrirte Zeitung und das Berliner Tageblatt sowie für die satirischen Zeitschriften Lustige Blätter und den Ulk, der seit 1871 als Beilage zum Berliner Tageblatt erscheint. 1898 übernimmt er die künstlerische Leitung der neugegründeten illustrierten Wochenschrift Narrenschiff. Es ist ein kurzlebiges Projekt, wenngleich in der ersten Ausgabe prominente Künstler wie Max Liebermann, Lesser Ury und Walter Leistikow als Mitarbeiter genannt werden. Bereits hier setzt sich Edel satirisch mit den Neureichen Berlins auseinander, die wenig später den Gegenstand von Berlin W. und weiteren Büchern bilden.
Berlin W. als Brennglas der kulturellen Modernisierung
Im März 1907 eröffnet das Berliner Kaufhaus des Westens, das KadeWe, in der Tauentzienstraße, das mit seinem Namen bis heute an die Zeit erinnert, die Edmund Edel beschreibt. Es ist im Herzen von Berlin W. gelegen und gilt in der zeitgenössischen Wahrnehmung schon bald als der „edelste Typ des modernen Warenhauses“ in Deutschland. [8] Berlin W. bezeichnet um die Jahrhundertwende den ‚Neuen Westen‘ Berlins rund um den Kurfürstendamm mit Wilmersdorf, Charlottenburg und dem Bayerischen Viertel. Hier lässt sich eine neureiche Gesellschaft in großzügigen und luxuriös ausgestatteten Stadthäusern nieder, „Protzenburgen des Geldes“, wie Edel sie nennt. Aber auch zahlreiche Künstlerinnen und Künstler leben hier oder finden sich zumindest im Café des Westens ein, darunter Erich Mühsam und Christian Morgenstern, Else Lasker-Schüler, Frank Wedekind und Klabund, Gottfried Benn, Hugo Ball und Alfred Döblin, Franz Blei und Hanns Heinz Ewers, George Grosz, Walter Trier und Richard Strauss. Sie treffen hier auf die Kritiker Alfred Kerr und Max Osborn, auf den Verleger und Kunsthändler Paul Cassirer oder die Brüder Ullstein. 1913 übernimmt Edel die Schriftleitung für eine kleine Festschrift zum zwanzigjährigen Bestehen des Cafés, das den Beinamen „Café Größenwahn“ trägt. [9]
Edel wohnt bei Erscheinen seiner Satire Berlin W. in der Niebuhrstraße 78 in Charlottenburg, keine fünf Gehminuten vom Kurfürstendamm entfernt, später in der Kantstraße 10 und schließlich in der Bayerischen Straße 40 in Berlin-Wilmersdorf. Verwaltungsrechtlich zählen die Viertel von Berlin W. noch gar nicht zu Berlin und werden erst 1920, neben etlichen anderen Gebieten, als Teil von Groß-Berlin eingemeindet. Für Edel ist Berlin W. aber ohnehin eine Erfindung: „Vor fünfundzwanzig Jahren gab es noch kein Berlin W. Vor fünfundzwanzig Jahren wohnte man noch in der Oranienburgerstraße oder in der Kraußnickstraße oder man hatte ein Haus in der Friedrichstraße. […] Berlin W. war noch nicht erfunden.“ In dieser Zeit gab es noch kleine Läden und Putzmacherinnen, und ein Umhang aus dem Konfektionshaus Gerson musste „sechs bis acht Saisons reichen […], jedes Jahr geschmackvoll modernisiert“. [10] Mit Berlin W. halten die Warenhäuser, neben dem Kaufhaus des Westens vor allem Tietz und Wertheim, Einzug in die Großstadt und mit ihnen der rasche Wechsel der Moden.
Durch die Ernennung zur Hauptstadt des Deutschen Reichs 1871 erlebt Berlin Ende des 19. Jahrhunderts einen enormen Aufstieg, der mit tiefgreifenden Umwälzungen im kulturellen, ökonomischen und sozialen Bereich einhergeht. Walter Rathenau, in Berlin für den Erfolg der AEG wesentlich mitverantwortlich, kommentiert diesen Boom der Gründerzeit mit den Worten, Berlin sei der „Parvenu der Großstädte“ und zugleich die „Großstadt der Parvenus“. Der Reichtum im Berliner Westen forciert viele Entwicklungen, die das gesamte Wilhelminische Kaiserreich betreffen, und lässt sie wie in einem Brennglas hervortreten – zumindest ihre glanzvollen Aspekte, deren Kehrseite die Armut im Osten Berlins ist, die Heinrich Zille in seinen Zeichnungen und Fotografien zeigt.
Berlin W. übt in dieser Zeit eine Faszination aus, die auch ausländische Beobachter anzieht. Der französische Journalist Jules Huret berichtet dem heimischen Lesepublikum des Figaro bewundernd über die neuen Viertel im Berliner Westen und ihre reich ornamentierten und komfortabel ausgestatteten Stadthäuser, wenngleich ihm auffällt, dass die Häuser und ihre Skulpturen schon nach kaum drei Jahren wieder anfingen zu bröckeln. Doch „was schert sie das, diese Hausbesitzer und Bauunternehmer? In fünfzehn Jahren reißen sie ja all das wieder nieder, um neue, modernere und noch reichere Bauten an ihre Stelle zu setzen.“ [11]
Die immense Dynamik des Modernisierungsprozesses wird in Berlin W. nicht als Makel verstanden, sondern gehört zum Selbstverständnis. Kaum zufällig entwickelt der Soziologe Georg Simmel, der in der nahegelegenen Villenkolonie Westend lebt, neben seiner berühmten Philosophie des Geldes (1900) auch eine Philosophie der Mode (1905), in der er den „eigentümlich pikante[n], anregende[n] Reiz der Mode“ in dem Kontrast begründet sieht, der „zwischen ihrer ausgedehnten, alles ergreifenden Verbreitung und ihrer schnellen und gründlichen Vergänglichkeit“ besteht. In der Mode komme es „nur auf den Wechsel an“. [12]
Huret sieht in dieser Schnelllebigkeit eine Gemeinsamkeit zwischen den USA und Deutschland und teilt damit die um 1900 häufig geäußerte Einschätzung, dass Deutschland und insbesondere Berlin sich nach amerikanischem Vorbild entwickeln. Der Nationalökonom Werner Sombart, selbst ein Bewohner von Berlin W., bringt das Unbehagen an der Amerikanisierung auf die Formel: „Berlin ist ein Vorort von New York: nicht mehr, nicht weniger: Alles, worauf der Berliner stolz sein kann, hat New York in zehnfachem Umfange“. Und New York ist für ihn: „Eine Wüste. Ein großer Kulturkirchhof“. [13] Stellvertretend für diesen Kulturverfall steht für ihn die Reklame. Im Frühjahr 1908 verschafft sich Sombart im Morgen, einer von ihm jüngst mitbegründeten Wochenschrift für deutsche Kultur, darüber Luft und zählt die „Kunst im Dienste der Reklame“ zu den „vielen gründlichen Verirrungen unserer Kultur“. [14] Er bezieht damit eine ähnlich kulturkonservative Position wie Wilhelm II., der anlässlich der Einweihung der Siegesallee im Berliner Tiergarten im Dezember 1901 seine Grundsatzrede über Die wahre Kunst hält: „Die Kunst, die zur Reklame hinuntersteigt, ist keine Kunst mehr, mag sie hundert- und tausendmal gepriesen werden“. [15] Sombart verurteilt die „widerwärtige Tatsache“, dass „künstlerisches Schaffen sich hat hergeben müssen, um die beste Stiefelwichse […] anzupreisen“ – darüber helfe „auch ein noch so vollendetes Plakat nicht hinweg“. [16]
Die Kritik zielt direkt auf Edel. Sein Plakat für Eulen-Wichse zählt zu den populärsten Reklamen der Zeit, was auch dem eingängigen Slogan geschuldet sein mag: „Womit ick meine Stiebeln Wichse? Mit Eulen-Wichse Wichse Ick se“. Edel schreibt eine Entgegnung auf Sombarts Polemik. Für ihn steht fest: „Man muß sich mit den Dingen abfinden, die man nicht aus der Weltgeschichte wegradieren kann“. [17] Zu diesen Dingen zählt auch die neue Kultur der Oberfläche.
Ein literarisches Archiv der neuen Oberflächenkultur
Mit seinem literarischen Werk setzt Edmund Edel fort, was er als Karikaturist und Plakatkünstler entwickelt hat und erweist sich auch hier als „Oberflächenkünstler“. Er schreibt, wie er zeichnet: den Blick auf die Oberfläche gerichtet und mit feinem Gespür für die entscheidenden Details. In Berlin W. zeichnet Edel seine Figuren mit wenigen Strichen – literarisch und in zahlreichen Buchillustrationen. Er entwirft damit eine ganze Typengalerie des Berliner Westens: den Referendar Müller etwa, „Sohn aus guter Familie, schwarzer Gehrock, schwarze Weste, oben weißer Strich, schwarze Atlaskrawatte mit kleiner Perle“ oder Fräulein Trude L., „die hübsche, schlanke Brünette, die sehr viel ‚mitbekommen‘ soll“, in „blauem Tailor made mit Zobelboa, die vielleicht wirklich echt ist in anbetracht der zu erwartenden Mitgift“. Unter diesen typisierten Figuren findet sich auch eine Reihe nur wenig verschlüsselter Prominenter wie Max Reinhardt, der als „Herr Direktor des Intimen Theaters“ in Erscheinung tritt und als „Berlins und seiner Kapitalisten ausgesprochener Liebling“ charakterisiert wird, „dessen geniale Regiekunst, dessen Talent und dessen Jugend ebenso verblüffen, wie sein fürstlicher Hausstand, sein Koch mit dem Ministergehalt, und seine Villa im Grunewald“. Oder der Bohèmien Erich Mühsam, der unter dem Pseudonym Emil Brühwarm als „Privatrevolutionär“ eingeführt wird und dessen Reden und „merkwürdige Weisheiten“ den Höhepunkt abendlicher Gesellschaften bilden: „Aus der Tiefe seiner Ueberzeugung und aus der Tiefe seines ehemals weißen Vorhemdes holt er das Ungeheure, Vernichtende“. [18]
Dass es sich hierbei um Typen und keine psychologisch ausgestalteten Figuren handelt, trägt der Beobachtung Rechnung, die Georg Simmel in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben (1903) als „Hypertrophie der objektiven Kultur“ bezeichnet: die massenhafte Zunahme an Dingen und Waren, die mit einem gleichzeitigen Schwinden, einer „Atrophie der individuellen […] Kultur“ einhergeht. [19] So stehen den typisierten Figuren etliche Namen der wuchernden Konsumkultur gegenüber. Edel benennt damit Dinge beim Namen, die sonst von der Literatur gerne vermieden oder durch generische Begriffe ersetzt werden, weil sie als ‚leidige Tatsachen‘ (Bernd W. Seiler) gelten: Verkehrt wird nicht in irgendwelchen Cafés oder Restaurants, sondern im schon erwähnten Café des Westens, bei Huster in der Mohrenstraße, bei Borchardt und Hiller, bei Josty am Potsdamer Platz, im Kempinski, bei Feinkost Hefter oder in der Waldschänke im Zoologischen Garten; geraucht werden nicht Zigarren oder Zigaretten, sondern Bock und Rosa Aromatica, Upmann, Queen, Henry Clay und Flor de Ynclan; getrunken werden nicht Bier oder Champagner, sondern Berliner Weiße mit Himbeer, Pommery und Pilsener; gelesen werden nicht Journale und illustrierte Blätter, sondern der Simplicissimus und die Jugend, die Vossische, das Berliner Tageblatt und die Lustigen Blätter. Dies und was sonst noch so benötigt wird, wie die Parfums Ideal und Peau d’espagne oder die Darmstädter Korbmöbel, wird bei Elsner in der Leipzigerstr., bei N. Israel, Grünfeld, Tietz, Wertheim oder Gerson beschafft… Edel listet all dies wie in einem Wörterbuch der Gemeinplätze und mit hohem Unterhaltungswert auf und legt damit ein Archiv dieser scheinbar belanglosen Oberfläche an. Ging es Theodor Fontane mit seinem im Berliner Osten spielenden Roman Frau Jenny Treibel (1892) noch darum, „das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeois-Standpunktes zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson meint“, [20] so zeigt Edel wenige Jahre später, wie im neureichen Berliner Westen Gerson gemeint und davon gesprochen wird. Denn demonstrativer Konsum, wie ihn der amerikanische Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen in seiner 1899 erschienenen Theory of the Leisure Class beschreibt, gehört hier zum guten Ton. [21]
Seifenblasen für den Kanon
Wie seine Karikaturen und Plakate sind auch Edels Bücher für die unmittelbare Gegenwart produziert. So gilt für seine Bücher, was der Kulturhistoriker Eduard Fuchs im Jahr des Erscheinens von Berlin W. über den kulturgeschichtlichen Wert von Karikaturen schreibt: dass sie mehr sind als „wirkungslos aufsteigende und spurlos wieder untertauchende Seifenblasen geistreicher Laune“. [22] Gerade weil sie nicht darauf angelegt sind, in überzeitlicher Klassizität den Lauf der Jahrhunderte zu überdauern, sind sie kulturhistorisch so wertvoll: Denn sie brauchen sich nicht darum zu bemühen, das Ephemere der Gegenwart auszusortieren, das von kürzerer Lebensdauer sein könnte als sie selbst. Heute, nachdem die Popliteratur der 1960er und der 1990er Jahre eine Öffnung zur Konsumkultur hin selbstverständlich gemacht hat, erscheint das unspektakulär. Um die Jahrhundertwende ist es aber tatsächlich eine „Sensation auf dem Büchermarkt“.
Edel lässt auf Berlin W. noch eine Menge Bücher folgen. Mit keinem verfolgt er die Absicht, „die Menschheit zu verbessern oder sie höheren Zwecken entgegenzubringen“ – das überlässt er, wie er in den vorangestellten Worten an die schöngepuderte Leserin zu seinem 1920 erscheinenden Roman Der Filmgott erklärt, den „gelernten Weltverbesserern“, von denen das ohnehin besorgt werde. [23] In seinen zahlreichen Büchern geht es immer wieder um die Facetten der Oberflächenkultur: 1907 erzählt er in seinem Roman Der Snob von einer der wichtigsten Figuren in Berlin W. und schickt sie auf Reisen in die Schweiz und nach Monte-Carlo, wo sie, natürlich, zahllosen Berlin W.-lern begegnet. Im folgenden Jahr steuert er mit Neu-Berlin einen Band zu Hans Ostwalds herausragender Reihe der Großstadt-Dokumente bei. [24] In seinem 1912 erscheinenden Roman Poker schildert er den Aufstieg eines Berliner Konfektionshändlers und seinen durch Spielsucht bedingten Fall. 1914 liefert Edel mit Mein Freund Felix. Abenteuerliches aus Berlin W.W. eine Fortsetzung von Berlin W. Der Roman Das Glashaus von 1917 gibt Einblicke in die Filmwelt, die Edel als Drehbuchautor und Regisseur von Filmen wie Die Börsenkönigin (1916/18) mit Asta Nielsen kennenlernt. Und 1925 spielt er in seinem Roman Die alte Firma Auf- und Abstieg in der Konfektionsbranche vor dem Hintergrund der Inflationsjahre der Weimarer Republik durch.
Als Edmund Edel am 4. Mai 1934 stirbt, bleibt ein Nachruf aus. Ein Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten stehen die Zeichen für seine Literatur der Oberfläche denkbar schlecht. Bereits im September 1933 reagiert der Völkische Beobachter mit derben Worten auf eine Hommage, die das Berliner Tageblatt anlässlich von Edels 70. Geburtstag gebracht hatte, und beschimpft den „endlich aus dem Verkehr gezogenen Salonsemiten und seine abartigen Bejubler, die sich erdreisteten, noch heute der obszön-dekadenten Zeichnerei und Schreiberei des Edel-Juden voll schlecht verhohlener Wehmut zu gedenken“. [25] Edmund Edel, so berichtet es sein Enkel, der Schriftsteller Peter Edel, schneidet diesen Zeitungsartikel aus und vermerkt vorahnungsvoll quer darüber: „Mein Nachruf“. Mit achtundachtzig Jahren Verspätung ist es überfällig, jener Schmähung hier nun den wohlverdienten würdigenden Nachruf entgegenzustellen. Und es ist an der Zeit, das Werk Edmund Edels wiederzuentdecken und in unsere Literaturgeschichten aufzunehmen. Es hält reichlich Stoff für Begegnungen mit einer vergangenen Zeit bereit, bisweilen, so Florian Illies, von einer schwindelerregenden Aktualität: „dann weiß man gar nicht mehr, wo man denn nun ist, gestern oder heute“. [26]
Eine ausführlichere Fassung dieses Essays ist als Nachwort in der Neuausgabe von Edmund Edels Satire Berlin W. Ein paar Kapitel von der Oberfläche im Quintus Verlag erschienen. Sie bildet den Auftakt zu einer Edmund Edel-Werkausgabe, die von Björn Weyand herausgegeben wird.
[1] Alle Zitate finden sich im Reklameanhang zu Edmund Edel: Fritz der Zeitgenosse. Eine merkwürdige Geschichte. Hamburg 1909.
[2] https://breiterkanon.hypotheses.org
[3] Edmund Edel: Der Witz der Juden. Berlin 1909.
[4] Ebenfalls aus dem Reklameanhang zu Fritz der Zeitgenosse.
[5] Max Osborn: Edmund Edel und seine Plakate. In: Deutsche Kunst und Dekoration. Illustrierte Monatshefte zur Förderung deutscher Kunst und Formensprache in neuzeitl. Auffassung, Bd. VIII. (1901), S. 389-400, hier S. 390.
[6] Walter v. Zur Westen: Reklamekunst. Bielefeld u. Leipzig 1914, S. 82.
[7] Der zugehörige Katalog ist nach wie vor ein wichtiges Grundlagenwerk zu Edel: Marina Sauer: Mit Schirm, Charme und Melone. Der Plakatkünstler Edmund Edel (1863-1934). Kiel 1994.
[8] So Leo Colze: Berliner Warenhäuser. Berlin u. Leipzig 1908, S. 18. Der Band ist in der Reihe der von Hans Ostwald herausgegebenen „Großstadt-Dokumente“ erschienen.
[9] Ernst Pauly (Hg.): 20 Jahre Café des Westens. Erinnerungen vom Kurfürstendamm. Schriftleitung: Edmund Edel. Berlin und Charlottenburg 1913/14.
[10] Edmund Edel: Berlin W. Ein paar Kapitel von der Oberfläche. Berlin 1906. Hier zitiert nach der Neuausgabe Berlin 2022, S. 9 u. 11.
[11] Jules Huret: Berlin. München 1909, S. 29.
[12] Georg Simmel: Philosophie der Mode [1905]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 10. Frankfurt am Main 1995, S. 7-37, hier S. 37 u. 34.
[13] Werner Sombart: Wien. In: Morgen, 19.07.1907, S. 172-175, hier S. 173f.
[14] Werner Sombart: Die Reklame. In: Morgen, 06.03.1908, S. 281-286, hier S. 286.
[15] Wilhelm II: Die wahre Kunst. Ansprache am 18. Dezember 1901, anlässlich der Ausgestaltung der Siegesallee. In: Jürgen Schutte u. Peter Sprengel (Hg.): Die Berliner Moderne 1885–1914. Stuttgart 1987, S. 571-574, hier S. 574.
[16] Sombart: Die Reklame, S. 286.
[17] Edmund Edel: Kunst, Kultur und Reklame. In: Morgen, 08.05.1908, S. 601-605, hier S. 602.
[18] Alle Zitate aus den Kapiteln Der Jour und U.A.w.g. in Edel: Berlin W.
[19] Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben [1903]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 7. Frankfurt am Main 1995, S. 116-131, hier S. 130.
[20] Theodor Fontane: Brief an seinen Sohn Theo vom 9. Mai 1888. In: Theodor Fontane’s Briefe an seine Familie. Zweiter Band. Berlin 31905, S. 173-178, hier S. 173f.
[21] Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions [1899]. New York 1998.
[22] Eduard Fuchs: Die Frau in der Karikatur. München 1906, S. V.
[23] Edmund Edel: Der Filmgott. Roman. Berlin 1920, S. 5.
[24] Edmund Edel: Neu-Berlin. Berlin u. Leipzig 1908.
[25] Peter Edel: Wenn es ans Leben geht. Berlin 1979, Bd. 1, S. 34.
[26] Florian Illies: Berlin (W). In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.05.2002.