Nostalgie und Culture War

von Jonas Lübkert

Nostalgie lässt einen schlimme Dinge tun: Batman v Superman schauen zum Beispiel. Der Film gilt sowohl unter Kritikern*innen als auch Fans als misslungen. Auf der Plattform Rotten Tomatoes ist er aktuell bei 29 Prozent und hat einen Audience Score von 63. Habe ich ihn trotzdem geschaut? Natürlich. Zwei Mal. Und ich war damit nicht allein: Fast 900 Millionen US-Dollar hat der Film eingespielt. Transformers: Age of Extiction mit einem Audience Score von 50 hat dem Studio über eine Milliarde US-Dollar eingebracht. Wir scheinen eine  Menge an Medien zu konsumieren, die wir auf Nachfrage eigentlich als schlecht erachten.

Nostalgie ist eine Sehnsucht nach etwas Bekanntem aus der Vergangenheit; weniger nach dem Film, dem Buch, der Serie an sich, sondern nach dem Gefühl, das sie uns damals gegeben haben. Ich sehe mir gerne Batman an, unabhängig von der Qualität der Geschichte. Der jeweilige Schauspieler muss nur “I am Batman” sagen und ich habe dieselbe naive Freude wie mit 15.

Über die Gründe für nostalgiebedingten Konsum wurde, auch auf 54books, schon viel nachgedacht. Simon Sahner beschreibt Nostalgie in seinem Text über das Wetten Dass-Revival als „Fiktion der Sorglosigkeit“, eine „warme Decke“, die uns vergangene Zeit als vermeintlich bessere Phase unseres Lebens vorgaukelt. Johannes Franzen spricht in Nostalgie als Droge – Warum hört das „Literarische Quartett“ nicht auf von einer „starken Droge“, die vor allem „in Zeiten kultureller Verunsicherung“ nachgfragt ist. Und Isabella Caldart erklärt in Revivals, Reboots, Reunions, wie mit Nostalgie ein „magischer“ Sog entstehen kann.

Hier soll es aber um einen anderen Effekt von Nostalgie gehen. Nicht, warum Menschen aus Nostalgie-Gründen etwas konsumieren, sondern warum sie manchmal lautstark und wütend verkünden, einen bestimmten Film oder ähnliches nicht konsumieren zu wollen. Dabei handelt es sich in der Regel um selbsternannte Fans, von denen man annehmen könnte, dass sie sich über eine Fortsetzung oder Neuauflage ihres geliebten Universums freuen – endlich wieder unter die kuschelige Nostalgiedecke  schlüpfen zu können.

Verspätete Wut

Anfang Februar 2022 veröffentlichte Amazon einige Plakate zu ihrer Herr der Ringe-Serie Rings of Power. Unter anderem der offizielle Twitteraccount @LOTRonPrime postete sie einzeln auf seinem Kanal. Auf jedem Bild sind nur die Hände zu sehen, die jeweils etwas anderes halten. In den Kommentaren von einem dieser Posts – Hände einer BiPOC halten eine Schriftrolle – begann schon kurze Zeit später ein Backlash: Wegen der Hautfarbe sei die Figur nicht „historisch korrekt“, schrieb irgendwer (Mit dieser absurden Behauptung hat sich Aurelia Brandenburg bereits ausführlich auseinandergesetzt). Man müsse das Originalmaterial vor der „woke-agenda“ der Macher schützen, behauptet ein anderer.

Zuletzt behauptete jemand auf Twitter , dass Sam Wilson, eine Schwarze Comicfigur, die ihre Identiät als Falcon ablegte, um der neue Captain America zu werden, nie Captain America sein wird. Der einzige, der diesen Namen tragen dürfe, sei Steve Rogers, der erste Charakter mit diesem Titel. Das ist aus mehrfacher Hinsicht absurd. Zum einen hatte Sam Wilson 2015 eine eigene Captain America-Comicreihe. Es gehört zur offiziellen Realität dieses Comicuniversums, dass Sam Wilson diesen Namen trägt. Zum anderen ist das ganze über sieben Jahre her. Man könnte meinen, die Diskussion dazu sei eigentlich schon beendet und die Reaktionen dazu abgeebbt.

Die Äußerung ist jedoch kein Einzelfall. Vor Kurzem war jemand auf Twitter verärgert darüber, dass Wolverine jetzt eine Frau sei (Laura Kinney, ein Klon des ersten Wolverines, übernahm 2014 dessen Namen und Kostümdesign). Oder Menschen bestehen darauf, dass Miles Morales, ein afro-latin American Teenager aus einem Paralleluniversum sei, und nicht der „echte“ Spider-Man. Miles Morales hatte ebenfalls seine eigene Comicreihe, seine eigene Zeichentrickserie, sein eigenes Computerspiel, alles unter dem Namen Spider-Man.

Ich nenne diese Form von verspätetem Backlash „Legacy Hero Latency“. Unter Legacy Hero versteht man Superheld*innen, die in die Rolle einer*eines anderen schlüpfen, wie Sam Wilson, Laura Kinney und Miles Morales. Latency steht hier für die teils sehr lange Latenz zwischen dem Event und den Beschwerden darüber. Warum haben einzelne Personen das Gefühl, fünf bis zehn Jahre nachdem eine jüngere Held*in in die Fußstapfen ihrer Vorgänger*in getreten ist, sich darüber öffentlich ärgern zu müssen? 

Was die Zeitspanne angeht, lässt sich das recht schnell beantworten: Manche Menschen lesen ungern Comics, aber reden gerne darüber. 2021 spielte das Marvel Cinematic Universe das nach, was in den Heften schon länger fester Bestandteil des Universums ist. Sam Wilson wurde zu Captain America. Die Serie Falcon and the Wintersoldier ändert im Abspann ihren Titel zu Captain America and the Winter Soldier.

Seitdem sind plötzlich alle Expert*innen für die Comichandlung und beschweren sich über etwas, das eigentlich zehn Jahre her ist, als wäre es gerade erst passiert. Der User, der Marvel vorwarf, Wolverine zu einer Frau gemacht zu haben, gab zu, kurz vor seiner Äußerung ein fünf Jahre altes Comicpanel gesehen zu haben. Das erklärt auch den Tweet. Denn hätte er die Comics von 2015 gelesen, wüsste er, dass sowohl der ältere Wolverine als auch die neue Wolverine vor allem zu Beginn des Öfteren gleichzeitig auftreten.

Totem und Nostalgie

Aber was ist Treibstoff dieser aggressiven Reaktion? Was bringt Menschen dazu, wütend über Schwarze, Latinx und weibliche Figuren in einem fiktiven Universum zu sein? Die kurze Antwort: Rassismus und Sexismus. In den Kommentarspalten wird ein “Culture War” auf dem Boden der Popkultur geführt. Der so häufig geäußerte Wunsch mancher, Politik doch bitte aus Comics, Games und Unterhaltung allgemein herauszuhalten, wird dann besonders absurd, wenn man bedenkt, dass dieselben Personen sich oft im gleichen Atemzug über die Sichtbarkeit unterschiedlicher Hautfarben, Geschlechter und Sexualitäten in eben diesen Formaten beschweren; ein durch und durch politischer Akt. Was Comics, Bücher, Filme, Games und andere Medien gerade tun, ist eine Nachjustierung von fehlender Repräsentation. Die neue Herr der Ringe-Serie führt deshalb einige BiPOC-Figuren ein, weil diese in den Filmadaptionen deutlich gefehlt haben. Wer dagegen anschreit, beweist vor allem, wie bitter nötig der Schritt war.

Es gibt allerdings noch eine längere Antwort auf wütende Kommentare dieser Art. Und die hat mit Nostalgie zu tun. In einer Debattenanalyse zum 2016-Film Ghostbusters versucht Medienwissenschaftler William Proctor in Bitches Ain’t Gonna Hunt No Ghosts Formen aggressiver Resonanz auf den Grund zu gehen. Seine These: Fans haben, oft in ihrer Jugend, eine so enge Bindung zu einem popkulturellen Gegenstand aufgebaut, dass sie diesen als Teil ihrer eigenen Identität sehen.

Daraus resultiert ein Gefühl, das Proctor „totemic nostalgia“ nennt – das Bedürfnis den Gegenstand („totemic object“) vor äußeren Einflüssen zu schützen. Es bestehe eine echte Angst, dass dieser ausradiert werden könnte, behauptet er. Die Neuverfilmung des Ghostbusters-Original von 1984 mit vollständig weiblichem Cast, so die Annahme, ließ Fans für eine Weile glauben, diese neue Welt würde die alte ersetzen und ein wichtiger Teil von ihnen ginge dadurch verloren.

Proctor betont mehrfach, dass „totemic nostalgia“ an sich noch nicht toxisch sei, allerdings zu  toxischen Praktiken führe. Viele waren vermutlich schon einmal unzufrieden mit der Umsetzung von ihrem Lieblingsbuch oder einer Filmfortsetzung. Man hat sich ein bestimmtes Bild von einer Figur oder Umgebung gemacht und wenn die Adaption dies anders interpretiert, reagiert man enttäuscht. Die Wenigsten werden deswegen allerdings langatmige Social-Media-Posts darüber verfassen, dass ihre „Kindheit zerstört“ wurde oder den zuständigen Regisseur*innen Morddrohungen schicken.

Proctor gibt sich sehr viel Mühe, Nostalgie von Sexismus und Rassismus zu trennen. Ihm ist es wichtig, nostalgische Gefühle als etwas grundsätzlich Neutrales zu sehen, das uns dann zum rassistischen, sexistischen Handeln bringt oder oft auch nicht. Dadurch bleibt sein Erklärmodell aber lückenhaft. „Totemic nostalgia“ erklärt nicht, wieso jemand sich über Schwarze Comicfiguren ärgert, obwohl er ganz offensichtlich so wenig Bezug zu dem „totemic object“ hat, dass ihm das erst nach fünf bis zehn Jahren aufgefallen ist.

Schlechte alte Zeit

The End of an Idyllic World. Nostalgia Narratives, Race, and the Construction of White Powerlessness von Michael Maly, Heather Dalmage  und Nancy Michaels, hat gewisse Ähnlichkeiten mit Proctors Ansatz. Den Autor*innen geht es ebenfalls darum, Nostalgie als Ausgangspunkt für Rassismus zu sehen. Allerdings sind Nostalgie und Rassismus dabei deutlich enger verknüpft. Nostalgische Erzählungen, so die These, sind ein Instrument um das Gefühl einer „weißen“ Identität beizubehalten. Malys, Dalmages und Michaels setzen ihren Schwerpunkt zwar nicht auf Debatten innerhalb der Popkultur (sie schreiben über „white“ und „black neighbourhoods“ und „racially coded language of crime“), aber ihre Beobachtungen lassen sich sehr gut darauf anwenden.

Wenn Nostalgie nicht mehr Ausgangspunkt, sondern Rahmenbedingung von Rassismus ist, lässt sich damit auch erklären, warum sich Menschen im Netz ohne eine besondere Bindung oder Wissen zu etwas über die Einführung von BiPOC-Figuren ärgern. Es geht in diesem Fall nicht um nostalgische Gefühle gegenüber einem liebgewonnenen popkulturellen Gegenstand, sondern um Nostalgie im Sinne der Sehnsucht nach einer von außen unberührten „weißen“ Identität. 

Wenn sich Internetkommentator*innen im Namen von „Take politics out of my favourite thing“ rassistisch und sexistisch äußern, dann mag Nostalgie dabei eine größere Rolle spielen, als uns vielleicht lieb ist. Dieses eigentlich angenehme Gefühl sorgt für einen toxischen “Culture War” innerhalb der Popkultur. Nichts davon kann man als unpolitisch bezeichnen. Der Wunsch, zur „guten alten Zeit“ zurückzukehren, ist gleichzeitig der Wunsch, sich nicht mit der Tatsache auseinandersetzen zu müssen, dass ein Großteil unseres Mainstreams rassistisch und sexistisch ist und eine entsprechende Nachjustierung braucht.

Photo by ActionVance on Unsplash

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