Person und Persona – Die Lüge der Authentizität in der Stand-up-Comedy

von Bernhard Hiergeist

Im Frühjahr tat der US-amerikanische Comedian John Mulaney etwas höchst Gewöhnliches: Er sprach über sein Privatleben. In seiner aktuellen Stand-up-Comedy-Show Baby J handelt er Witz um Witz seine Sucht nach Alkohol, Drogen, Tabletten und Aufmerksamkeit ab, die Trennung von seiner Frau, und wie ihn eine intervention durch prominente Freunde dazu brachte, einen Entzug zu machen. Baby J – ein Programm mit hoher Witz-Frequenz – ist aus dem Leben gegriffen. Alles ist wahr oder deckt sich zumindest mit dem, was unzählige Medien nach Bekanntwerden von Mulaneys Erkrankung aus dessen Privatleben zutage gefördert hatten. Klassische Stand-up-Comedy also.

Und doch stand für Mulaney ungewöhnlich viel auf dem Spiel: Geld, Erfolg, Einfluss, Glaubwürdigkeit. Er hatte keine Wahl: Er musste auf der Bühne über seine dramatischen privaten Probleme sprechen. Er musste Stellung beziehen, und er musste das im Rahmen seiner Kunst tun. Mulaney kämpfte um seine wichtigste Ressource als Comedian: seine Authentizität.

Künstler:innen steht es frei, ihr Privatleben auch in ihrer Kunst zu verhandeln. Stand-up-Comedians hingegen können nicht nur, sie müssen. Während in Literatur, Film, Musik und Kunst die Trennung zwischen Werk und Urheber:innen hochgehalten wird – gerade bei problematischen Künstlern gerne mit aller Macht – ist diese Trennung bei Stand-up-Comedy nicht möglich. Hier gehen Publikum und Künstler einen besonderen Vertrag ein, der besagt: Was ich sage, ist beglaubigt durch mein eigenes Erleben, durch meine eigene Erfahrung. Comedians treten auf der Bühne als authentische Personen auf und ziehen Profit daraus, sie müssen also damit leben, dass sie sich auch fernab der Bühne für ihre Äußerungen verantworten müssen. Im Frühjahr wurde etwa die Comedienne Hannah Gadsby dafür kritisiert, dass sie eine Ausstellung in einem Museum kuratieren würde, das Verbindungen zu problematischen Geldgebern unterhält. Da Gadsby häufig problematische Mechanismen in der Kunstwelt kritisiert, war das heikel.

Der Fall John Mulaneys ist anders gelagert. Seine ganze Bühnenperson stand in Frage, als Ende 2020 bekannt wurde, dass er drogenabhängig war und einen Entzug hatte machen müssen. Als Comedian verkörperte Mulaney bis dahin einen naseweisen, kindlich gebliebenen Erwachsenen, der Stand-up-Comedy im Dreiteiler auf Konzerthausbühnen performt. Netflix ließ ihn vor einigen Jahren sogar ein Comedy-Special für Kinder produzieren. Private und öffentliche Person klafften also auseinander, was in Stand-up-Comedy ein Problem darstellt. Selbst (oder vielleicht gerade) die größten Fans können einem Künstler so etwas übelnehmen. Es war klar, dass Mulaney in seiner nächsten Show einen Weg finden musste, die beiden Persönlichkeiten wieder in Einklang zu bringen. 

Baby J zeigt exemplarisch, wie bedingungslos viele Comedians heute dem Authentizitätskult gehorchen. An einem Gegenbeispiel, der Show You Choose des US-amerikanischen Comedians Dany Jolles, soll später gezeigt werden, wie eine Alternative aussehen kann. Doch zunächst zur Frage, wie Authentizität in Stand-up zum bestimmenden Paradigma wurde. Dass Witze umso stärker sind, je „aufrichtiger“ und „echter“ das Geschilderte empfunden wird, diese Idee kommt etwa Mitte der 1990er Jahre auf. Und sie setzt sich rasch durch. Schon 2005 stellt der britische Comedywissenschaftler Oliver Double in Getting the Joke fest: „Heutzutage ist die Idee, dass der Auftritt eines Komikers seine wahre Persönlichkeit widerspiegeln sollte, weit verbreitet.“

Eine junge Generation von Comedians wollte sich von der als dröge empfundenen Beobachtungscomedy (observational comedy) der 1980er Jahre absetzen. Ein Ausweg schien der Rückgriff auf den Alltag und die kleine persönlichen Sünden, die confessional comedy. In dieser Entwicklung drückte sich auch ein größerer gesellschaftlicher Trend aus. Die Politik ließ die Menschen allein – Armut und Einkommensunterschiede wuchsen, Löhne stagnierten, Gewerkschaften wurden ausgehöhlt. Aktive politische Mitgestaltung war kaum noch möglich. Politik bedeutete nur noch, wie etwa in Deutschland unter Angela Merkel, bloße Verwaltung von Sachzwängen. Nur über den je individuellen Alltag haben Menschen noch Verfügungsgewalt.

Gary Shandling, amerikanisches Stand-up-Urgestein, drückt es in einer Episode der Talk-Serie The Green Room so aus: „Mein ganzer Weg besteht darin, authentisch zu sein, wer ich bin“, sagt er. „Ich versuche nicht, unter allen Umständen jemand anderes zu sein. […] Sein wahres Selbst zu sein – das erfordert enorme Arbeit. Erst dann können wir anfangen, uns mit den Problemen in der Welt zu beschäftigen.“Das Aufkommen der sozialen Medien befeuerte den Trend, indem es die Bühne schuf, auf der der Alltag dann minutiös dokumentiert und präsentiert werden konnte.

Man kann nichts ausrichten, aber man ist wenigstens authentisch man selbst. An diesen Zeitgeist konnte Stand-up-Comedy ohne große Anstrengung anknüpfen. Denn es ist der Kunstform eingeschrieben, dass ihre Vertreter:innen möglichst normal und unkünstlerisch auftreten. Zwar gilt, wie Jesse Rappaport und Jake Quilty-Dunn in ihrer Arbeit Stand-Up Comedy, Authenticity and Assertion festhalten: „Ähnlich wie Schauspieler auf einer Bühne tun [Comedians] nur so, als würden sie Sprechakte vollziehen.”

Allerdings macht es die Kunstform sehr leicht, überzeugend vorzutäuschen. Schließlich ist es konstitutiv für Stand-up-Comedy, dass sie im Medium der Umgangssprache stattfindet, und ohne technische Gimmicks wie Projektor und Leinwand auskommt. Zudem lenkt der Kontext (Keller, Bars, Garagen etc.) gezielt vom künstlerischen Charakter der Form ab, anders als etwa Museen oder Wasserglas-Lesungen. Der Autor David Marc schreibt in Comic Visions. Television Comedy and American Culture: „Ohne den Schutz der formalen Maske eines narrativen Dramas, ohne Lied, Tanz oder eine andere vermittelnde Struktur, die eine Distanz zwischen Darsteller und Performance schafft […] wendet sich der Stand-up-Comedian als nacktes Ich an das Publikum und verzichtet auf den Luxus einer klaren Trennung zwischen Kunst und Leben.“ Nirgendwo ist die Trennung von Künstler und Werk so schwierig wie hier. Und das Idealbild des Comedians, der mit seiner Kunst identisch ist, wird ausgehend von den USA mit einem Stand-up-Boom zu Beginn der 2000er in die ganze Welt exportiert.

Vor diesem Hintergrund ist John Mulaneys geschniegeltes Image bei gleichzeitigen privaten Eskapaden ein Problem. Sein Status als Comedian steht auf dem Spiel. Folglich versucht er in Baby J, die größtmögliche Distanz zwischen seinem alten und neuen Bühnen-Ich zu schaffen. Nach wie vor allerdings trägt er Anzug, Jokewriting und Sprachduktus sind immer noch dieselben. Selbst die Location, die Boston Symphony Hall, ist ähnlich edel gewählt wie in bisherigen Specials. Die Distanzierung findet vor allem auf inhaltlicher Ebene statt.

Der neue Mulaney zeichnet den alten Mulaney konstant als aufgedrehten, wirr plappernden Jahrmarktschreier, der lächerliche Dinge tut. Er ist unpünktlich, egozentrisch und fragt wahllos Freunde nach Drogen. Um an Bargeld zu kommen, kauft er per Kreditkarte eine Armbanduhr für Tausende Dollar, um sie Minuten später zum halben Preis zu verpfänden. Deutlich verortet Mulaney diese Episoden in der Vergangenheit: „Diese Zeit ist vorbei“, sagt er oder „Heute habe ich einen anderen Vibe“. Beim Blick in den Spiegel entfährt ihm manchmal ein „Dieser Typ schon wieder, Jesus“. Als er am Ende des Specials ein Interview vorliest, das der alte Mulaney wohl auf einem Drogentrip gegeben hat, wechselt er beim Kommentieren und Vorlesen ständig die Position, um zu unterstreichen, dass es sich bei den beiden Mulaneys um verschiedene Instanzen handelt.

Glaubwürdig wird die Trennung, weil Mulaney seine Fehler offen eingesteht, vor allem den größten Betrug an den Fans, nämlich eine falsche Persönlichkeit vorgespielt zu haben. Als der Comedian von jemandem berichtet, der sich über die Arroganz des alten Mulaney wundert („Alle haben immer gesagt, du wärst nett“), kommentiert der neue: „Glaubt niemals der Persona.“

Mulaney bringt in Baby J nicht nur die größtmögliche Distanz zwischen sein altes und neues Bühnen-Ich, es gelingt ihm sogar, diese Distanz aufzulösen. Zu Beginn spricht er davon, wie er früher Kokain mangels geeigneter Oberflächen sogar von Wickeltischen schnupfte. Gegen Ende des Specials grüßt Mulaney dann den Wickeltisch in einer Museumstoilette („Hallo, alter Freund“) und salutiert zur Ehrenbezeugung. Der freundliche Abschied vom alten Leben ist möglich, da Mulaney eben im Begriff ist, den Tisch seiner eigentlichen Bedeutung zuzuführen und seinen neun Monate alten Sohn zu wickeln. Die Dinge sind wieder im Lot, Mulaney hat zu sich selbst gefunden. Der Durchgang durch ein persönliches Tal wird zur bloßen Etappe auf dem Weg zu einem geläuterten, verantwortungsbewussten, eben: noch authentischeren Ich.

Zwischenzeitlich schien es, dass sich Mulaney als Künstler neu erfinden wollte. Nach dem Entzug trat er in Jeans auf, die Shows waren chaotisch, dabei aber unaufgeregt, wie Carrie Battan im New Yorker beschreibt. Schließlich“, so Battan, nach mehr als hundert Testshows, „ tauschte Mulaney die Jeans wieder mit dem Anzug aus “. Er will keine Antithese zu seinem bisherigen Werk formulieren – stattdessen variiert er ein altes Thema noch einmal, diesmal in Bezug auf Exzess und Drogensucht. Der drogensüchtige John Mulaney, der in der bunten Glitzerwelt des Comedians John Mulaney eigentlich ein Fremdkörper sein müsste, wird assimiliert, und dass das gelingt, zeugt von großem Können.

Und doch erscheint Baby J am Ende seltsam faul. Mulaney nennt als Grundübel seines Lebens, dass er süchtig nach Aufmerksamkeit sei. („Ich habe verstanden, dass es mir gut geht, solange ich ständig Aufmerksamkeit bekomme“) Dass möglicherweise auch eine Rolle spielt, dass Film- und Fernsehstudios, Agenturen, Promoter sowie traditionelle und soziale Medien Künstler:innen gnadenlos zu Produkten machen –  darüber könnte man einiges sagen. Mulaney tut jedoch genau das nicht.

Er individualisiert sein Scheitern, er muss es tun, um im Rahmen von Baby J die Ereignisse seines Lebens dramaturgisch als Heldenreise inszenieren zu können. Es hat etwas Frustrierendes zu sehen, wie Mulaney seine Kunstfertigkeit nicht dazu nutzt, menschliche Schwächen, Brüche, Wunden offenzulegen, sondern diese gerade unter einer glatten Oberfläche versteckt. Aus der Nähe betrachtet sehe Baby J aus wie ein Special, „das am Ende jede Mauer, die es eigentlich einreißen wollte, wieder neu aufbaut“, schreibt Kathryn Van Arendonk bei Vulture.

Wie ein Comedian auch anders mit dem Problem der Authentizität umgehen kann, zeigt etwas das Special You Choose des US-amerikanischen Comedians Dany Jolles, das im Oktober 2022 auf dem Youtube-Kanal des Stand-up-Veranstalters Don‘t Tell Comedy erschienen ist. Jolles ist weit weniger bekannt als Mulaney. Letzterer hat bereits mehrere Specials für Netflix produziert und versammelt in sozialen Medien Millionen Fans. Zum Vergleich: You Choose hat im Juli 2023 knapp 41.000 Aufrufe auf Youtube. Jolles hat den Vorteil, dass kein öffentliches Bild von ihm existiert, dem er entsprechen oder das er gegebenenfalls korrigieren muss.

Es gestattet ihm auch, experimenteller vorzugehen. Streng genommen hat nicht You Choose 41.000 Aufrufe, sondern nur das erste Video. Das Special ist im Stil der Choose-your-own-adventure-Buchreihe konzipiert, in Deutschland bekannt als 1000 Gefahren, bei der Leser:innen Entscheidungen treffen müssen und sich so bei jedem Lesedurchgang eine neue Geschichte entfaltet. Analog dazu besteht You Choose aus mehreren Youtube-Clips, die von den Zuschauer:innen angesteuert werden können. Je nachdem, ob sie wollen, dass Jolles auf der Bühne über seine Highschool-Zeit herziehen oder erklären soll, dass alles gar nicht so schlimm war. Geht er gerne mit seinem Hund zum Tierarzt oder hasst er es? Bewundert er den berühmten Magier David Blaine abgöttisch oder soll er ihn für einen Scharlatan halten?

Jolles performt einen Comedian ohne jede Haltung. Je nach Publikumsgeschmack kann er Witze über dieses, jenes oder das Gegenteil machen. Zwar hat Jolles, obwohl er ein äußerst solider Comedian mit Beobachtungsgabe ist, nicht die Brillanz Mulaneys. Und doch bleibt You Choose keine experimentelle Spielerei. Es ist eine Absage an den Authentizitätskult in der Stand-up-Comedy und überhaupt an die Vorstellung, jeder Mensch könne so etwas wie ein authentisches, unverwechselbares Selbst haben.

Comedians könnten ihre zur Schau gestellten Überzeugungen für Lacher anpassen. Das mache sie eben auch so gefährlich, sagt Jolles. „Warum solltet ihr mir vertrauen?”, fragt er. „Ich könnte doch lügen, oder?“ Am Ende laufen in You Choose alle Fäden wieder zusammen. Jolles lässt sein Special mit Kameratricks kurz in ein lyncheskes Gruselszenario kippen. 

Jolles analysiert scharf die Abgründe und ästhetischen Sackgassen einer Kunstform, die Authentizität zu ihrem Ideal erhebt und dabei Ursache und Wirkung vertauscht. Nicht weil ich ein fähiger Comedian bin, kann ich mich als authentische Person präsentieren. Sondern weil ich ich selbst bin (mit all meinen problematischen Ansichten und Meinungen), ist alles, was ich ausdrücke, authentische, ergo: gute Comedy.

Denn am Ende zählt nur, ob das Publikum lacht. Funny is funny, lautet ein sehr ehernes Gesetz unter Comedians, da verstehen sie keinen Spaß. Das Publikum beglaubigt gute Comedy mit seinem Lachen, was bei der Kunstform zunächst nur logisch scheint. Und das Publikum lacht sicherlich bei Baby J mehr als bei You Choose. Man könnte Jolles‘ Werk also als kalkuliert und manieriert abtun.

Aber dieses Credo unterschätzte die Fähigkeiten von Comedians. Schließlich ist das Amüsement, das sich einstellt, keine objektive Qualität eines Witztextes. Entscheidend ist nicht, was verpackt wird, sondern wie. Was auch immer Comedians vermitteln wollen: Sie verstehen es, es dem Publikum als lustig zu verkaufen. In die passende Mechanik verpackt und im richtigen Singsang vorgetragen wird alles zu Comedy.

Und weil das Authentische in Comedy so hohes Ansehen genießt, kann eben auch jeder Inhalt als authentisch, glaubwürdig und gut verkauft werden. Menschen lachen, zumal von Profis dazu animiert, über alles Mögliche. Das Publikum, das zeigt Jolles mit You Choose, ist keine objektive Instanz. Lachen beglaubigt jede beliebige Aussage – und damit keine. Lachen ist vor allem eines: eine höchst unauthentische Reaktion. 

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