von Julia Stanton
Als Valerie Solanas am 3. Juni 1968 auf Andy Warhol schießt, begründet sie ihre Tat mit den Worten: „Er hatte zu viel Kontrolle über mich“. Nur drei Jahre früher sah Solanas in Warhol noch die Chance, ihr Theaterstück produzieren zu lassen. Stattdessen hält er sie hin, bietet ihr an, als Sekretärin für ihn zu arbeiten, lädt sie gelegentlich zu Partys ein, zeichnet Teile ihrer Telefongespräche auf und nutzt diese Aufnahmen ohne Erlaubnis und ohne Kenntlichmachung für einen seiner Filme. Am Anfang gerade so toleriert, wird Solanas, eine radikale Feministin, die heute neben ihrem Attentat besonders für ihr SCUM-Manifesto (Society for Cutting up Men) bekannt ist, bald schon zum Ärgernis und ist in Warhols Kreisen nicht mehr willkommen. Fest davon überzeugt, dass er ihr Theaterstück verloren hat, beginnt sie, ihm wütende Briefe zu schreiben. Sie teilt ihm mit, dass sie eine Waffe kaufen wird und bleibt ihren Worten treu.
Nichts Besonderes, der Debütroman der irischen Autorin Nicole Flattery, beginnt fast 40 Jahre nach Solanas Attentat – 2010. Mae, die Protagonistin, lebt ein ereignisloses Leben. Ein zufälliger Kommentar über Solanas versetzt sie zurück in ihre Zeit als Teenagerin und erinnert sie an ihre eigenen Erfahrungen mit Andy Warhol.
a, A novel
1966 ist Mae 17 Jahre alt und lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter und deren Partner in einer heruntergekommenen Wohnung in New York. Ihr Leben langweilt sie und sie sehnt sich nach etwas Außergewöhnlichem. Sie bricht die Schule ab und wird durch eine Reihe von Zufällen Sekretärin in Warhols berühmter Factory. Dort lernt sie Shelley kennen, die ihr Zuhause verlassen hat, um ähnliche Sehnsüchte wie Mae zu verfolgen. Gemeinsam wird den beiden aufgetragen, Gesprächsaufnahmen von Warhol und seinen Freunden zu transkribieren, die später zu einem Roman werden sollen.
Flattery erzählt damit im Grunde eine verlorene Geschichte. Den Roman, den Mae und Shelley schreiben und der aus den aufgezeichneten Gesprächen von Warhol und anderen Factory-Stars wie Edie Sedgwick und „Ondine“-Robert Olivo besteht, gibt es wirklich. Er wurde 1968 unter dem Titel „a, A novel“ veröffentlicht. Klar ist, dass Warhol, auch wenn er als einziger Autor namentlich Erwähnung findet, den Roman nicht selbst schrieb. Wer die Frauen waren, die diesen Roman abtippten, ist allerdings unbekannt. Nichts Besonderes ist daher eine fiktionale Erzählung mit historischen Elementen, in der Flattery die mögliche Geschichte dieser Frauen nachzeichnet.
Ihr gelingt dies mit scharfem Beobachtungsvermögen und Sensibilität, ohne bekannte und veraltete Mythen über die 60er oder Warhol zu reproduzieren. Nichts Besonderes widmet sich ganzheitlich allem Vergessenen und Unbekannten dieser Zeit und verleiht den damals unsichtbaren Charakteren eine Stimme. Warhol selbst spielt in dem Roman nur eine Nebenrolle und kommt kaum vor. Er besitzt allerdings eine unheimlich wirkende Omnipräsenz, die sich im Verhalten von Mae und anderen Factory Mitgliedern zeigt. Wenn er den Raum betritt, liegt alle Aufmerksamkeit auf ihm und es geht jedem nur darum, ihm zu gefallen. Dadurch verrät der Roman einiges über die Dynamik und die soziale Hierarchie dieser Welt – möglicherweise mehr, als es eine der zahlreichen Warhol-Biografien je könnte. An Stellen wirkt es sogar so, als würde der Roman mit der öffentlichen Person, die Warhol vorgab zu sein, spielen und diese dekonstruieren. Ein Licht scheint der Text dabei besonders auf die extreme Macht, die Warhol auf die Mitglieder der Factory ausübte.
surrounded by genius, by grace, by people
Das offenbart sich besonders im jungen und naiven Ton, in dem der Hauptteil des Romans erzählt wird. Mae glaubt alles zu wissen und erfahrener zu sein als sie ist. Als sie das erste Mal in Warhols Studio tritt, ist ihre größte Sorge allerdings ein Streit mit ihrer Schulfreundin Maud und Daniel, der Mann, mit dem sie zum ersten Mal schläft. Immer wieder gibt es Stellen im Roman, in denen Mae zwar denkt, Kontrolle zu haben, in denen aber gleichzeitig deutlich wird, wie machtlos sie eigentlich ist und wie sehr die Factory Mitglieder ihre Naivität ausnutzen.
Das dadurch entstehende Unbehagen wird zusätzlich durch die Zeitsprünge zwischen Vergangenheit und Zukunft verstärkt. Die ältere und reifere Mae erzählt in einem anderen Ton und bewertet ihre Erlebnisse von damals in einer Art, die verrät, wie ausbeuterisch ihre Situation war.
Mit 17 ist Mae aber noch fest davon überzeugt, dass die Factory und die Leute, die dort ein und ausgehen, etwas Besonderes sind und das so auch sie durch ihre Assoziation mit ihnen zu etwas Besonderem wird: „I felt like, I was finally surrounded by genius, by grace, by people who had made decisions about their lives.“ Das ist es auch, was sie motiviert, die Gespräche abzutippen. Mae und Shelley halten sich für Autorinnen, die gerade ein Buch schreiben. Ihnen ist noch nicht bewusst, dass sie für diese Arbeit nie jegliche Form von Anerkennung erhalten werden. Und so tippen sie weiter, mit Präzision und Ehrgeiz, ihr Selbstverständnis eng mit dieser Arbeit verstrickt. Dabei geht es Mae vor allem um das Label als Autorin.
Der Roman stellt so vor allem die Frage nach Identität und inwiefern Identität mit Arbeit, Kunst und auch Konsum zusammenhängen. Mae kommt mit der Ambition in die Factory ihre gesamte Identität, „the person she had been“, komplett zu verändern; im Grunde so zu werden wie einer der Stars der Factory, zu denen sie aufschaut.
the parties looked like fun
Identität wird hier aber als nichts anderes verstanden als die Art, in der man sich präsentiert, das äußere Erscheinungsbild. Es ist damit dann auch etwas, das man kaufen kann oder sogar kaufen muss, das abhängig ist von den Dingen, die man konsumiert und nicht konsumiert. „I had a list of things I wanted to be, a shopping cart of qualities“, erklärt Mae am Anfang des Romans.
Ein gutes Leben zu leben und eine interessante Person zu sein, bedeutet, sich in einer Art zu präsentieren, die vor der Kamera gut aussieht. Das gelingt den Mitgliedern der Factory so gut, dass selbst Mae Jahre später auf die Fotos aus dieser Zeit zurückblickt und denkt: „the parties looked like fun“ – auch wenn sie alles andere als das waren.
Es ist somit auch kaum verwunderlich, dass diese Welt in „ugly“ und „beautiful“ eingeteilt ist – Worte, mit denen der Roman übersättigt ist. „Ugliness“ hat in der Factory keinen Wert, „you had to be special to register in those rooms“, erklärt Mae. Was „ugly“ ist, wird rausgeschmissen. Es ist Synonym für alles Schlechte und Ungewollte. Ihre Kindheit ist „ugly“ genauso wie die Wohnung, in der sie lebt und so ist Mae froh, dass sie diese Welt endlich hinter sich lassen kann. Das Gegenteil gilt für alles Schöne: „Everyone wanted good things to happen to the really beautiful people. Everyone wanted horrible things to happen to the bad guys, who were obvious to discern.“
Mae übernimmt diese Weltsicht so sehr, dass sie alle um sich herum, einschließlich sich selbst, objektifiziert und basierend auf deren Erscheinungsbild bewertet. Selbst Shelley, zu der sie in vielerlei Hinsicht aufblickt, wertet sie konstant ab, weil die Art, in der sie sich kleidet, unpassend ist und nicht den Codes der Factory entspricht: „She [Shelley] wasn’t sexy, and her attempts were hopeless, pitiable, like my mother striking poses when she was drunk.“
famous for fifteen minutes
„Ugly“, so wird klar, ist das, was die Factory als solches bezeichnet. Mae wirkt in ihren Beschreibungen oft gemein und herablassend, ihre Kommentare sind im Grunde aber nur eine Reflektion ihrer Umwelt, deren Werte sie unkritisch übernimmt.
Auch wenn der Roman in den 60er Jahren spielt, wirkt der Text an manchen Stellen wie ein direkter Kommentar über unsere heutige Gesellschaft: Unsere Obsession mit Aussehen, mit Sehen und Gesehen werden, den Impuls ständig alles in unserem Leben aufzuzeichnen und auf Social Media ein bestimmtes Image unserer Selbst zu kuratieren, das alles scheint eine direkte Fortführung der Welt zu sein, die Warhol kreierte und die ihn im Gegenzug zu einem der bekanntesten Künstlern des 20. Jahrhunderts machte.
Wenn es um heutigen Influencer- und Starkult geht, kommt man meist nicht umhin, Warhol zu nennen: „In the future everyone in the world will be world famous for fifteen minutes“, soll eines seiner berühmtesten Zitate lauten. Das Internet und besonders Social Media scheinen dieses Zitat wahr gemacht zu haben: „Instagram hat das Zeitalter der Selbstkommerzialisierung im Internet eingeläutet […] aber TikTok und Twitter haben es noch beschleunigt. Jeder ist gezwungen, die Rolle eines Influencers zu übernehmen“, schrieb der Autor Kyle Chayka vor Kurzem in einem Artikel. Es geht immer darum, so viele Klicks und so viel Reichweite wie möglich zu bekommen; der potentielle Erfolg immer in greifbarer Nähe. Dabei besteht aber auch immer die Gefahr des Scheiterns: „Auf Facebook gibt es weniger eine ‘Bedrohung der Sichtbarkeit’ als vielmehr eine ‘Bedrohung der Unsichtbarkeit’, die die Handlungen von Nutzern zu bestimmen scheint. Das Problem ist nicht, ständig beobachtet zu werden, sondern die Möglichkeit, ständig zu verschwinden, nicht als wichtig genug angesehen zu werden“, bemerkt die Medienwissenschaftlerin Taina Bucher.
Auch wenn es damals weder TikTok noch Instagram gab, verhandelt der Roman diese ständige Bedrohung von Unsichtbarkeit und erzählt wie mächtig, aber gleichzeitig auch wie erdrückend das unerfüllte Bedürfnis nach Sichtbarkeit sein kann. Als Shelley und Mae ihren Roman beenden, werden sie damit auch wertlos für die Factory. „[W]hen the last tape ended, so would our lives“, erklärt Mae.
Ihnen widerfährt damit ein ähnliches Schicksal wie Solanas. Und so ist es kaum verwunderlich, dass Mae am Ende des Romans, obwohl sie sich nicht erinnert, Solanas je kennengelernt zu haben, eine Form von Solidarität verspürt. Mae kommentiert:
„What they didn’t say was that they understood it too. They understood it when she said he had too much control over my life. […] They had to make her strange because it could have been any of them. Shelley could have done it, but she wouldn‘t have missed, those typing fingers nimble and sure.“
Stop recording
Gleichzeitig zeigt der Roman aber auch die Kosten hinter dem ständigen Aufzeichnen des eigenen Lebens, dem ständigen Drang zur Performanz. Die Tapes, die die Mädchen jeden Tag hören, werden immer unerträglicher. Den Stars, die konstant aufgenommen werden, geht es zunehmend schlechter, mental und auch körperlich. Die Schauspielerin Edie Sedgwick hat einen Zusammenbruch und muss in eine Klinik eingewiesen werden.
„Stop recording“, darum bitten die Stimmen auf den Tapes wieder und wieder, ohne je eine Antwort zu erhalten: „But there was never any response from the man holding the tape recorder, and the red recording light stayed on.“ Je genauer Mae und Shelley zuhören, desto mehr wird ihnen klar, dass ihr Wunsch nach öffentlicher Anerkennung nicht zu der Erfüllung führen würde, die sie sich davon erhoffen.
Auch in diesem Sinne scheint der Roman unsere heutige Beziehung mit sozialen Medien zu reflektieren: Wir sind ständig dazu aufgefordert, jeden Aspekt in unserem Leben aufzuzeichnen und dort eine bestimmte Version unserer selbst zu präsentieren. Über die Kosten, sich selbst ständig in Bildern, Videos oder auf Social Media Profil zu inszenieren, wird aber nur selten gesprochen: „ [W]as bedeutet es eigentlich für so viele junge Menschen […], sich darüber zu definieren, wie sie wahrgenommen werden?“ fragt die Autorin Haley Nahman in einem Essay.
Der Roman gibt eine ernüchternde Antwort. Nichts Besonderes endet 1985, einige Jahre nach den Geschehnissen, antiklimaktisch. Mae arbeitet in einer Bar, in einer nicht nennenswerten Stadt und lebt ein normales Leben. Was für die 17-jährige Mae ein Albtraum gewesen wäre, entpuppt sich als Happy End. Es ist die Umkehr all dessen, wofür Warhol steht. Maes jüngere Kolleginnen blicken auf sie herab, aber sie bemerkt nur: „They didn’t know that was the life I had made and I was proud of it; a life where I didn’t need to be looked at, admired.“
Beitragsbild von Anastasiya Badun